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FU2006FC
Der Studentische Filmclub der Freien Universität Berlin (FUFC)
am Seminar für Filmwissenschaft präsentiert:

Neue Chinas, neue Kinos

Über Jia Zhang-Kes XIAO WU
Vortrag von Nikolaus Perneczky

Jia Zhang-Ke ist eine emblematische Figur der sogenannten „Sechsten Generation“ chinesischer Filmemacher; eine Bezeichnung, die sich für eine Anzahl junger AbsolventInnen des Pekinger Filminstituts eingebürgert hat, die im brodelnden politischen Klima nach den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens 1989 Schwierigkeiten hatten, in einem der staatlichen Studios unterzukommen. Manche machten sich trotzdem an die Arbeit und begaben sich damit in die Illegalität. Bis 1993 war es in der Volksrepublik verboten, Filme außerhalb der staatlichen Studios zu produzieren, auch hinterher nur nach Erwerb einer Lizenz. Diese Auflage dient der Absicherung einer gewissen Kontrollmacht von Seiten staatlicher Zensurgremien. Die Filme der Sechsten Generation, die der chinesischen Alltagswirklichkeit auf den Leib rücken wollten, konnten oft nur im Ausland gezeigt werden und hatten dementsprechend lange Zeit nur ein ausländisches Publikum.[1] Jia Zhang-Ke ist insofern eine emblematische Figur, als er sich mit seinem vorletzten Film THE WORLD vom underground gelöst und zum aboveground gemausert hat. Dieser Schritt regte in China wie im Westen heftige Diskussionen an. Wird er sich nun auf Filme verlegen, die dem Zensor genehm sind? Oder sind Etiketten wie „Underground“ und „Banned in the People‘s Republic of China“ ohnehin bloß Markenzeichen und als solche Köder für ein auf Sensationen versessenes und politisch selbstgerechtes Festivalpublikum in Europa und den USA?

XIAO WU ist Jia Zhang-Kes Erstling, zumindest sein erster Langspielfilm (Davor drehte er zwei Dokumentarfilme und einen Kurzspielfilm). Der treffliche französische Verleihtitel lautet ARTISAN PICKPOCKET. Die Hauptfigur des Films ist genau das: ein Taschendieb und, in einem gewissen Sinn, auch ein Handwerker. „Xiao Wu“, das ist sein Name. Er bedeutet soviel wie „kleiner Wu“ oder „Wu junior“. Ich möchte vom Plot nicht allzuviel vorwegnehmen. Nur soviel: Wenn es das Subgenre des drifter movie gibt - Filme, die von der unregelmäßigen, ziellosen Bewegung eines meist männlichen Antihelden ohne klaren Bewegungsvektor handeln -, dann gehört XIAO WU mit Sicherheit dazu. Sein gleichnamiger Protagonist lässt sich darin durch die kleine Stadt Fenyang in der chinesischen Provinz Shanxi treiben. Episodisch erzählt der Film von seinen Begegnungen. Mit Freunden, ehemaligen Weggefährten, einem leichten Mädchen und seinen Eltern in der Provinz. Jede Begegnung zeugt auf ihre Weise von der Zersetzung des kleinstädtischen Gemeinwesens durch die zunehmende Kapitalisierung, die auch vor dem chinesischen Hinterland nicht Halt macht. Abrisshalden und ruinöse Baumasse machen einen Umbruch sinnfällig, der nicht so sehr Umwälzung, sondern vor allem Zerstörung bestehender Strukturen ist. Einmal klagt ein Bewohner der Stadt: „Sie reißen alles ab, aber es kommt nichts nach“. Auch Xiao Wus kriminelles Handwerk hat in der dräuenden neuen Wirtschaftsordnung keinen Platz mehr.

Die Handhabung der Kamera in XIAO WU wird in der Regel von einem ökonomischen Formprinzip geleitet. Wenn Xiao Wu geht, geht auch sie, wenn er fährt - etwa auf dem Rad - fährt sie, wenn er rastet, rastet sie. Dabei wahrt sie stets eine gewisse Distanz zum Geschehen. Obwohl wir ständig bei ihm sind, erschließen Kamera und Mise-en-scène keine angebliches Innenleben der Figur. Manchmal nimmt sich die Kamera sehr zurück und überlässt in lange gehaltenen, reglosen Totalen alles dem Spiel der Darsteller, die sämtlich Laien sind. Wenn sich dann doch eine Nahaufnahme einschleicht, ist dies jeweils ein signifikantes Ereignis. Etwa, wenn der Taschendieb Xiao Wu am Beginn des Films über seine Hände eingeführt wird, wie sie eine Zigarette anzünden. Dieselben Hände, die kurz darauf einen Diebstahl begehen werden. Diese Darstellungskonventionen sind nicht ganz unbekannt. Sie sind, grob gesagt, an jene des italienischen neorealismo angelehnt.

Über weite Strecken fügt sich auch die Tonspur in diesen realistischen Rahmen. Der Dialog mischt sich mit Straßenlärm und droht mitunter, darin unterzugehen. Motoren, Lautsprecher, Fernsehapparate und HiFi-Anlagen türmen sich zu einer regelrechten Kakophonie, und es gibt kaum einen Ort, an dem man ihr entrinnen kann. Im Gegenteil stimmen die Bewohner Fenyangs in diesen Missklang auch noch ein. Hier kommt das allgegenwärtige Karaoke ins Spiel. In Bars und in Bordellen, zu Hause oder auf der Straße: überall wird gesungen. Und wenn der Lokalsender „Fenyang TV“ Musikvideos ausstrahlt, dann selbstverständlich mit Sing-along-Textzeile im Karaokeformat.

Einen Popsong selbst zu interpretieren heißt, ihn der eigenen Biografie, den eigenen Lebensumständen anverwandeln. Es heißt aber auch, diese Lebensumstände durch die performative Aneigung des Songs eventuell zu überschreiten. Karaoke, so könnte man diese Überlegung zuspitzen, ist die lokale Aufführung global wirksamer Texte der Massenkultur; mithin nicht nur ein Tor, sondern eine Brücke zur Welt. Der Canto-Pop in XIAO WU kommt aber aus Hongkong, nicht aus den USA. Die besagte Brücke führt hier also nicht in die große weite Welt der Globalisierung US-amerikanischen Zuschnitts, sondern von der isolierten Peripherie der Volksrepublik zur Idee eines transnationalen China, dem auch Hongkong und Taiwan angehören. Vielleicht als - illusorische oder echte? - Alternative zur US-Globalisierung. Vor diesem Hintergrund lassen sich die schummrigen Karaoke-Kabinen von Fenyang als ein Refugium lesen, in das der Protagonist sich flüchtet: vor den zersetzenden Auswirkungen der Marktliberalisierung, in den Ort einer identitätsstiftenden Praxis.[2]

XIAO WU entstand 1997, in dem Jahr, da Hongkong seine Sonderstellung als britische Kronkolonie verlor und als „special administrative region“ der Souveränität der Volksrepublik unterstellt wurde. Die Bedeutsamkeit dieses Ereignis spiegelt sich nicht nur im Canto-Pop. Sie findet auch auf anderem Weg Eingang in die kakophonische Geräuschkulisse des Films. An einer Stelle hören wir plötzlich, scheinbar unvermittelt ein Stück Tonspur aus dem im Westen wahrscheinlich bekanntesten und kultisch verehrten Hongkong-Actionreißer THE KILLER von John Woo. Erst ein Lied, dann den Beginn einer Schießerei, die das Lied unterbricht. Es hat den Anschein, als käme dieser fremde Tonschnippsel aus dem Nichts. Beim zweiten Ansehen von XIAO WU fiel mir auf, dass es doch eine Möglichkeit gibt, ihn in der Diegese des Films zu verankern. Im Hintergrund der Szene befindet sich nämlich ein Kino. Allerdings bleibt auch dann unklar, weshalb die Geräusche aus dem Inneren des Kinos beinah ungedämpft nach außen dringen.

Damit man mich nicht falsch versteht: Freilich ist es letztlich vollkommen belanglos, wie man den Status dieses Zitats bewertet. Das Entscheidende ist meines Erachtens die sonderbare Ambivalenz, die relative Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten. Für diese Schwierigkeit gibt es im Film noch weitere Belegstellen. Ich denke da vor allem an die schon erwähnte ganz normale Lärmverschmutzung aus Fernseh- und Radiogeräten, Lautsprechern und dergleichen mehr. Diese Geräusche kann man zwar meistens ohne Probleme im Erzähluniversum des Films verorten. Manchmal aber lösen sie sich davon und werden zu einem ortlosen, ungreifbaren Äther.

Noch ein Beispiel: Einer Folge von Einstellungen ist der äußerst populäre Song „Zhantai“ (Plattform) unterlegt. Das Lied leiert so, als wären die Batterien des Abspielgeräts gleich leer. Von der Geräuschquelle, defekt oder nicht, zunächst jedoch keine Spur. Es gibt innerhalb dieser Sequenz einige Ortswechsel, die der Lautstärke und tonalen Qualität der Musik aber nichts anhaben. Zuerst deutet also alles darauf hin, dass die Musik nicht in der dargestellten Welt situiert ist, sondern sozusagen aus einem imaginären Orchestergraben tönt[3] . Dann klingt der Song aus, und erst die nächste Szene gibt einen unverbindlichen Hinweis auf seine Herkunft. Xiao Wu beobachtet eine Straßenverkäuferin, wie sie zwei potenziellen Kunden eine HiFi-Anlage vorführt. Das Lied, das nun aus der Anlage klingt, leiert genauso wie „Zhantai“ in der vorangegangenen Sequenz[4]. Das Entscheidende ist - nochmals - eben die Un-entscheidbarkeit, das Oszillieren dieser Geräusche zwischen Handgreiflichkeit im einen und Ortlosigkeit im nächsten Moment, zwischen Verankerung in der Diegese und Loslösung von ihr.

Eine erste These zu dieser Beobachtung: Wie schon beim Karaoke schlägt die Tonspur von XIAO WU auch hier eine Brücke. Vielleicht ist die Überschreitung der Grenzen des Erzähluniversums eine formale Entsprechung für eine andere Grenzüberschreitung. So wie der Film die Grenzen seiner Erzählung sprengt, sprengt er auch die Grenzen der darin dargestellten, lokal (oder regional) definierten Lebenswelt. So macht XIAO WU das Verhältnis der kleinen Stadt Fenyang in der Provinz Shanxi zur großen Idee eines transnationalen China erfahrbar.

Fußnoten

[1] vgl. Bérénice Reynaud. Nouvelles Chines. Nouveaux cinémas. Paris 1999, 293-295.
Dies. „Chinese Cinema“, in: John Hill & Pamela Church Gibson (Hg.). World Cinema. Critical Approaches. Oxford 2000, 159-165.

[2] vgl. Elena Meilicke. „The Role and Representation of Pop Music in Jia Zhangke‘s Films“ (Unveröffentlichte Arbeit), 4-9.

[3] vgl. Michel Chion. Audiovision. Sound on Screen. New York, Chichester/West Sussex 1994, 68.

[4] Womöglich ist es dasselbe Lied?





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