Buch: Alan Dundes, Carl R. Pagter: "Work hard and you shall be rewarded. Urban folklore from the paperwork empire" / 1975/1992.
Lektüre-Notizen:
- Vorwort:
- Komplizierte Akzeptanz-Geschichte: Offenbar hatte der Text zu Anfang Probleme und fing sich Distanzierungen relevanter Stellen ein, weil einige Inhalte obszön sind und weil Folkloristen über das Medium des kopierbaren Buchstaben-Textes die Nase rümpfen. Sie fühlen sich eher in der Mündlichkeit zu hause.
- Autoren sehen Fax und E-Mail, also die Neuen Medien, als weiteren Raum für die präsentierte "xerographic folklore" – das dürfte eine verwandte Etymologie zu "xerox" (kopieren, nach dem MarkenNamen) haben.
- Einführung:
- Eine folkloristische und anthropologische Frage. Anthropologisch, weil es um die conditio humana unter den Bedingungen urbanen Alltags, BüroArbeits- und Bürokratie-Stresses geht. Die Paperwork-Folklore stellt demnach eine Coping-Strategie dar, eignet die Mittel des Paperwork-Empire an, um Entfremdung zu mitigieren.
- Passt als Anthropologie in den Trend, dass Anthropologen, früher Spezialisten im Analysieren fremder und exotischer Kulturen, nun mehr und mehr Forschung im eigenen Hinterhof betreiben – auch well sie bei den bisher analysierten fremden Kulturen mit Niedergang des Kolonialismus zu personae non gratae erklärt worden sind.
- Amerikanische Folklore-Academia folgt vorrangig einer sehr engen Folklore-Definition: Das folk ist der nicht-schriftbegabte Teil einer bereits ins Schriftliche vorgestoßenen Kultur; Bauernschaft und Bodensatz; studiert man Nicht-Schriftkulturen, studiert man nicht "folk", sondern Primitive. Und gezählt werden nur mündlich getragene Texte.
- Plädoyer für eine offenere Definition. Öffnung der Gruppen-Definition: "folk" sind alle, die durch ein bestimmtes kulturelles Kriterium geeinigt sind; demnach kann es ebenso ein urbanes "folk" geben. Und als untersuchte Textformen taugt nicht nur, was mündlich, sondern auch, was per NachZeichnerei, MaschinenKopie o.ä. verbreitet wird.
- Die im Buch präsentierten Texte erfüllen jedenfalls folkloristische Kriterien der "multiple existence", also des über Raum und Zeit verteilten mehrfachen Auftauchens als wieder-erkennbarer, aber auch fortwährend variierter Form. Memetisches Vokabular vorwegnehmend, behaupten die Autoren sogar Sichtbarkeit von "genetic relationships" von Texten.
- Material-Bericht: eine Auswahl aus zehn Jahren Sammlung physisch belegter Texte (d.h. nicht nur nach HörenSagen, sondern z.B. in den echten Kopie-Zetteln vorhanden).
- "Traditional Letters":
- Das Format des Briefs, der Brief-Parodie. Leider kaum Worte zur VerbreitungsKultur; bei den KettenBriefen ist sie halbwegs einformuliert, ansonsten nur spärliche Andeutungen: dieser Text etwa sei oft (wohl im BüroArbeitsKontext) fotokopiert worden. Sehr viel mehr Worte zur folkloristischen Deutung: was sagt der Text über die Kultur aus usw.
- Bei einigen Briefen wird die Wichtigkeit ihrer Handschriftlichkeit betont, weil die SchreibWeise selbst zum Witz dazu gehört. Das FotoKopieren ist legitimiert, nicht aber die SchreibMaschinenAbschrift.
- Viele Texte sind SnowClones / variable CopyPasta; oder es gibt wiederkehrende Phrasen/Pointen durch verschiedene Formate hindurch; Beispiele aus mehreren Jahrzehnten mit veränderten Kontexten. Erzählung derselben Geschichte mit variablen Details. Erzählung einer Geschichte auf Grundlage eines anderen populären Textes aus neuer Perspektive.
- Häufig: Spiel mit in einer bestimmten Gruppe verbreiteten Ängsten (Eltern von Kindern die aufs College gehen; Soldaten an der Front mit spärlicher Verbindung nach hause). Spiel auf der psychologischen Klaviatur, RausSuchen von Triggern. Pointen sind häufig obszön, blutrünstig. Der memetische UnterBauch der Kultur kehrt in den Texten hervor.
- "Definitions and Principles":
- Hier wird's schon etwas konkreter mit der VerbreitungsBeschreibung: Die Texte, um die es geht (Listen von Definitionen, technische Instruktionen, "Laws" usw.), werden an Büro-Wände gepinnt, sind diesem oder jenem Universitäts-Campus entnommen, werden in Zeitschriften von Lesern eingereicht reproduziert.
- Freude an scherzhaften Begriffs-Erklärungen, "wahren" Bedeutungen verbreiteter Sätze, Typologien (männlicher und weiblicher Toiletten-Pinkler unterschiedichen Charakters), pseudo-wissenschaftlichen Gesetzen ("Murphy's Law" u.a.). Überschuss oder Aneignung des systematisierenden Geistes.
- Der Amerikaner hat Freude an Pseudo-Gesetzen, sie entsprechen der progressiv-kalkulierbaren-wissenschaftlichen Moderne, in die er hinein lebt, die ihn drangsaliert, die ihm aber auch Hoffnung gibt. Hat man mit Murphy/Finagle das allgemeine Scheitern als Prinzip formuliert, wirkt es plötzlich vorhersagbar und damit für die Psyche handhabbar.
- Der technische Charakter der abgehandelten Texte reicht bis zu algorithmisch kombinierbaren Texten: Füge beliebige Satzteile aus den Repertoirs A, B, C, D in dieser oder jener ReihenFolge zusammen, erhalte Themengebiets-plausible Bullshit-Phrase.
- Gebiets-spezifische Insider-Witze und Jargon-Kultur gehen Hand in Hand. Man kennt Phrasen und Schablonen der üblichen Texte, wenn man dazu gehört.
- "Novel Notices and Memorable Memos":
- Autoren korrigieren meine Ratlosigkeit: Nahezu alle bisherigen Texte entstammten fotokopiererischer Büro-Arbeiter-Zirkulation. Und ein steigender Anteil Büro-kultureller Themen lässt sich nicht leugnen.
- Die Texte nehmen moralischeren Charakter an – gegen faule MitArbeiter oder ArschlochBosse, zur Bestrafung außer-ehelicher Affären, usw.
- Formulare und amtliche Dokumente / Verlautbarungen werden rege parodiert.
- "Applications and Tests":
- FrageBögen, Formulare; Reinheits-Tests; Trick-Tests, wo am Anfang steht "befolge Anweisungen erst wenn alles gelesen" und am Ende "führe nur die soundsovielte Anweisung aus". Listen vermeintlich echter Antworten auf diese oder jene Formular-Frage.
- Zuweilen apologetischer Tonfall der Kommentare – diverse Beispiele spiegeln reaktionäre WeltSichten wieder; vor allem Rassismus / ethnische Diskriminierung und Vorbehalte gegenüber ProtestKulturen, JugendKulturen, CampusLeben.
- Betonung, dass dieses und jenes im Mündlichen nicht funktionieren würde – die fehlerhafte Schreibweise ist Teil des Witzes.
- "Folk Cartoons and Drawings":
- Diverse humoristische Cartoons/Zeichnungen, deren Folkloristik (im Gegensatz zur Verfassung für kommerzielle Publikationen, durch singuläre Autoren) durch einerseits ihre Obszönität (in ihrem historischen Kontext kommerziell noch nicht verwertbar), andererseits durch ihre fortwährende Variation in vielen Inkarnationen durchscheint.
- Unter den Beispielen einige noch heute populäre Motive: was der Kunde verlangt vs. was das Management verlangt vs. was am Ende rauskommt usw.; Regel-34-Cartoons. Außerdem interessant: Rorschach-Tests als obszöne FaltKunst.
- "The Extended Double Entendre":
- Diverse obszöne DoppelDeutigkeits-Texte; Anmerkung, dass vieles davon auch mündlichen Ursprungs sein könnte, in der vorliegenden Form, Länge/Komplexität und Stabilität, aber notwendigerweise schriftlichen Kopier-Mechanismen unterliegt.
- Vieles besteht aus pseudo-pornografischen Episoden, die sich eines bestimmten FachVokabulars bedienen – gelegentlich Berufs-spezifisch, aber auch z.B. einfach Listen von ZigarettenMarken, FirmenNamen o.ä. – memetischen Namen aus der Mainstream-Kultur.
- "Conclusion":
- Der hochnäsige Blick auf "folklore" als BauernLiteratur verwehrt sich gegen die Vorstellung, auch gebildete, intellektuelle Zirkel könnten solche Stoffe besitzen – das Buch habe hoffentlich das GegenTeil bewiesen; dass sich Folklore auch auf dem Uni-Campus, in den ExpertenBerufen usw. breit mache.
- Es besteht auch kein Widerspruch zur Technisierung der TextKultur: neue "folklore" nutzt halt die KopierMaschine, nutzt die neuen technisierten TextFormen usw., und handelt auch von ihnen. So lange es soziale Interaktion über diese Geräte gibt, wird es auch Folklore geben.
- Frage der Autorenschaft: Viele Texte haben sicherlich individuelle Initial-Autoren; auffälligerweise ist aber bei keinen dieser Texte der Autor benannt; sie verbreiten und variieren sich unter der Hand der vielen Anonymen. Das jeweilige "folk" hat sie sich angeeignet, sie sind nun GruppenWerk.