Buch, David Brin, 1998: "The Transparent Society. Will Technology Force Us to Choose Between Privacy and Freedom?". Schonmal 2008 gelesen. Jetzt (2011-03) Re-Lektüre.
Lektüre-Notizen:
- Vorwort:
- Ende der Neunziger scheint das Zeitalter der Transparenz genauso unmittelbar bevorzustehen wie Anfang der ZweitausendZehner.
- Biometrie: dein Körper ist dein Passwort. Kommt meiner Idee nahe: Wenn wir Passwörter nicht mehr geheimhalten können, müssen die Authentifizierungs-Mechanismen einfach über vollständige (hinreichende) Muster-Gleichheit zu unserer "Identität" authentifizieren. (Was zur Folge hätte dass, wenn wir uns ändern, wir keinen Zugang mehr hätten ... Jaja, an Post-Identität kommen wir letztendlich wohl auch nicht vorbei. Aber ich schweife ab.)
- Teil I: "A New World":
- Kapitel 1: "The Challenge of an Open Society / The End of Photography as Proof of Anything at All":
- Die Welt der tausend Kameras kommt so oder so. Robert A. Heinlein sagt: Privacy-Gesetze werden die Spionage nicht aufhalten, sondern sie nur ins Besser-Versteckte drängen. Die gesellschaftliche Frage lautet: Wer ist Teil des allwissenden Auges -- eine Elite der verantwortungsvollen Beschützer / Tyrannen, oder jedermann? Sicherlich sei eine Welt voller Überwachungs-Kameras, auf deren Informations-Macht jeder Zugriff hat, einer vorzuziehen, in der diese Kameras nur einer Oligarchie dienen.
- Brin liebäugelt durchaus mit dem Wert der Privatsphäre. In seiner Utopie bestehen Reste davon noch eine ganze Weile fort, namentlich in den eigenen vier Wänden. Irgendwann könnten die Mikro-Kamera-Drohnen aber auch dort eindringen. Dass sie Gutes mit sich bringe, rettet die Privacy nicht notwendigerweise vorm Druck der Geschichte. Vielleicht lässt sich ein bisschen Privacy retten, wenn wir durch allwissenden Blick unsere Beobachter beim Beobachten erwischen und so in die Scham drängen können.
- Hymne auf den gesellschaftlichen Wert von Kritik und Accountability in der "neo-westlichen Zivilisation". Von der Wissenschaft (Falsifizierbarkeit) bis zum Kapitalismus (MarktDruck) hier Systeme zur ständigen Infragestellung der Zustände/Thesen. Autorität fürchtet hier Kritik, weil sie sie entmachten könnte. Viel Bezug auf Karl Popper. Kurze Blüte der Demokratie in Athen; ihr Erfolg auch im modernen Westen lange Zeit verunsichert durch den Erfolg von Stalin-Hitler, also Hegel-Platon.
- Die Konflikt-Linie zwischen Verteidigern des Geheimnisses und Verteidigern der Transparenz, die politische Besetzung ihrer Fronten wechselt gerne. Stets fordert eine Seite Informations-Fluss, die andere dessen Hemmung; mal für, mal gegen den Staat; mal für, mal gegen das Individuum. Protagonisten gerne blind für die Ironie, in der einen Frage das Gegenteil dessen zu fordern, was sie in einer anderen Frage verlangen. Am Besten immer: Privatsphäre für uns/die Guten, Transparenz für die Anderen/Bösen.
- Einige Protagonisten beider Seiten. Pro Privacy: Staats-Gläubige, die Daten-Fluss gesetzlich regulieren wollen (das "Europäische Modell"), und Techno-Libertäre, die an die Potenz von Krypto und Anonymität jenseits staatlicher Kontrolle glauben. Pro Transparenz: NGOs wie "Transparency International" und Denker wie Scott Adams ("The Dilbert Future"), Robin Hanson (mehr Wissen -> intelligentere Märkte/Entscheidungen -> gut für alle) und Kevin Kelly (mehr Wissen, was Andere über mich wissen!).
- John Perry Barlow: "I have no secrets myself, and I think that everybody would be a lot happier and safer if they just let everything be known. Then, nobody could use anything against them. But this is not the social norm at the moment." (p.23) Und deshalb kämpft er trotzdem für Privacy. Brin pflichtet bei: Menschen können sich nunmal nicht durch schiere WillensKraft von heute auf morgen in ihrem ganzen Wesen transformieren. Das ist ein langer Prozess des Stolperns und Lernens und Anpassens.
- Das Problem des allfälschbaren Digitalen: Was nützt uns die Information, wenn wir uns ihrer Wahrheits-Treue nie sicher sein können? Brins Antwort: Schon vorm Zeitalter des Natur-Abpausens hatten wir Regeln der Vertrauens-Würdigkeit von Information: unsere Erfahrung mit der Ehrlichkeit der Zeugen, ihre Anzahl, die Kohärenz verschiedener Perspektiven. Besserer Richt-Stab als blindes Vertrauen in irgendein Medium. Vielzahl der Augen gekreuzt mit Vertrauens-Heuristik erzeugt Wahrheit.
- Kapitel 2: "The Age of Knowledge / Citizen Truth Squads":
- Worin Brin von dieser kühlen neuen Sache "Internet" erzählt. Diverse Beispiele für seine Möglichkeiten wirken putzig / müssen auf heute erheblich hochpotenziert werden. Allgemein liegt er aber korrekt im Trend. Er betont die anti-autoritäre dezentrale Natur, die hippiesken Entwicklungs-Pfade. Er wägt Propheten (Singularität!) und ihre Kritiker (Clifford Stoll) ab. Am Ende erkennt er ihm eine gewaltig verstärkende Wirkung für den Trend zu Transparenz, InformationsFluss, Accountability zu.
- Wo Leben hart, Ressourcen knapp sind, da sind Gesellschaften notgedrungen gegenüber Andersartigen intolerant. Es hat lange gebraucht, bis wir uns den Luxus, ja inzwischen sogar den hohen gesellschaftlichen Wert von Toleranz, Verschiedenheit, Besonderheit leisten konnten. Bei uns heute sind die Unangepassten die Gewinner. Wer das bezweifelt, der ist blind gegenüber den desaströsen Vergleichs-Werten der Vergangenheit. Dasselbe gilt übrigens auch für Ernährung usw. It's getting better all the time!
- Historisch fortwährende Ausweitung der Gruppe, der wir z.B. Bürger- oder Personen-Rechte zuerkennen, von der Herrenklasse über die besitzenden männlichen Bürger bis zu allen Erwachsenen oder gar allen Menschen. In Brins Uplift-Universum Erweiterung auf Tiere. (Der Humanismus ist ein historischer Augenblick, warum sollte der Trend gerade hier zur Ruhe kommen?)
- In Offenen Gesellschaften im Allgemeinen und im Netz im Besonderen blühen die flexiblen Neigungs-Familien statt der Schicksals-Gemeinschaften. Denn hier ist der Verkehr untereinander frei, man kann sich seine Partner immer wieder neu aussuchen. Diverse Beispiele für Ugol's Law, und zwar nicht nur im Kostüme-Tragen, sondern durchaus produktiver Natur. Man kann die Meinung der Mehrheit ignorieren, wenn 0,1% Kompatible immer noch eine Million sind, die einem sozialen Rückhalt geben.
- Kapitel 3: "Privacy Under Siege / The Accountability Matrix":
- Beispiele für zeitgenössische DatenKraken, ihre Korrelations-Kompetenzen und öffentliche Rage dagegen. Aus wievielen dieser Beispiele kannst Du, Leser, eine direkte Bedrohung für dich ableiten, und wieviele siehst du nur "aus Prinzip" als Gefahr? Identitäts-Diebstahl und wie die Obskurität der Pfade dem Opfer einen GegenBeweis schwierig macht. Scoring kann idealerweise (am Besten transparent) mit intelligenteren Algorithmen und Daten fragwürdige menschliche Maßstäbe wie Rassismus umgehen.
- Klärungs-Kämpfe über Art/Wert der Privacy. Die verworrene RechtsGeschichte allein der USA (Begriff als Recht auf Abtreibung vs. Info-Hoheit). Selbst die EU schwankt zwischen DatenschutzGesetzerei und ÖffentlichkeitsPrinzip der Schweden. Vgl. den hohen-klaren Stand der Freien Rede in den USA: Sie ist notwendige Bedingung ihres Systems von Freiheit; Privacy dagegen nur Luxus, erwachsend aus dieser Freiheit. Brin anerkennt diverse Privacy-Werte, nicht aber ein logisches System dahinter.
- Anzweifeln der Korrelation zwischen Wissen des Staates über die Bürger und dessen Repressivität. Moderne westliche Staaten besitzen so viele Daten über ihre Bevölkerung wie nie zuvor in der Geschichte, trotzdem sind ihre Bürger so frei wie noch nie. Ein Faktor vielleicht, dass der Informations-Fluss beidseitig ist. Noch nie gab es eine so ausgiebige und tiefe öffentliche Analyse der Mächtigen. Einschränkung und Einseitigkeit der Informations-Flüsse, das ist es, was Tyrannen wollen.
- Kontroll-Struktur für InformationsFlüsse spielt der Repression in die Hände, also lieber reziproke Daten-Offenheit durchsetzen, statt Daten-Hemmung. Skeptisch, inwieweit Gesetze helfen können, setzt Brin stattdessen auf Schnüffel- und DataMining-Technologie in den Händen der Bürger, des Netzes. Er anerkennt, bloße Reziprozität von Wissen löst nicht alle Macht-Ungleichgewichte. Aber das unterscheidet halt die notwendige Bedingung von der hinreichenden. Besser als der Ist-Zustand sei es allemal.
- Kapitel 4: "Can We Own Information? / An Open Society's Enemies":
- Parallelität der Kämpfe um die Durchsetzung von Copyright-Ansprüchen und der Kämpfe um die Kontrolle über persönliche Informationen. Beide arbeiten sich an den selben Problemen und Mitteln ab.
- Kleine Geschichte des Geistigen Eigentums. Die Idee hinter Patenten und Copyright war eigentlich, durch Vergütungs-Garantien den freien Fluss der Ideen zu befördern, das intellektuelle Gemeingut zu stärken, das Teilen. Die Durchsetzung von Eigentum stand ursprünglich erst an zweiter Stelle. Benjamin Franklin schrieb Thomas Jeffersons "life, liberty and property" um in "life, liberty and pursuit of happiness": Eigentum ist kein fundamentaler Kernwert der amerikanischen Freiheit.
- In der Moderne Norm-Umkehrung durch Druck der Rechteverwertungs- und Ideen-Industrie: Eigentum wird wichtiger als Sharing und Gemeingut, sodass das Recht im Zweifel Verwendungs-, Verbreitungs-Verbote und Geheimhaltung votiert. Dem steht die Informations-Biologie des Netzes entgegen, wo sich Kontroll- und Unterbindungs-Ansprüche gegen Info-Flüsse kaum durchsetzen lassen. Brin listet einige Propheten dieser Gegen-Dynamik auf, bis hin zur Abschaffung der Integrität des Werks und des Copyrights.
- Brin kompromisslerisch: Vielleicht müssen wir das Urheberrecht nicht gleich abschaffen, denn irgendwie wäre es ja schon nett, wenn mein Werk mir ein Einkommen beschert. Aber er setzt auf das, was wir, nunja, heutzutage "innovative Geschäftsmodelle" nennen würden, auf Köder statt Peitsche, nutzerfreundliche MicroPayment-Lösungen und den guten Willen des Volkes, das seine Helden belohnen möchte. Im Notfall würde er aber eher aufs Copyright verzichten statt auf auf die Freiheit der Informationen.
- Staat ist nicht gleich Staat. Totalitär-oligarchische Diktaturen sind für uns gefährlicher als liberale Demokratien. Der Staat als einzige relevante Gefahr für unsere Freiheit, ist ebenso blauäugig wie Fokussierung auf Big Corporations als das Böse; der Kontext macht's. Einen Staat verkrüppeln, kann einer Demokratie Mittel gegen oligarchische Akkumulationen anderswo nehmen. Besser sorgt Misstrauen gegen alle Seiten vor. Darum verweigert Brin das Spiel "Privacy-für-diese, Transparenz-für-jene".
- Teil II: "Minefields":
- Kapitel 5: "Human Nature and the Dilemma of Openness / Essences and Experiments":
- Mehr zum gesellschaftlichen Wert der Kritik. Kein Platon und kein Hegel kann sich das perfekte System für alle ausdenken; Wirklichkeits-gerechte Lösungen brauchen die fortwährende Prüfung durch Reibung mit Widersprüchen, AndersDenkenden, Empirie. Totalitäre, zentralistische, großplanerische Top-Down-Systeme navigieren sich stets in den Abgrund, weil sie Kritik als zersetzende Kraft fürchten. Demokratien / offene Gesellschaften sind langfristig agiler, lern- und reaktionsfähiger, intelligenter.
- Der "Neo-Westen" als Kritik-Kultur. Irgendwas (Brin ist ratlos, was; sicher nicht eine Elite bedacht auf ihren eigenen MachtErhalt) erzieht, indoktriniert (Brin sieht die Ironie) uns hier zu individueller SelbstBestimmtheit, ObrigkeitsMisstrauen, RevolutionsGeneigtheit, jedenfalls verglichen zu anderen / früheren Kulturen, die den Einzelnen schwach und zur SelbstLeitung unfähig glauben. Bei uns Ideologie des Freien Einzelnen, der selbst am Besten weiß, was gut für ihn ist, egal wie fremd der Norm.
- Brin benennt als treibende Agenten der Kritik gerade auch hierdurch erzeugte NervKöppe, Trolle, Paranoiker, Dogmatiker. Nicht deren individuelle Vernunft macht's, sondern der Dampf ihrer Schlachten im öffentlichen Diskurs. Er analogisiert sie T-Zellen (und macht noch viele weitere fröhliche Biologie-Gesellschafts-Metaphern auf, vor allem memologisch) im ImmunSystem. Am Ende gewinnt die Gesellschaft mehr aus der Duldung von Irren, Schlammschlachten, Diskurs-Aggro als aus deren Unterdrückung.
- Gut, es gibt problematische Ausreißer, so wie aus den netten T-Zellen in manchem Körper Leukämie werden kann. Manche T-Zellen nehmen sich zu wichtig, steigern sich in terroristische Wut und SelbstGerechtigkeit, überschreiten die Grenze zwischen der Sprache der Kritik zur Körperlichkeit der Gewalt. Brin setzt auf GegenArbeit durch andere T-Zellen und hofft darauf, dass Werte wie Humor und Brüderlichkeit hier manches tempern helfen, bevor es dem GemeinWohl bedrohlich wird.
- Kapitel 6: "Lessons in Accountability / All the World Is a (Digital) Marketplace":
- Mythos vom inneren ZusammenSchrumpfen durch Überwachung. Sicher können wir durch Überwachung eingeschüchtert werden, aber es hängt vom Kontext ab. Einschüchterung von Menschen psycho-bemisst sich an deren Kontroll-Gefühl; dieses leitet sich ab aus dem Produkt der Gefühle von Informiertheit und Einflussnahme-Fähigkeit. Je mehr ich weiß über meine Umstände & desto mehr ich mich fähig fühle, sie zu beeinflussen, desto selbstsicherer bin ich. Transparenz und neue HandlungsRäume durchs Netz helfen hier.
- Rechenschaft der Anderen, ihre Nachvollziehbarkeit, macht sie mir berechenbarer und stärkt also mein KontrollGefühl gegenüber meiner Situation. Transparenz als GesellschaftsVertrag bedeutet, dass wir alle uns gegenseitig diese Offenheit schenken; ein gerechter Preis für die Fähigkeit, selbst schneller die Entstehung von MachtKonfigurationen detektieren zu können, die uns bedrohlich werden könnten. Brin listet viele Akte der Gewalt und Kriminalität auf, die so unwahrscheinlicher würden.
- Es braucht keinen Faschismus für PolizeiGewalt; es reicht in Demokratien mangelnde Accountability, das Fehlen einer Kontroll-Instanz gegenüber einem Polizisten-Verhalten, das in Anbetracht der Situationen, mit denen sie berufs-mäßig konfrontiert sind natürlich oft durch besondere psychologische Umstände (Stress, Hormon-Rausch) geformt ist. (Man kann daraus eine BürgerPflicht ableiten zur UnterStützung der Polizei im Einhalten ihrer RollenPflichten durch SousVeillance-Druck.)
- Strategien gegen gefährliches Hacken/Cracken/Manipulieren von InformationsSystemen? Security by obscurity versus, nein nichtmal nur OpenSource zur Verbesserung der Krypto, sondern vor allem: Transparenz der Systeme und ihrer Vorgänge, damit übles Treiben sofort von jedermann erkannt, alarmiert werden kann. Guten Hackern macht die Herausforderung, böse Hacker zu jagen, sicher Spaß! (Insgesamt äußert sich Brin über die Hacker-Kultur ziemlich skeptisch: Bbildet sich da eine neue selbstgerechte Elite?)
- Eine NetzKultur der Trolle und FlameWars, wie schützen wir die Qualität unseres Diskurses und unsere geistige Gesundheit in ihr? Eben nicht durch Hemmung des DatenFlusses (vulgo: Zensur), sondern durch eine FilterSouveränität, deren Bewertungs- und Ausblende-Algorithmen durch ein Mehr an Daten informiert wird, deren Intelligenz Reputations-Historien und Autoren-Kontexte auswertet. (Trainiere mal deinen Anti-Spam-Filter ohne Tonnen von Spam!) Das Ende der Anonymität ist der verzeihliche Preis.
- Wie verhindern wir, im Netz in diskursive Tribes zu zersplittern, die alle in der eigenen Welt leben und so nie mit Widersprüchen, fremden Empirien usw. zusammen stoßen? Macht FilterSouveränität uns nicht alle isoliert, dumm? Brin sieht noch keine rechte Lösung, imaginiert sich künftige netzkulturelle Institutionen für gemeinsamen Diskurs und Argumente-Austauschs über Tribes hinweg (damals gab es noch keine Blogosphäre). Und sucht der Mensch nicht natürlicherweise auch Interessanz, also Irritation?
- Brin beschreibt Ansätze für digitale Währungen mit allerlei Krypto- und Authentifizierungs- und Anonymisierungs-Ballast und findet: Warum nicht ohne? Wenn wir digitale Transfers öffentlich machen, sie per default an viele Zeugen broadcasten und sie erst gültig werden, soweit sie von den öffentlich ablesbaren digitalen Repräsentanzen beider Seiten öffentlich abgesegnet werden, löst das tausend Probleme der Absicherung und Glaubwürdigkeit und entzieht diversen Betrügereien den Boden.
- Kapitel 7: "The War Over Secrecy / The Problem of Extortion":
- Worin Brin mit den CypherPunks ideologisch abrechnet. In ihrem ultra-libertären WeltBild ist das Böse per definitionem der Staat, immer kurz vor oder bereits mitten im Faschismus, und gegen ihn stellen sie sich willig auf eine Seite mit Big Business, Steuer-Oasen und organisiertem Verbrechen. Krypto und Anonymität sollen gegen ihn super-autonome Individuen schaffen, deren Geld niemand antastet und die niemandem verantwortlich oder solidarisch sind außer sich selbst.
- Keine Kultur der Geheimhaltung hat je die Offenheit einer Gesellschaft gerettet oder vorangebracht. Umgekehrt war es gerade die Blindheit und Ohnmacht prä-totalitärer Staaten wie der Weimarer Republik oder Prä-Mussolini-Italiens, die in ihnen einen Pfad für Diktaturen öffnete. Die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft wird üblicherweise auf anderen Pfaden erkämpft oder verteidigt als durch Verschwörungen. (GegenThese: Freimaurer?)
- Allgegenwärtige Transparenz ermächtigt gerade auch uns alle zum Detektieren und Begegnen von Gefahren, statt Macht auf eine einzelne Autorität zu monopolisieren. Die übelsten Untaten amerikanischer Bürokratie (z.B. medizinische Experimente an der Bevölkerung wie die Tuskegee-Syphilis-Studie) geschahen stets unterm Schutz von Intransparenz.
- Falke Edward Teller als unerwarteter Kämpfer für Transparenz und Offenheit im frühen Kalten Krieg -- und zwar nicht aus Zivil-Idealismus, sondern hartem Pragmatismus: Klar können uns die Sowjets leicht ausspionieren und unsere Waffen-Designs in unserer freien Presse studieren -- was uns im Gegenzug bei ihren strengen Mauern mehr Aufwand kostet. Aber der Intelligenz-Zugewinn durch freien Austausch von Ideen und Kritik gleicht diesen Nachteil bei Weitem mit gesellschaftlicher Stärke aus.
- Skepsis gegen sauber-platonische Formeln wie "Anonymität ~ Privatsphäre ~ Freiheit", wie sie bei den CypherPunks so populär seien. Da würden in einem abstrakten Purismus viele ideologische und soziale Begriffe so verknotet, als seien ihre Identitäten und Verhältnisse klar und stabil. Brin warnt vor falschen Dichotomien wie "Individuum vs. Staat" oder "Freiheit vs. Sicherheit", werden gerne als Verkaufs-Argument für Macht-Ungleichgewichte angebracht.
- Dass ein Recht auf Privatsphäre nicht gleich Freiheit und SchutzMacht des Kleinen Mannes gegen die Macht sei, das lasse sich schon dadurch beweisen, dass die Macht stets mehr Mittel haben wird, ihre Privatsphäre und Geheimhaltung durchzusetzen, als der Kleine Mann, und ebenso mehr Mittel, dessen Privatsphäre und Geheimhaltung zu durchbrechen.
- CypherPunks trauen ihrer Technologie etwas zuviel zu. Die meisten Werkzeuge totalitärer / faschistoider Macht und Unterdrückung arbeiten sich an ganz anderen Stellen ab, und auch prä-digitale Methoden von roher Gewalt bis zu social engineering sind oft sehr wirksam. Scrambling, das der liberale Staat heute nicht verbietet, kann die Diktatur von Morgen immer noch mit einem Handstreich bestrafen.
- Auch im Dorf, wo jeder jeden kennt und "überwacht", gibt es Duldung für Nonkonformismus. Man kennt die Dorf-Verrückten gut und weiß sie deshalb als harmlos. Bekanntheit und Abschätzbarkeit verringert die Bedrohlichkeit und dadurch auch den Drang zur Unterbindung. Wenn wir mehr übereinander wissen, fürchten wir uns weniger, vertrauen einander mehr und stehen deshalb unter sehr viel weniger Druck, einander Verbote auszusprechen und durchzusetzen.
- In einer Transparenten Gesellschaft wird Kriminalität nicht durch höhere Strafen oder ausführlichere Gesetze bekämpft, sondern durch die erhöhte Chance / absolute Sicherheit, ertappt zu werden. Die anderen Faktoren können und werden im Gegenzug lockern: Strafen mildern sich unter Aufgabe der Mission, durch überproportionale Härte einige Sündenböcke abschreckend für alle zu treffen, und Gesetze können sich präziser aufs eigentliches Übel beschränken, statt broken window theories abzuarbeiten.
- Brin hadert mit Anonymität. Ihm schaudert vorm Utopia der CypherPunks, in der sie quasi Default- und Normal-Zustand aller gesellschaftlichen Vorgänge ist (und er unterstellt CypherPunks, damit etwas zur Norm menschlicher Sozialität zu erheben, was nie ihre Norm war). Wie Privacy sieht er in ihr Vorteile und wünscht sich einige Rest-Ecken für sie; zugleich sieht er in ihrer Durchsetzung und Norm aber zu viele Gefahren und in ihr bei Weitem nicht den FreiheitsSystemWert z.B. freier Rede.
- Überwachung als Bekämpfung von Terrorismus ist das nächste große Mem. Stellt euch nur mal vor (1998), ein weiterer Anschlag auf das World Trade Center fände statt, und würde gelingen! Die Bevölkerung würde jede Erweiterung der Abhör-Kompetenzen durchgehen lassen, trotz aller platonischen Privacy-Predigten. Wenn sowas schon unvermeidbar ist, sollten wir besser reziproke Transparenz schon jetzt einfordern, statt in einem solchen Moment den Freifahrtschein für einseitige auszustellen.
- Teil III: "Road Maps":
- Kapitel 8: "Pragmatism In An Uncertain World / The Plausibility Matrix":
- Wer stiehlt schon Geld, wenn die Zirkulation und Nutzung jeden Scheines für jedermann, insbesondre seine früheren Eigentümer, mitverfolgt werden kann?
- Tragische Verwechslung von Namen mit Passwörtern. Namen als Passwörter gab es nur in alten mystischen Kulturen. Sozialversicherungs- und Telefon-Nummern dienen als unique Identifikatoren, gerade deshalb zirkulieren sie wie wild durch fremde Hände und taugen nicht als Passwort. Hoffnungslos, sie geheimzuhalten, und deshalb sollte man ihnen keine Authentifikations-Verantwortung aufhalsen. Panik um ihre Verbreitung entspringt einer Kategorien-Verwechslung und einer Kultur, die sie falsch verwendet.
- Wir und die Gesellschaft wollen aber Möglichkeiten wahrhafter persönlicher Identifikation. Eine Lösung, die auf Geheimhaltung setzt: Passwörter. Vorteil gegenüber Namen: Wir können sie immer wieder ändern, vielleicht sogar für jede Transaktion. Weitere Möglichkeiten: Biometrie (aber auch da gibt es Austricks-Wege), qua Geburt eingeimpfte ID-Chips (ewww). (Ein Weg vom Passwort, das dem Identifizierenden äußerlich ist, hin zur Identifikation durch MusterGleichheit mit dem Identifizierenden?)
- Es liegt durchaus auch in unserem eigenen Interesse, dass die Companies korrekte und viele Daten über uns sammeln, denn präzise und korrekte Profile von uns bedeuten Leistungen, die auf uns optimiert sind, falsche und ungenaue Profile dagegen bedeuten unangemessene Angebote und ungerechte Behandlung. (Eigentlich ist das Problem am Scoring ja oft, dass es an so ungenauen Kriterien wie Wohngegend die Kreditwürdigkeit misst statt an unserem eigentlich ehrenwerten Rückzahlverhalten.)
- Das Sammeln und Korrelieren von Daten über Menschen und Welt ist GrundNatur des Menschen und Quelle seiner Kultur/Intelligenz. Wer hier "Stopp!" ruft, will die menschliche Kreativität abschaffen. Der Ansatz einer Transparenten Gesellschaft wäre, dieses Sammeln und Korrelieren den Betroffenen sichtbar zu machen, so dass sie Einspruch erheben können gegen falsche Schlüsse oder schlechte Quellen.
- Privacy-Accountability-Kompromisse in Sachen Anonymität, Datenschutz möglich? Brin fallen nur furchtbare Sachen ein wie in Informationen eingebautes VerfallsDatum und Pseudonym-Banken mit BackDoor. Auch könnte man ja Verschlüsselung seitens MachtKörperschaften besteuern statt verbieten, mit soundsoviel Cent pro Megabyte, als sanfte Entmutigung und durchsetzbar über StichProben und BürgerWacht . Eingeständnis: alles nur Alibi-Vorschläge gegen den Vorwurf, keine praktischen Kompromisse anzubieten.
- Erfolgsversprechend: staatlich unterstützter TransparenzDruck gegen Unternehmen, Publikation ihres Giftmüll-Ausstoßes, ihrer GepäckVerlustQuoten usw. Da braucht der Staat gar keine regulativen Gesetze gegen machen, er wirft einfach Licht drauf und hofft auf den MarktDruck der Öffentlichkeit, unter dem die Unternehmen dann miteinander um ihr Ansehen in Dingen wie UmweltFreundlichkeit und VerbraucherSchutz konkurrieren werden. Werfe den Markt zurück gegen seine eigenen Externalitäten!
- Mutually Assured Destruction ist der way to go für Privacy in der Transparenten Gesellschaft. Wenn jeder eine Kamera hat und jeden filmen kann, bilden sich auch Kamera-Squads gegen Stalker und Blockwarte. Intoleranz wird zum SteineWurf im GlasHaus, wo jedes HolierThanThou genaueres HinSchauen ertragen muss. Respekt vorm AndersSein, sowieso schon GrundWert des NeoWestens, wächst weiter, da freigelegte Freaks jeden Lagers GrundWerte der Toleranz als gemeinsamen Nutzen erkennen, erkämpfen.
- Entwurf diverser Systeme kollektiver Intelligenz in der Transparenten Gesellschaft, um aus den vielen Daten tatsächlich gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen. Brin greift die CrowdSourcing-, Tagging-, KommentarWolken-Systeme des Web 2.0 vor, fürchtet sich aber ein bisschen vor einer Welt, in der es keine anerkannte gemeinsame Wahrheit mehr gibt, sondern jedes Plus der Einen jedes Minus der Anderen in einem Brei der Beliebigkeit aus-canceln könnte.
- HorrorSzenario wäre eine Welt, wo nur die Schwachen den Mächtigen transparent wären. Eine Welt gegenseitiger Intransparenz nennt Brin instabil: die Mächtigen haben mehr Mittel, im Geheimen Spionage-Mittel gegen die Schwachen zu entwickeln. In einer Transparenz-Welt würden sie indes beim Errichten neuer Mauern beobachtet, angegriffen; Transparenz tendiert zu Stabilität. Sind dagegen nur "die Schwachen" intransparent, verhindert nichts den Aufstieg einer neuen intransparenten Macht aus deren Reihen.
- Kapitel 9: "Humility And Limits / A Withering Away?":
- Verschlüsselung ist ja gut und schön, aber für viele Fälle alles Andere als eine sichere Wette: social engineering und Direkt-Überwachung bei Eingabe oder Auslese mogeln sich an ihr vorbei, und nicht nur RechenMaschinen sondern auch Mathematik von Morgen setzen sie einem möglichen oder sicheren VerfallsDatum aus. In einer größtenteils Transparenten Gesellschaft kriegt man ja wenigstens noch mit, wenn die Bösen den eigenen vermeintlich sicheren Code geknackt haben.
- Für die Zukunft rechnet Brin mit ganzen Ökosystem allgegenwärtiger autonomer Info-Sensoren und -Sammler in Form von Mikro-Organismen und intelligentem Staub, deren Wissen von sonstwem abgesaugt werden kann; mit viel kompetenteren Lügen-Detektor-Algorithmen; und schließlich mit sehr viel kraftvollerer Prognostik und Korreliererei zum Beispiel von Faktoren, die bestimmtes unerwünschtes Verhalten aus Kontexten x, y, z herleiten. Scary, aber verbietet man das, wird's nur schlimmer durch Unaccountability.
- Die Angst vor einer Präventiv-Gesellschaft via Asozialen-Prognostik kontert Brin mit: Prognose problematischer Faktoren kannja durchaus auch für Betroffene selbst wünschenswert sein; und dem NeoWestlichen Wert der Andersheit und dem Druck zur Toleranz, der entsteht, weil in allgegenwärtiger Nacktheit so ziemlich jeder betroffen wäre; so dass ganz oben auf der Abschuss-Liste als asoziale Eigenschaft nämlich die SelbstGerechtigkeit gegen Norm-Abweichler sich durchsetzen würde.
- Brin definiert sein Transparenz-Utopia gegen einige theoretisch ebenso mögliche Transparenz-Dystopien, von klassischer Überwachungs-Pyramide über Un-Accountability durch Ersaufen im unverwertbaren Daten-Zuviel bis zu einer Über-Transparenz, die künftige Generationen das Konzept Privatsphäre ganz vergessen lässt, statt ihm durch gegenseitige Überwachungs-Accountability RestRaum zu sichern. Brin nennt solche Generationen zu anders unserem heutigen Menschenbild, um sich mit ihnen zu identifizieren.
- Wird der NationalStaat sich bewähren? Brin distanziert sich vom anti-staatlichen Radikalismus diverser Cyber-Libertärer (eben weil die für ihn allzu eilig das eine autoritäre Muster gegen ein anderes eintauschen), sieht aber ein graduellen Verlust an Bedeutung und GewaltMonopol im transnationalen InformationsZeitalter. Die künftigen Solidaritäten sind nicht durch Geografie geformt, und künftige soziale Aufgaben werden mehr und mehr durch die neuen sozialen, politischen Formen und Methoden gelöst.
- Kapitel 10: "Global Transparency / A Little Loyalty":
- Transparenz und freier Informations-Fluss in und zwischen Staaten verringert katastrophale Fehl-Einschätzungen von Plänen, Risiken, Verschiedenheiten. Warum führen Demokratien kaum Krieg gegeneinander? Weil offene Gesellschaften meist weniger destruktive Strategien zur Durchsetzung ihrer Interessen miteinander finden und einseitige Propaganda im freien Diskurs selten Erfolg hat. Wir können den Empfang von FeindesSendern erlauben im vollen Vertrauen darauf, dass unser offener Diskurs sie zerpflückt.
- Die globale Durchsetzung des Wertes "Transparenz" ist nicht nur moralische SelbstGerechtigkeit des Westens, sie liegt tatsächlich auch in unserem strategischen Interesse. Wenn offene Gesellschaften zu weniger politischen Amokläufen neigen, nützt das auch uns. Staaten, die ihre MenschenrechtsVerletzungen hinter ihrer Privatsphäre und Souveränität verstecken, tragen sehr viel mehr Potential zum Risiko für uns in sich als transparente. Analogisiere auf Menschen und deren Souveränitäts-Gejammere.
- Auch Gefahren der Info- und Techno-Infrastruktur-Kriege kontern wir am Besten mit transparenten, dezentralen Systemen. Im 21. Jahrhunderten sind Hierarchien angreifbar und Netzwerke autonom funktionierender Akteure -- z.B. auch nicht-staatlicher, zivilgesellschaftlicher MitSpieler -- widerstandsfähig. Taktische Geheimhaltung und Rechenschaft durch Transparenz widersprechen sich nicht, wenn wir militärischen Geheimnissen eine Gnadenfrist gönnen, aber nachträglich alles aufgedeckt werden muss.
- In der hohen internationalen Politik bevorteilt Intransparenz klar die Schurken, und dasselbe gilt für Finanzströme. Brin fordert Transparenz aller internationalen Geldflüsse und die Abschaffung des Schweizer Bankgeheimnisses -- das hat bei ihm alle Sympathie eingebüßt durch seinen beharrlichen Schutz für Nazi-Gold und die Ausplünderung der Dritten Welt durch ihre Diktatoren. Abseits libertärer Ideologie gibt es keinen Grund, die SchattenWelt internationaler Finanzen gutzuheißen.
- Das Netz ist auf Offenheit begründet, auf universeller Lesbarkeit und Auswertbarkeit und freier Austauschbarkeit seiner Datenströme. Hierin liegen Schlüssel seines Erfolgs, seines kreativen Potentials. Wer dieser Informations-Freiheit Verschlüsselung, Undurchsichtigkeit, Unwissenheit, Schatten, Verbreitungs-Hürden, restriktiven Daten-Besitz aufzwängen will, handelt gegen die very Grundlagen der Wissenschaftler-Kultur, aus der es erwuchs, und des revolutionären Potentials, das aus ihm folgt.
- Kapitel 11: "The Road of Openness":
- Die Geschichte von Akademos, dem die Götter schenkten einen Garten der freien Rede, unbestrafbar selbst durch die Götter. Woher die Sicherheit? Entweder durch selbst den Göttern undurchdringliche Mauern, was den Garten verschandelt hätte. Oder durch ein Privileg für Akademos zur Gegen-Überwachung der Götter, was natürlich Brins Konzept wäre. Denn ein offener statt zugemauerter Garten, aus dem erwuchs dann die Akademie, also die Wissenschaft, der freie Markt, die offene Gesellschaft.
- Aufzählung der tausend Vorteile einer offenen Gesellschaften der freien Rede, des freien Informationsflusses, der Transparenz: Intelligenz, Kreativität, mehr gegenseitiges Verständnis, Menschen verschwinden nicht im Orkus des Vergessens, dank allmächtiger NachbarschaftsWache kann ich meine Haustür nachts offen lassen, Kriminalität stirbt aus, und zuletzt: Privatsphäre kann gerettet werden, weil jedes Übertreten persönlicher Grenzen sofort der ganzen Welt zur Anzeige gebracht wird.
- Jedes Übel wird durch Geheimniskrämerei nur noch verstärkt.
- Die Kameras und Überwachungs-Initiativen kommen unaufhaltsam. Aber statt uns in die Ecke zu schmollen, sollten wir uns an den Verhandlungs-Tisch setzen und für jede Transparenz unsererseits eine Gegen-Transparenz seitens der Mächtigen einfordern. Quid pro quo!