Richard Sennett: "The Fall of Public Man" aka deutsch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität."
Hab's 2005 schonmal gelesen, im Seminar von Mirjam Schaub. Am 3. Dezember fang ich erneut an, mit einer Re-Lektüre!
Lektüre-Notizen:
- Einführung: "Sociology and the Meaning of History" / Harvey G. Cox / 1978:
- Privacy-Studien-relevante Empfehlungen: Sennetts The Uses of Disorder (1970) analysiere den Rückzug vor der Stadt in Individual-Persönlichkeit und Familienleben; The Hidden Injuries of Class (1972, mit Jonathan Cobb) dagegen, wie Psychologisierung des Politischen Problemen der Klasse den Anschein gebe, persönliche zu sein.
- Als Theologe freut sich Cox über Sennets Säkularisierungs-Kritik. Zur Belohnung stellt er Sennetts historischen Beispielen zur Befindlichkeits-Geschichte des 19. Jahrhunderts bestätigend ein paar religionsgeschichtliche zur Seite: Kierkegaard und amerikanische Spektakel-Kirchen.
- Cox mag, wie Sennett die Psychologisierung des historischen Sinns angreife, die alles nur noch auf persönliche Empfindlichkeiten der Beteiligten abklopfe.
- Mir fällt auf, wie sehr die Stadt als der öffentliche Raum schlechthin vergöttert wird, den es vor Verelendung zu schützen gelte; und zwar durch strikte Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem. Interessante Frage wäre nun, wie dieses Problem sich verändert, wenn man in dieser Rolle die Stadt durch das Internet ersetzt.
- Teil I: "The Public Problem"
- Kapitel 1: "The Public Domain":
- Als die Bürger des Alten Roms sich von der res publica ab und ihrem Privatleben zuwandten, geschah dies in Suche nach einer Transzendenz, die letztlich, im Privaten aufwachsend, nach außen dringen und die res publica neu strukturieren würde. Gewinner war das Christentum.
- In Sennetts Moderne geschieht etwas Ähnliches: Die Menschen wenden sich von der öffentlichen Sphäre ab und dem Persönlichen zu, auf einer romantischen Suche nach den Tiefen ihres Selbst. Dabei begehen sie zwei Fehler:
- Sie glauben an das Selbst aus sich heraus; das nur blüht, wenn es nicht mit der brutalen Außenwelt konfrontiert wird. Sie übersehen, dass auch das Selbst nur sozial entstehen kann. Sie verfallen einer Psychologie, die verspricht, jede Frage über das eigene Innere zu klären.
- Sie suchen das Persönliche nicht nur in einer abgeschlossenen Privatsphäre, sondern verwässern die Grenzen zwischen dieser und der Öffentlichkeit: dem Raum des Politischen. In Sennetts Ideal funktioniert dieser Raum aber nur impersonal. Die obsessive Suche nach Persönlichkeit lässt Impersonales desinteressiert als "kalt" links liegen. Ihr zählt nur öffentlicher Raum, in den sie menschliche Wärme und Persönlichkeit hineininterpretieren kann.
- Narzissmus: die Unfähigkeit, die Dinge der Welt von ihrer Bedeutung fürs Selbst zu abstrahieren. (Klingt fast schon nach Paranoia!) Der Narzisst sucht in allem Erfüllung seines Selbst -- auch in den Dingen, die ihm das unmöglich bieten können. Deshalb wird er nie zufrieden.
- Die viktorianische Erotik besaß das Äußere, das Soziale als Koordinatensystem. Die Sexualität der Moderne kann sich nur noch an einem verabsolutierten inneren Trieb orientieren, der keinem ihr äußeren Wert unterworfen werden darf; denn das Innere ist der Endzweck, nicht in Frage zu stellen. So traumatisiert der Narzissmus Liebesbeziehungen.
- Dass sie das Persönlich-Psychologische vom öffentlichen Auftritt zu trennen wusste, gab der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts Würde. Heute dagegen streben wir nach Authentizität: alles Auftreten muss unverfälschte Wiedergabe des Persönlich-Psychologischen sein. In diesem Gebot treffen sich Puritaner (die ständige Rechtfertigung verlangten) und die Prediger des "Sei du selbst, werfe alle Entfremdungen ab!"
- Eine moderne Architektur, die öffentlichen Raum auf leere Durchgangswege reduziert, Bereiche streng funktional voneinander abschottet und zugleich die Glasfassade so sehr liebt wie sie die blickhemmende Zwischenwände hasst: Soziale Vermengung wird abgewürgt. Die totale gegenseitige Sichtbarkeit zerstört Rückzugsräume und so Gelegenheiten zum Schnattern. Wer Austausch sucht, findet den nur noch im Gekuschel enger, eindeutig privater Räumen.
- Grundlegend sind die Begriffe "private" und "public" im 18. Jahrhundert bedeutungsmäßig aufgefaltet. "Private" bezeichnet einen geschützten Raum unter Freunden und Familien. "Public" bezeichnet das Gemeinwohl und einen jedermann einsehbaren Raum, in dem ganz Verschiedene und einander Fremde aufeinander treffen können. Bonus-Begriff: "Kosmopolit". Er passt in alle Öffentlichkeiten gleichzeitig, egal wie fremd sie einander sind, und ist damit der Held des diversifizierten öffentlichen Raums.
- Im 18. Jahrhundert wird die Stadt zum Raum dieser neuen Verschiedenheit. Ihre Gestaltung umfasst nun Funktions-offene Plätze und Straßen, Promenaden der Vermischung und Serendipität. Neue, voraussetzungsfreiere soziale Interaktionsformen bilden sich heraus: Wie miteinander umgehen, verhandeln, reden, ohne Vorannahmen über Stand, Hintergrund, Abhängigkeitsverhältnisse? (S. 18, mittlerer Absatz, deutet Sennett Schwierigkeiten dabei an, aber nur vage.) Diesem "zivisilierten" Umgang im Öffentlichen wurde der "natürliche" im Privaten entgegengestellt; mit scharfer Grenzziehung, konträren Ansprüchen, aber gleichermaßen wertgeschätzt.
- Dann kommt das traurige 19. Jahrhundert, und dauert bis heute an:
- Der Kapitalismus versetzt die Öffentlichkeit in beängstigende Unordnung. Das Private, die Familie wird zum überschaubaren, kontrollierten Fluchtraum vorm unkontrollierbaren, unüberschauberen Toben draußen. Die Kuscheligkeit, Vertrautheit und Treue im Privaten wird zum Ideal gegen die Unverlässlichkeit, Befremdlichkeit und Härte im Öffentlichen.
- Das Private entwickelt so aber auch einen moralischen Druck, dem die Flucht in die Öffentlichkeit entgegensteht. Dessen Gefährlichkeiten werden für Männer als Charakter-stärkende Herausforderungen gezählt, für Frauen dagegen als Charakter-zerstörende Entwertung.
- Säkularisierung: Die Dinge der Welt erfahren ihren Sinn nicht mehr durch transzendente Systeme, sondern aus der Untersuchung ihrer selbst heraus. Das zersetzt jede saubere systematische Aufteilung des Lebens z.B. in "interessiert nur als Privates", "interessiert nur als Öffentliches": Jedes Ding steht nun auch für jede Frage und jede Interpretation auf dem Prüfstand. Jede öffentliche, impersonale Form kann jetzt auch als private, personale gelesen werden.
- Der Warenfetischismus uniformiert die Menschen. Die Kleidung trägt Persönlichkeit in sich. Gerade diesen intimen Wert möchte man niemand der bedrohlichen neuen Auslesbarkeit im Öffentlichen preisgeben. Deshalb tragen alle dasselbe (Massenproduktion freut sich): dezent. So sinkt die soziale Informationsdichte in der Öffentlichkeit.
- Das Unkontrollierbare ist das Wahre, sagt schon Darwin. Die Panik, noch in der kleinsten unkontrollierbaren Regung als Person nackt zu werden, führt zur Schule der Gefühlsunterdrückung. Das im eigenen Auftreten Aufgestaute wird sublimiert in die Begeisterung für die Künstler, die in ihren Gesten alles rauslassen, Persönlichkeit zeigen.
- Der Politiker wird zur Persönlichkeit: beurteilt nicht nach seinen policies, sondern nach der Authentizität, mit der er geschätzte persönliche Werte, und sei es das Vertrauen in seine Predigt, preisgibt. Deideologisierung mitten im Klassenkampf. Die Bourgeoisie ist aber noch empfänglicher für den persönlichen Respekt als das Proletariat.
- Kapitel 2: "Roles":
- Ausdruck/Expressivität vs. Authentizität, presentation vs. representation. Das Spielen von Rollen als Nutzung sozialer Konventionen zwecks Informationsvermittlung: Sage etwas in der sozialen Sprache, damit es sozial verstanden wird. Authentizitäres Gegenteil: Sage etwas für das Ohr deines Selbst, verweigere die Übersetzungs- und Einpassungs-Arbeit, winke sie als verfälschend, gekünstelt ab.
- Lionel Trilling, "Sincerity and Authenticity". Aufrichtigkeit vs. Authentizität: Meine privaten Gefühle öffentlich mitzuteilen, ist etwas Anderes, als den Vorgang meines Fühlens an sich hervorzukehren. Letzterer Vorgang findet im ersten Fall im Privaten statt, öffentlich mache ich nur seine Feststellung. Im zweiten Fall gibt es keine Trennung zum Privaten: Ich fühle öffentlich. Darin mag auch der Verletzungs-Unterschied liegen, ob ich jemandem sage, dass ich ihn nicht leiden kann, oder meinen Ekel gegen ihn öffentlich auslebe. Authentizität ist narzisstisch: Sie formuliert nicht die Perspektive für einen Zuhörer, sondern die Perspektive für das Selbst.
- David Riesman, "The Lonely Crowd". Brauchbare sozialpsychologische Sprachschule.
- Alexis de Tocqueville, zweiter Band von "Democracy in America". Wie eine Gesellschaft der Gleichen den Einzelnen vom sozialen Interesse und der res publica auf ein Interesse für sein Eigenleben und das seiner Familie zurückwirft?
- Theodor W. Adorno, "Jargon der Eigentlichkeit", Subjektivitäts-Kritik, traf es für Sennett gut; die spätere Frankfurter Schule vor allem Plessners mit ganz viel Entfremdungs-Gerede dagegen nicht so sehr. Am Ende kritisierten die ja doch nur, dass ein uns äußeres System uns kaputt mache, indem es bis in unser Inneres sich reproduziere; anstatt auch der viktimisierten Innerlichkeit selbst ein bisschen Schuld zu gewähren.
- Sennett mag den Begriff der "Ideologie". Anstatt ihn unnötig zu verbösen, sieht er ihn als eine Art soziale These an, die überhaupt erst Stärke (und damit auch Gefährlichkeit bekommt), soweit sie geglaubt wird. Welche Ideologie geglaubt wird, zeigt sich wiederum im sozialen Handeln (und damit dem Rollenspiel); und nicht, wie bei der bloßen "Meinung", in einem Forsa-Umfrage. Unter diesen Bedingungen möchte er lieber den Begriff der Ideologie verwenden als den des "Wertesystems", den er für zu schwabbelig hält.
- Erving Goffman analysiert Rollenverhalten, Rollenspiel nur als das Befriedigen sozialer Erwartungen. Wer mehr Leidenschaft in seine Rollen investiert, als zu deren Appeasement notwendig, ist ihm ein Wahnsinniger.
- Theaterschauspieler wie Fremder in der Stadt des 18. Jahrhunderts ähneln dem Anonymous, der in meine Blogkommentare schreibt: Ich kenne sie nur, kann sie nur bewerten, über ihre gegenwärtige Darbietung; wer sie sonst sind, das weiß ich nicht, das ist nicht relevant. Diese Darbietungen vollziehen sich in einer ausgeprägten Intelligenz des öffentlichen Raums, einem Eigenleben jenseits der Privatleben der Beteiligten. Die Teilnahme an ihm verleiht eine eigene Stärke und Leidenschaft, die das Private, das Intime nicht bieten kann. Sie erweitert den Geist vom subjektiven Ich auf ein kosmopolitisches Ganzes.
- Wird dagegen der soziale Raum als ein intimer verstanden, wird davon ausgegangen, dass man einander kennt, jede Äußerung in Vorkenntnis der Person abwägt, sich mehr für das interessiert, was hinter der Äußerung an Person aufscheint, als für das, was in der Äußerung selbst enthalten ist. In der Intimisierung der Öffentlichkeit verkrüppelt der theatralische Ausdruck, verliert an Vorstellungskraft, und mit ihm der soziale Informationsgehalt des öffentlichen Raums. Ich schneide mich ab vom Weltgeist, der für mich leer ist, mir nichts zu bieten hat, meine intimen Bedürfnisse nicht reflektiert.
- Wo Theater und Straße die selbe öffentliche Geographie bilden (Stadt des 18.Jahrhunderts), das selbe Problem lösen (der Austausch mit einem fremden Publikum), da können die Konventionen und Moden zwischen ihnen auch ohne Weiteres hin und her wechseln. Die Kunst reflektiert und bildet die soziale Welt: Noch kann ich tatsächlich das auf der Theaterbühne Gezeigte auch auf der Straße der Fremden anwenden. In der intimen Öffentlichkeit dagegen gilt Theatralität als falsch, kalt, unehrlich; wer hier einfach Bühnenformeln nachspielt, ist unglaubwürdig.
- Teil II: "The Public World of the Ancien Regime":
- Kapitel 3: "The Audience: A Gathering of Strangers":
- Das Ancien Regime (als Spät- und Übergangs-Phase des Feudalismus) gebiert die Bourgeoisie.
- Paris und London wachsen in dieser Zeit vor allem durch junge, unverheiratete, familienfreie, entwurzelte Einwanderer aus dem Land. Sie sind undefiniert, nicht einzuordnen, gleichen sich nur in ihrer Ungebundenheit. Sie sind das Gegenteil ethnischer Einwanderer, die sich in Familienverbänden niederlassen, ihre heimatliche Tradition und Kultur mitbringen und eigene Stadtviertel zu identitären Blöcken zusammenschließen.
- Früher hätte dieser Zufluss der Neuen, Fremden vielleicht von einem öffentlichen Raum einsozialisiert werden können, an dem sich das Gemeinwesen orientierte, eine gemeinsame Identität im täglichen Umgang miteinander durchgesetzt werden konnte. Doch nun werden die öffentlichen Plätze in Paris und London, früher Versammlungsorte, Märkte und Bettelmeilen, zu Monumenten und Gärten umfunktioniert, an denen Sozialleben mehr und mehr mit Verboten belegt ist.
- Produktion und Handeln flexibilisieren, und mit ihnen die Sozialzusammenhänge. Monopole fallen, der freie Markt destabilisiert Gilden und die Vererbungskette im Familienbetrieb. Wohlstand, Beruf, Stellung und Familienname korrelieren nicht mehr miteinander. Soziale Mobilität wächst, vor allem zwischen den Generationen.
- Die Aufsteiger der entstehenden merkantilen und bürokratischen Bourgeoisie verstehen ihre Erfolge selbst nicht. Sie gewinnen Selbstvertrauen, aber noch ohne einen Begriff von der Identität dieses Selbst zu haben. Alle Zeichen verändern ständig ihre Bedeutung. Hintergründe verlieren ihre Lesbarkeit und Interpretation. Die Traditionen, auf die man sich berufen könnte, müssen erst noch werden, endlich mal hängen bleiben.
- Unter diesen Zuständen ist der Umgang mit dem Anderen eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe. Als man noch klar ablesen konnte, welcher Funktion, welchem Rang, welchem Hintergrund jemand angehört, bot das klare Anleitung, wie mit ihm verfahren. Nun müssen all diese Koordinatensysteme ständig neu gebaut werden. So setzen sich Formen durch, die neutral sind, die keine Vorannahmen treffen, die für jeden möglichen Variablenwert funktionieren.
- Im Adelsleben waren Klatsch und Tratsch sozial notwendig, Achtung der Privatsphäre kontraproduktiv: Wo der Umgang miteinander ganz von Rängen, Hintergründen und interpersonalen Bindungen bestimmt ist, muss über diese möglichst viel Wissen fließen. Klatsch-Wissen über jemanden war nicht so sehr Demütigung dieser Person, als unablässlich, um sie sozial einzuordnen und ihr die richtigen Komplimente zu machen.
- In der neuen Bourgeoisie lernt man die gegenteilige Ethik: Lerne einen allgemeinen, öffentlichen Umgang mit den Anderen. Behalte persönliche Dinge für dich, sie seien kein Faktor im Austausch miteinander. Werde als öffentliches Wesen stattdessen Teil der "öffentlichen Geographie", die ihre eigenen Kodes hat, unabhängig von den individuellen Ballasten ihrer Teilnehmer. Klatsch würde ihre Werte entwürdigen, passt also nur da, wo man eine nicht-öffentliche, private Beziehung mit dem Konversationspartner hat.
- Kapitel 4: "Public Roles":
- Nur im Privaten war Kleidung für den Körper. Im Öffentlichen waren Kleidung, Schminke etc. das eigentliche, oft phantastische Avatar-Bildchen, und machte den Körper darunter vollends unsichtbar. Nicht Person, sondern Kleidung trat in das Internet Stadt ein. Solche Aufmachung stand für Klasse, Beruf, Gemüt und politische Partei; auf diese Oberfläche, nicht das Dahinter wurde reagiert. Kopf/Gesicht waren nur Tragebalken für aufwendige Perücken, mit eingeflochtenen Schiffen und Dschungeln.
- Fehlbezug zwischen Straßen-Kleidung und dem Dahinter war gesetzlich verboten und (in der Härte Fall-abhängig) sozial verpöhnt. In der vorigen Kapitels beschriebenen Verwirrung war er trotzdem nicht sicherzustellen. "On the Internet, nobody knows you're a dog" -- ertrage es. Ein Grund mehr, sich nicht zu sehr auf eine Wirklichkeit hinter dem Symbol zu versteifen, sondern das öffentliche Spiel der Zeichen um seiner selbst Willen zu umarmen.
- Auf der Straße und auf der Bühne trug man dieselbe Kleidung, als deckungsgleiches Zeichensystem, das die selben Reaktionen erforderte. Dieselbe repräsentative Straßenkleidung trug man auf der Bühne auch in Szenen des Schlafzimmers und des Alten Roms; mit Realismus hatte das also nichts zu tun.
- Das Theater war Fortsetzung und Imageboard zur Straße: Hier wurden die Zeichenspiele konzentriert und, befreit von verbleibenden kontextuellen Zwängen, auf die Spitze getrieben. Handlung (sowieso vorbekannt) zählte für den Effekt nichts, das einzelne Reizbild und seine soziale Aufnahme im Publikum alles. Hier entstand der Begriff der "Pointe": hochwirksame Momente, die isoliert wirken und vom Publikum gleich mehrfach hintereinander eingefordert werden können, weil sie so genüsslich sind.
- Hier konnte das Publikum performant reagieren, schimpfen, weinen, lachen, bis aufs Äußerste, in einem Maße, das wir heute als peinlich empfänden. Damals wurde es nicht als peinlich empfunden, denn es galt nicht als Ausfluss der handelnden Person, sondern des öffentlichen Schauspiels. Man war nicht gerührt aufgrund irgendeines authentischen inneren Empfindens blafasel, sondern weil es in die Situation reinpasste. Paradoxerweise konnte man hier ausgelassener sein, als wenn die Scham das Verhalten diktiert.
- Im öffentlichen Schauspiel des Ancien Regime verliert der Wahrheits-/Wirklichkeits-Begriff an Wert. Stirbt eine Theaterbühnen-Figur, nimmt man das als öffentlicher Teilnehmer genauso ernst wie den Tod eines echten Menschen. Natürlich verachtet man einen Auftritt in Unterschichtenkleidung, denn man verachtet die Unterschicht. Das Julius Caesar durch ein Perücken-Träger-Publikum prominenter Zuschauer stapft, zerstört keine Illusion, sondern verringert höchstens die Konzentriertheit des Reizbildes. Postmoderne Anklänge.
- Ins Kaffeehaus ging man für den vollends befreiten, depersonalisierten Informationsfluss. Hier mingelten alle Klassen und Typen und erzeugten einen gemeinsamen Wissens- und Darstellungs-Fluss ohne Sorge um Bekanntschaft, Rang, Herkunft; genau hierfür zahlte man schließlich die Eintrittsgebühr. Ein Traum für Informations-Saugschwämme. Der später aufkommende "Klub" war der Gegenentwurf: exklusive Teilnehmer-Auswahl, eingeschränkter Informationsraum, und wichtiger ist, wer etwas sagt, als was er sagt.
- Kapitel 5: "Public and Private":
- Die Privatsphäre dient im Ancien Regime nicht dem Schutz der Individualität, sondern des Naturzustandes. Jenseits der Zivilisation, die das Öffentliche ist, sind die Menschen nicht Individuen, sondern alle natürlich und dadurch einfach, bescheiden und gleich. Die Regeln hier sind nicht selbstgemacht, sondern entsprechen einer biologistischen Ordnung, dem göttlichen System der Natur, das bestimmt, welches Verhalten ihm angemessen ist und welches nicht.
- Das Natürliche wird gefunden im ungewappneten Kind, das besonderen Schutzes bedarf. Die Zivilisation ist erhaben, aber harsch; ehe das Kind hier hineingewachsen ist, bedarf es der Umsorgung durch den erweiterten Mutterleib, durch die "natürlichen Sympathien" der nächsten Familienmitglieder. Hieraus erwächst das Bild der Familie nicht als gesellschaftlicher Institution, sondern als eigenständiger Naturform. Hier ist Schutzraum vor den unsteten Gewalten der Gesellschaft.
- Das Öffentliche und das Private, das Künstliche und das Natürliche bilden ein Gleichgewicht, ein "Molekül": Als das natürlich empfindsame Tier Mensch verdienen wir Balsam, Sympathie, Nähe, Einfachheit; Naturrechte des Menschen und der familiäre Rückzugsraum gebieten hier dem großartigen Wahn des Zivilisationsspiels Einhalt. Die geistigen und kulturellen Höhen und Kompexlitäten der Zivilisation dagegen erreichen wir nur, wo wir über das Natürliche hinauswachsen. Beides hat seine Berechtigung.
- In John Wilkes arbeitet sich der Versuch ab, solcher rigiden Welt-Ordnung neue Freiheiten entgegen zu stellen. Ebendiese verkörpert Wilkes' Person seiner Gefolgschaft, Kategorien-sprengend zwischen privatem und öffentlichem Leben. Seine privaten Ausschweifungen erhalten plötzlich politischen Wert, sein politisches Auftreten erhält Schützenhilfe durch den Freiheits-Ruf der Privatperson dahinter. Bald aber schlägt das zum Gefängnis um: Jede politische Handlung Wilkes' wird als Charakter-Handlung gewertet, sein Privatleben muss den politischen Forderungen seiner Jünger gerecht werden.
- Die Gleichheit des Menschen in seiner Natürlichkeit ist ein liebenswerter Gedanke: Egal wie die Zivilisation ihn einsortiert, jeder Mensch hat als Lebewesen seiner Spezies dieselben psychischen Ansprüche, darf nach einem Minimum an Glück und Sympathie verlangen, egal ob König oder Bettler. Vorher war es legitim, die Angehörigen einer anderen Klasse als eine andere Spezies zu betrachten, mit der man nichts gemein hat. Siehe das Beispiel der einfühlsamen Madame de Sevigne, die kein Problem damit hatte, sich über Hinrichtungszuckungen von Angehörigen der Unterschicht zu amüsieren.
- Kapitel 6: "Man as Actor":
- In der Stadt des Ancien Regime lernt man, Gefühle über Ausdruck zu kommunizieren. Ausdruck heißt: Präsentation durch konventionalisierte Zeichen, statt durch unbearbeitetes Abbilden irgendeiner Wirklichkeit. Das Gegenteil der Authentizitäts-Ideologie, die das unverfremdete Einzigartige des Augenblicks verlangt. Sozial statt individualistisch.
- Die Freude, die Verspieltheit, die Unbeschwertheit dieser Welt. Jeder ist nur Schauspieler statt Natur, deshalb kann niemand auf seine Rolle festgenagelt werden. Probiere, genieße Rollen, statt sie ertragen zu müssen. Befreit von der Last, du selbst zu sein.
- Diderot entwickelt eine Theorie guten Schauspiels, das gerade aus künstlerischer Distanz zur dargestellten Emotion entsteht. Wer vom spontanen Empfinden einige Schritte zurück tritt und es aus der Ferne betrachtet, es befreit von zufälligen Verunreinigungen, der erst nähert sich seiner perfekten Form, seiner wahren Natur an und kann sie der Welt reproduzieren. Aber selbst die Spielen-durch-Fühlen-statt-Denken-Gegner Diderots hätten zugestimmt: Schauspiel ist etwas, das Zeichen für sich entwickelt, unabhängig vom Wahrheitsgehalt irgendeines zugrundeliegenden Textes.
- Rousseau findet das alles scheiße. Diese Ausdruckswelt führe uns fort von unserer wahren Natur, von unserem Selbst, mache uns abhängig von der Eigendynamik eines übereifrigen sozialen Körpers, der sich in der Stadt zu unmoralischen Höhen und Ablenkungen emporschwinge. Er will diese ganze Entwicklung zurückdrehen, er will das sozial bescheidene Dorf zurück, wo man auf sich selbst zurückgeworfen ist, keine fremden Identitäts-Ressourcen von sonstwoher einem entgegenfliegen, man sich aufs Notwendige besinne.
- Teil III: "The Turmoil of Public Life in the 19th Century":
- Kapitel 7: "The Impact of Industrial Capitalism on Public Life":
- Im 19. Jahrhundert steigt das Wachstum der Städte durch Eintrudler vom Land weiter an. Man darf es aber nicht mit der Industrialisierung verwechseln: Die schuf nun ihre eigenen Industrie-Städte (z.B. Manchester), während Raum in den Kapitalen (London, Paris) zu teuer war für Fabrikgelände. Hier dominierte weiterhin die "Trade, finance and bureaucracy"-Bourgeoisie.
- Das bürgerliche Leben in den Kapitalen war kosmopolitischer und hoffnungsvoller als in den verrauchten Monokulturen der Industrie-Städte. Man fühlte sich hier als Bürger von den Verwandlungen auch nicht ganz so radikal übermannt wie in den Industrie-Städten, denn in den Kapitalen hatte sich ja bereits im vorherigen Jahrhundert eine urbane Kultur gebildet, die noch ansatzweise den Tumult der Großstadt ertragbar machte, ihm Verständnisformen gab.
- Die großen städtebaulichen Projekte des 19. Jahrhunderts segregieren die Schichten voneinander. Vorher differenzierte sich die ganze Gesellschaft im selben nach oben strebenden Haus aus; jetzt verteilt sich mehr und mehr jede Schicht auf ihre eigenen Viertel, die sich so auch ökonomisch und kulturell mehr und mehr voneinander scheiden. Die Chance, das eigene Viertel zu verlassen, sinkt mit der eigenen Stellung; Kosmopolitismus kann sich mehr und mehr nur noch das gehobene Bürgertum leisten. Die Romantik von Kiez und Milieu ist die einer auf sich selbst zurückgeworfenen, eingesperrten Unterschicht.
- Auch am Bürgertum gehen die großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts nicht stressfrei vorbei. Man begreift wirtschaftlichen Erfolg immer noch als Glücksspiel und bestenfalls Spekulation, die Wirtschaftswissenschaften stochern im Blauen. Je chaotischer das öffentliche Leben wahrgenommen wird, immer weniger auch den im 18. Jahrhundert ausgehandelten Regeln handhabbar, desto mehr Rückhalt wird in einem Privatleben mit klaren, strengen Regeln gesucht.
- Teilnahme am öffentlichen Leben ist immer weniger die des gemeinsamen Aushandelns und Spielens, immer mehr die eines passiven Konsums vieler von öffentlichem Spektakel, das seine Nährung aus einem verborgenen Selbst behauptet. Entweder, du beobachtest; oder du redest, dann aber nur, nachdem du lange in dich gegangen bist, um genau zu überlegen, was du preisgibst. Das Gegenteil von Jean-Pol Martins Neuronen-Spielchen.
- Sowas scheint viel besser zu Massenproduktion und Massengesellschaft zu skalieren. Das aufwendig individualistische Feilschen weicht öffentlich der Kaufhalle mit festen Preisen für identische Objekte in millionenfacher Ausführung. Ihr Wert ist nicht mehr Erzeugnis eines gemeinsamen öffentlichen Geistes, sondern personalisierender Warenfetischismus: Dem Objekt wird eine Ausdruckskraft aus sich selbst durch Werbung angedichtet. Wo doch noch gefeilscht wird, da nur im Geheimen.
- Kapitel 8: "Personality in Public":
- Säkularisierung des 19. Jahrhunderts: Schüttele alle transzendenten Systeme ab, jede Definition des Einzelnen durch ein Ganzes. Nur Unmittelbares zählt, das konkret am Gegenstand Prüfbare. Alle Bedeutung und Wahrheit kommt nur dem einzelnen Fakt aus sich selbst heraus zu (Positivismus).
- So wird auch der gemeinsame Geist der Gesellschaft zerbrochen, hinab aufs Atom des Einzelnen. Wie in den Warenhäusern, tragen Gegenstände/Individuen ihre Sinnhaftigkeit in nur noch in sich selbst, in einer an ihrer Oberfläche zu ergründenden eigenen Tiefe.
- Für Balzac ist die Gesellschaft bis in die letzte Pore jeder Persönlichkeit eingeschrieben, aber zugleich ein Rätsel, das nie aus diesen Poren herausgehoben und durch Verallgemeinerung gelöst werden kann. Nur, wenn du in die sichtbaren Details der einzelnen Persönlichkeiten in ihrer individuellen Konfiguration eintauchst, sie sorgfältig bis aufs Tiefste studierst, näherst du dich dem Geheimnis an. Alles ist Psyche, Sünde, Moment.
- Balzacs Blick ist bürgerlich in seinem erhaben-distanzierten kosmopolitischen Schweifen. Er überschaut alle Typen und Schichten, ohne sich selbst irgendwo einzuverpflichten. Ihm ist die Welt prachtvoller Tumult von Menschlichkeiten und Zufällen ohne höhere Systematik. Bettler wie Wohlhabende sind arme Sünder und tauschen von heut auf mogen die Rollen. Anders der proletarische Schreiber, der sich klar mit Gruppen und Kämpfen identifiziert, auf deren politische Welterfahrung sein Blick eingeengt ist.
- Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sich neutrale, dezente Kleidung als neuer kosmopolitischer Standard durch; zum Einen als Ergebnis der Massenproduktion, zum Anderen, weil man sich verspricht, in so langweiliger Uniform weniger von sich preiszugeben. Expressivität in der Öffentlichkeit wird nicht länger gesucht, sondern gemieden -- gerade jetzt, wo man seinen Blick für die gegenseitige Lesbarkeit des Inneren schult.
- Charles Darwin (in seinen Studien zum tierischen Gefühlsausdruck) wie Sherlock Holmes lehren Panik, nichts vom Eigenen verbergen zu können: Die kleinsten Details können uns verraten, und so sehr wir uns auch ums Verstellen bemühen, unser Inneres tritt doch irgendwo unkontrollierbar hervor. Daher die Devise: verstecken, Gardinen zu, Gesicht verdecken, unsichtbar werden.
- Mein Inneres und mein Äußeres bilden ein untrennbares Molekül. Eine Gesichtsregung kann mich genauso kompromittieren und bestimmen wie eine falsch gebundene Krawatte meinen Stand erniedrigen oder ein unbedecktes Tischbein mich lasterhaft machen kann. Die Identität bohrt sich vom Äußersten bis ins Innerste und wieder zurück; darum ist der Viktorianer bemüht, sowohl das Äußerste wie auch das Innerste strengstens zu kontrollieren, auf dass es ihn selbst nicht vollumfänglich in etwas Unerwünschtes verwandle.
- Panik vor Unkontrollierbarkeit, Instabilität der eigenen Person. Eine Persönlichkeit herausbilden, das heißt, einer Persönlichkeit Bestand, Schlüssigkeit geben. Darum stetes Bemühen, den eigenen Charakter zu begreifen, wie er sich in der Vergangenheit ausdrückte; und daher gilt der kontrollierbare Rahmen der Kleinfamilie als der Ort, wo Persönlichkeit reifen kann: Klare, strenge Rollen und Verhaltensregeln sollen Verhalten und damit Persönlichkeit verfestigen.
- Im Umkehrschluss erscheint die Öffentlichkeit dem Selbst immer gefährlicher. Die Komplexität dieser Welt zwingt mich in immer neue Rollen und Funktionen, destabilisiert so mein Verhalten -- und damit meine Persönlichkeit. Wer eine Persönlichkeit herausbilden will, fliehe die Verwirrungen der Öffentlichkeit in einen klar geregelten Hafen.
- Die Suche nach dem Kern der Dinge an ihrer konkreten Oberfläche führt zu einem Authentizitäts-Kult auf der Theaterbühne -- jedes Kostüm muss exakt so aussehen wie das, was so jemand in seiner zeitgenössischen Wirklichkeit getragen hätte. Das Braten eines Spiegeleis wird am Besten dadurch dargestellt, dass man ein echtes Spiegelei brät.
- In der Öffentlichkeit ist ständiges Dekodieren angesagt. Früher waren die Zeichen klar und breit konventionalisiert, heute müssen sie so subtil sein, dass nur Eingeweihte sie entziffern können: eine bestimmte Art, seine Krawatte zu binden oder seine Fingernägel zu pfeilen; am Besten nur dem lesbar, der sie teilt. Dem Blick Arbeits-Entspannung bietet die Theaterbühne, die Zeichen mit klaren Zuordnungen verspricht. (Aber wenn gleichzeitig die Bühne die äußere Realität so oberflächengetreu wie nur möglich nachzubilden sucht, wie wird auf ihr dann lesbar, was so auf der Straße noch unlesbar war?)
- Unterm Ancien Regime war Spontaneität des Ausdrucks keine Gefahr -- das private Wesen war durch die Natur definiert, das öffentliche nur durch die Maske des Augenblicks; was davon abwich, war halt Geist des Moments oder der Situation. Im 19. Jahrhundert ist alles, und damit auch Spontaneität, Ausdruck der Persönlichkeit -- in diesem Fall eben einer instabilen. Wer spontan ist, leidet bestenfalls unter mangelnder Persönlichkeitsbildung und ist schlimmstenfalls schizophren, geisteskrank.
- Die Lifestyle-Revolutionen der Generationen ab dem späten 19. Jahrhundert waren unfähig, das Diktat des Persönlichkeits-Erscheinungsbildes abzuwerfen. Sie wechselten die Codes und das Inventar der verfügbaren Persönlichkeits-Muster, aber die Gussform selbst ließen sie unberührt. Dass ich mir die Identität des Revoluzzers überstülpen kann, macht aber noch keine Revolution.
- Kapitel 9: "The Public Men of the 19th Century":
- Stille wird zur Bedingung sozialer Respektabilität. Verachtung dem, der im Theater redet. Verachtung dem, der sich eine Blöße gibt, unkontrolliert losheult oder euphorisiert. Monströs übertölpelnde Opernhäuser und Richard Wagners Gesamtkunstwerk wenden alle Mittel auf, um das Publikum ins Schweigen zu disziplinieren, soziale Interaktion unmöglich zu machen, alle Aufmerksamkeit aufs eigene Kunstwerk zu bündeln.
- Nur in Passivität kann der Bourgeois die Erfahrungen und Kunstwerke des öffentlichen Lebens vollends erfassen und auf sich wirken lassen, sie in Kontemplation verinnerlichen anstatt sie in sozialer Interaktion zu veräußerlichen. Schweigen, kontemplieren, nur nach viel Nachdenken oder als Genie äußern: das ist das bürgerliche Ideal. Der bürgerliche Horror: das ungehemmte soziale Schießen der sozialen Neuronen, der spontane Mob.
- Immer breiterer bürgerlicher Passivität im öffentlichen Raum steht die Zuspitzung der hier Ausdrucks-Befähigten entgegen: Sie schrumpfen auf eine kleine genialische Elite zusammen. Kunst ist nur noch, was virtuos ist; virtuos ist, was nur von wenigen Besonderen ausgeführt werden kann; Kunst wird von einer niederen Diener-Tätigkeit zur Aufgabe bewunderter Meister, die Stücke werden unspielbar außer für Genies.
- Erlernbares, automatisierbares kunsthandwerkliches Können weicht der Eigenheit des Performers und Augenblicks. Sie verdrängen den wiederholbaren, erinnerbaren Text. Kunst muss überraschen, schocken, abnorm sein. Das Extraordinäre wird gebündelt auf den Theatersaal und den Künstler. Was in seiner Immanenz stattfindet, kann nie nach Draußen transzendieren, ist also ungefährlich.
- Der Kampf Notation vs. Performanz: Die Einen sagen, die Musik liegt in der Notation, und erweitern mehr und mehr die von ihr erfassten, vorgeschriebenen Ausführungs-Details. Die Anderen sagen, die Musik liegt in der Aufführung und im Performer; nur der inspirierte Augenblick kann aus dem toten Text Musik machen. Als Performer verachten sie den Text und seine Anweisungen, biegen sie zurecht / verfälschen sie, wie es ihrem Moment und Charakter zurecht kommt.
- Kurzum: Kunst wird deckungsgleich mit der Persönlichkeit des Künstlers. Der Bourgeois, der in jeder Geste der Menschen Persönlichkeit zu lesen versucht, zugleich über die eigene immerzu verunsichert ist und anderen Bürgern gegenübersteht, die mehrheitlich jeden Ausdruck ihrer Persönlichkeit zu unterdrücken versuchen, projiziert euphorisch "Persönlichkeit" auf die letzten öffentlich expressiven Figuren, maximalisiert sie sich in diesen zum Ausgleich für alles Andere.
- Nur noch der Kritiker und Feuilletonist kann die Welt dekodieren. Der um die Würde der Kultiviertheit bemühte Bürger saugt seine Urteile auf. Sie sagen ihm, wie er das Theaterstück zu verstehen, was er in einem Musikstück zu erfühlen hat.
- Stille ist Ordnung und Stabilität. Öffentlicher, sozialer Diskurs von Arbeitern gilt dem Bürger als gefährlich und wird verboten. Nur gemeinsames Besäufnis ist geduldet, denn Alkohol ertränke die Sprache. Dem begegnet der Arbeiter, indem er laut ein Kollegen-Besäufnis ankündigt, das Pub dann aber für nüchterne politische Unterhaltung nutzt.
- Allein im Cafe sitzen und seinen Absinth trinken: Hierhin flüchtet Mann (die Frau seltener, denn Öffentlichkeit ist gefährlich!) des Familienlebens Strenge in eine eigene, demgegenüber abgeschottete Privatsphäre, inmitten des öffentlichen Raums. Hier muss er weder seiner Familienrolle folgen, noch sich sonstwie verhalten, denn die Öffentlichkeit ist ja nun eine der Stille und Passivität, frei von sozialen Interaktionen. Hier kann er unbedrängt, ungefordert seinen Tagträumen nachhängen -- und sich frei fühlen.
- Kapitel 10: "Collective Personality":
- Mit Lamartine 1848 geht die bourgeoise Verehrung der Künstler als alles überragender öffentlicher Persönlichkeit über auf einen Dichter, der zugleich auch Politiker ist. Was vorher nur beim um Kultiviertheit bemühten Theaterpublikum gelang, gelingt Lamartine mit einem politisch agitierten Mob: ihn zur sprachlosen Bewunderung und Passivität zu disziplinieren. Die Bourgeoisie hat ein neues Mittel im Klassenkampf: den Charismatiker, dessen Auftritte den Mob zähmen und seine eigenen Interessen vergessen machen.
- Lamartine schafft es, die Wut des Mobs in eine Euphorie des Augenblicks zu verwandeln, die nicht über sich selbst hinausweist. Seine Bewunderer müssen im Nachhinein stets eingestehen, sich gar nicht zu erinnern, wovon er gesprochen habe; aber wie er es tat, das war groß! Die Strahlkraft seiner Persönlichkeit saugt alles Feuer der Situation auf, das gefährlich transzendent werden könnte, und verwandelt es in ungefährliche Immanenz.
- Anders Savonarola im Renaissance-Florenz: Er agitiert die Leute, macht sie handeln. Er ist ein großer Prediger, aber er steht nicht für sich selbst, sondern für eine Wahrheit und Macht, die über ihn hinausweist, und damit auch in das Handelns-Vermögen seiner Zuhörer hinein. Die Gläubigen handeln nicht, weil sie Savonarola als Persönlichkeit verehren, sondern weil Savonarolas Predigt potent ihren Glauben mit neuen Inhalten, Verhaltensregeln ausfüllt.
- "destructive gemeinschaft": Bald geht es in der Dreyfus-Affäre nicht mehr darum, ob Dreyfus schuldig sei oder unschuldig; sondern um die Angehörigkeit zur Persönlichkeits-Gemeinschaft der Dreyfusards oder Anti-Dreyfusards. Auch die politischen Verwandtschaften dieser Gruppen treten bald in den Hintergrund; man ereifert sich bald nur noch darüber, wer die ehrenhafteren Charakterzüge habe. Emile Zola und der Antisemit Edouard Droumont argumentieren beide gleichermaßen irrational, ad hominem.
- So wird jeder Beweis, jede Rationalisierung zur Nebensache: Wir stehen hier, weil es unsere Persönlichkeit definiert; nicht, weil es richtig ist. Kompromisse, Eingeständnisse von Fehlern, Bemühungen um Objektivität sind Verrat.
- Wichtiger als die Handlung wird der Persönlichkeits-Gemeinschaft die identitäre Selbstbestätigung. Eine von ihrer Persönlichkeit besessene Gemeinschaft eifert vor allem darum, ihr Persönlichkeit festzulegen und rein zu halten und Abweichungen zu jagen. Ein nie zu gewinnender Kampf, da stabile Persönlichkeit eine Illusion ist.
- Die identitäre Dogmatismus der Persönlichkeits-Gemeinschaft ist mit dialektischem Denken unvereinbar. Fürchte denjenigen, für den die Frage wichtiger ist, ob dieses oder jene die korrekte marxistische Position, als ob dieses oder jenes die Arbeiterklasse oder Revolution voranbringe. Die Obsession mit der eigenen marxistischen Identität finde sich vor allem bei Marxisten aus dem Bürgertum; was bindet sie denn an die Arbeiterklasse, wenn nicht ihr moralisches Bekenntnis?
- Narzissmus vs. "enlightened" Eigeninteresse: Der Narzisst kann gerade deshalb nicht für seine eigenen Interessen kämpfen, weil sein Blick des "alles, was ist, hat seinen Sinn in mir" ihm die objektive Analyse und damit auch Angriffspunkte für Veränderung verbaut. Weil er nur subjektivieren kann, kann er nichts objektivieren, und damit auch nichts instrumentalisieren; alles sieht er als Teil von sich, und jeder Eingriff wäre also ein Eingriff gegen ihn.
- Teil IV: "The Intimate Society":
- Kapitel 11: "The End of Public Culture":
- Intimität: das Kuscheln in der menschlichen Nähe, das Befassen mit dem gegenseitigen Innerlichen, Persönlichen.
- Im 19. Jh. lernten wir, dass nur das Intime, der Kontakt mit dem Inneren unserer selbst und Anderer uns Erfüllung verschaffen kann. Dieses Diktum stellen wir nun als Anspruch, als Tyrannei gegen die Gesellschaft. Eine Erfahrung, ein Verhältnis, ein Raum, eine Vorstellung, wo nicht intim ist, betrachten wir als ungenügend, "kalt", falsch. Umso bereitwilliger folgen wir allem, was uns Intimität simuliert, zum Beispiel einem Politiker, der uns mit sich in eine persönliche Beziehung zu setzen verspricht.
- Das Persönliche als Deutung der Welt mystifiziert: Die Welt tickt nunmal nicht in jeder Hinsicht persönlich, und versucht man sie also als persönlich zu lesen, kommt man nie zu einem befriedigenden Ergebnis, bleibt alles Magie. Personalisierte Politik hält mich bei der Frage nach dem Inneren des Kandidaten auf, als könne ich daraus die Politik prognostizieren, die aus meiner Wahl-Entscheidung folgt; dabei hängt sie von ganz anderen, impersonalen Faktoren ab.
- Persönlichkeit trägt in sich auch die Idee einer Stabilität (vermutlich aus der Annahme eines selbstbestimmten Kerns, as opposed to Kontextabhängigkeit), die die Suche nach ihr nie antreffen wird. Wer auf die Stabilität der Persönlichkeit eines Anderen, oder seiner selbst, oder seiner Gruppe, vertraut, wird unweigerlich enttäuscht. Das ist der giftige Stachel in allen Beziehungen, die Unverändlichkeit ihrer Konfiguration beschwören.
- Die Gruppe als Persönlichkeit. Für die Erkennbarkeit, Einheit, Stabilität ihrer Charakter-Eigenschaften -- alles Bedingungen ihres Gegenwerts als Intimität für die Teilnehmer -- muss sie auf einen immer spezifischeren und damit kleineren Kreis zusammenschrumpfen -- von der Stadt zur Nachbarschaft, von der Klasse zur Ethnie --, Widersprüche exkommunizieren und die Interaktion mit der Welt vermeiden, die ihr ja ein Reagieren und damit Instabilität ihrer Konfiguration abverlangen würde.
- (Der Respekt vor öffentlicher Persönlichkeit im 19. Jh. wird mir klarer. Dessen Bürger glaubt an die Korrumpierbarkeit seiner Persönlichkeit durch die wilden Winde der Öffentlichkeit; gegen die besteht nur die besonders standfeste, selbstkontrollierte Persönlichkeit. Wer seine Persönlichkeit in die Öffentlichkeit trägt und dabei als Persönlichkeit besteht, überzeugt, der gehört zur raren Spezies, die eine solcherart entwickelte Persönlichkeit zustande gebracht haben.)
- Die Tyrannei der Intimität verbreitet das, erzieht zum Versprechen einer kuscheligen Welt, in der alle mir relevanten Fragen durch persönlichen Umgang gelöst werden können. Sie verbaut so nüchterne Analyse impersonaler Verhältnisse. Meine Fähigkeiten, vom Persönlichen zu abstrahieren, verkümmern: Ich kann nur noch über meine Psyche und die des Gegenübers oder die des Mächtigen nachdenken, nicht mehr über die Anordnung der Klassen, Staaten, Wirtschaften, kurzum der nichtpersönlichen Systeme.
- Die Tyrannei der Intimität erklärt das Innere der Menschen zum Bestimmenden der Welt. Im 19. Jh. versuchte man dieses Innere vor dem Äußeren zu schützen; in der emotionalen Offenheit des 20. Jh. bringt man das Innere gegen das Äußere in Stellung; beides ist die gleiche bürgerliche Ideologie des Werts des Inneren, Authentischen. Sennett dagegen votiert für den Wert des Äußeren gerade in seiner Distanz zum Inneren, sieht darin Wirklichkeit und eine nicht zu vernachlässigende soziale Erfüllung.
- Zivilität: ein Umgang miteinander, der nicht das gegenseitige Innere betont, sondern ein gemeinsames Äußeres sucht. In der Etymologie zur Stadt: der Umgang mit dem Anderen nicht als intim Vertrautem, sondern als Fremdem. Als Floskel für Höflichkeit: dem Anderen nicht meine persönlichen Problemchen aufdrängen, zu denen er keinerlei Bezug hat. Der Umgang miteinander über ein gemeinsames Äußeres, das ist der Umgang über Konventionen, über einander lesbare Masken.
- Der Umgang über ein gemeinsames Äußeres erfordert die Möglichkeit zum Spielen. Spielen, das heißt: mich verhalten in einer Weise, die losgelöst ist von einer vermeintlichen Wirklichkeit meiner Situation, meiner Persönlichkeit. Spiel und Authentizität widersprechen sich. Um zu spielen, braucht man einen Raum, der ohne die Frage nach der Persönlichkeit auskommt. Sennett sieht den aufgelöst. Ich denke mir: Gott sei Dank haben wir heute Krautchan!
- Kapitel 12: "Charisma Becomes Uncivilized":
- Zivilisiertes Charisma: die göttliche Gnade in der Stimme des Priesters, in den Predigten Savonarolas. Gar nicht mystisch, glaubt man nur an Gott und die Transzendenz. Schafft ein Draußen, an dem sich der Zuhörer durch Handlung beteiligen kann, statt das Gewicht eines persönlichen Drinnen auszustrahlen, vor dem er nur staunend zu erstarren weiß. Unzivilisiertes Charisma: Die Immanenz der Persönlichkeit, das Innere, das sich der Zuhörerschaft als Intimität aufdrängt.
- Kleine Abrechnung mit den Charisma-Begriffen von Max Weber und Sigmund Freud. Er widerspricht Weber: Der Charismatiker ist nicht nur ein Akteur des Ausnahmezustands, sondern gerade auch der Befriedung. Und Freud: Nette Theorie, aber zuviel Psychoanalyse-Quatsch in der Begründung. (Wozu er die beiden genau einbringt, ist mir unklar, es macht seinen eigenen Charisma-Begriff auch nicht groß begreiflicher.)
- Das Ressentiment der Mittelschicht: Nicht die Hierarchie ist falsch, sondern der Charakter derer, die an ihrer Spitze stehen. Ein Politiker surft auf dem Ressentiment, wenn er nicht konkret etwas verändert, sondern einfach immer nur sehr glaubwürdig seine Verachtung gegenüber den Falschen, denen-da-oben, den Ausländern o.ä. zu Markte trägt.
- Nixon als Paradebeispiel des Politikers, der steht und fällt an der Glaubwürdigkeit seiner Motivation statt seiner Politik. Seine berühmte Checkers speech. Dass er bei Watergate letztlich nicht über das Aushören der Demokraten stolperte, sondern sein persönliches Verhalten in der Affäre.
- Das Fernsehen ist das perfekte Medium zur Intimisierung der Politik: Die Masse schaut passiv, Zwischenruf-unfähig -- und voneinander isoliert -- einem Politiker zu, der in ihr Wohnzimmer emotionalisiert. Sennett beeilt sich, anzumerken, nicht die neue Technologie sei das Problem, sondern ihre Vervollkommnung eines Öffentlichkeitsmodus aus dem 19. Jahrhundert. (Was würde Sennett wohl zur Twitter-Öffentlichkeit sagen?)
- Das Star-System saugt alle Gelder und Zuschauer auf eine kleine, individualisierte Spitze der Performer-Masse, der Rest geht leer aus. Das gilt für Pianisten wie für die Politik.
- Kapitel 13: "Community Becomes Uncivilized":
- Beliebt: die Verwechslung marxscher Entfremdung der Arbeit mit Entfremdung im menschlichen Miteinander: Dass ich keine persönliche Beziehung mehr zu den Menschen um mich herum habe, ist wohl eines der Übel des Kapitalismus! Gegenentwurf: Gemeinschaft, persönliches Miteinander gegen das Impersonale der Massen-Welt. Das lässt sich aber nur im kleinen Rahmen, mit abgestecktem Gartenzaun verwirklichen; Nischengesellschaft lässt das Große Ganze in Ruhe und stürzt leicht in destructive gemeinschaft.
- Stadtplanung, die den Raum nach Funktionen sortiert, nimmt ihm seine soziale Komplexität und Lebhaftigkeit. Das soziale Defizit, das diese monotonen Nachbarschaften empfinden, verstärkt nur ihren Trieb zur Bildung von community und gemeinschaft über egal welche Formen und Aufreger. Das Monster "Persönlichkeit" rät, sich gegen das Impersonale der Rest-Stadt zu definieren, eine Gemeinschafts-Persönlichkeit gegen sie zu entwickeln und mit allen Mitteln zu verteidigen, von Korruption rein zu halten.
- Der Stadtplanungs-Disput in Forest Hills -- http://en.wikipedia.org/wiki/Forest_Hills_Co-op_Houses -- als Beispiel für eine Eskalation der destructive gemeinschaft von einer Verhandlungs- und Strategie-fähigen Kampagne einer Nachbarschaft gegen die Stadt hin zur rein identitätspolitischen Wutbürgerei, die sich am Ende nur noch über all or nothing und die eigene Würde über die eigene Wut und Kompromisslosigkeit zu definieren wusste. Außerdem ein Paradebeispiel für NIMBY.
- NIMBY-Wutbürger-Nachbarschaften verheddern sich zu sehr in ihrer Beschäftigung mit sich selbst, um dem System je zur Bedrohung zu werden. Ihnen selbst wird bald ihr Gartenzaun und der Streit über den korrekten Gartenzwerg wichtiger als jedes Eingreifen in politische Prozesse des Großen Ganzen, das eh verglichen mit ihnen falsch und korrupt und damit verhandlungsunfähig ist. So zersplittert die Stadt weiter ins Nebeneinander von communities, statt eine soziale Komplexität zu bilden.
- Die Beschäftigung mit, Offenheit dem Anderen, Fremden, so verhasst den Gemeinschafts-Persönlichkeiten, ist für Sennett Bedingung des zivilisierten Menschen. Nur wer hiervon sein Weltbild aufschütteln lässt, wird je seine Perspektive ändern, sich Alternativen zum Ist-Zustand vorstellen und als Ziel setzen können.
- Bürgertum, Gemeinschaft und Kult der Persönlichkeit fürchten die Masse. In ihr regieren nicht die persönlichen Beziehungen (die Menschen in ihr sind einander größtenteils fremd), sondern eine schaurig nicht-personale Psychologie; Individuum und Person verlieren sich in ihr, werden von ihr aufgelöst; sie gilt als roh, irrational, gefährlich. (Muss der Demagoge, der sie steuern will, sie nicht mit der Gewalt einer übermenschlichen Persönlichkeit zähmen?)
- Kapitel 14: "The Actor Deprived of His Art":
- Das Kind lernt im Spiel die Selbst-Distanz: eine Freude, abstrahiert von der unmittelbaren Bedürfnis-Erfüllung des Ichs, ein Aufgehen in der Befriedigung eines übergeordneten/mit den anderen Spielern gemeinsamen Regelwerks. Hier entwickeln sie das "dritte Ohr": die Fähigkeit, sich aus Sicht eines Anderen, etwa eines Systems, zu betrachten, und so den eigenen Ausdruck in seiner äußerlichen Wirkung zu bewerten.
- Die Selbst-Distanz erreichen die Kinder u.a. Abtrennung der Spiel-Welt von den Abhängigkeiten der Rest-Welt, indem z.B. die Anfangs-Voraussetzungen naturgegebene Ungleichheiten der Spieler ausgleichen (durch "Handicaps" für stärkere Spieler) und der Verlauf des Spiels ganz durch ein ihm eigenes Regelwerk determiniert wird, das als einziges Naturgesetz gilt (deshalb ist Mogeln so furchtbar, es hebt die Raumtrennung auf) und zugleich zur Steigerung des Spiels immer weiter überarbeitet werden kann.
- Die Kinder lernen so einerseits, ihre Ausdrucks-Energie in Konventionen zu investieren, ob deren Wirkung innerhalb eines Spiel-Systems; also, über Konventionen als Mittel der Sozialität und des eigenen Vorankommens zu verfügen, das Herangehen ans Andere als Funktion dieser Konventionen zu begreifen statt nur aus der eigenen Subjektive; und zugleich begreifen sie Konventionen als künstlich, verhandelbar, in-Frage-stellbar; lernen also, vom Ist-Zustand zu Wie-könnte-es-noch-sein zu abstrahieren.
- 18./19. Jahrhundert haben diesen Spiel-Modus auf die Kindheit isoliert, als sie Kinder- und Erwachsenen-Welt für eine neue Ideologie des Individuums, der Persönlichkeit voneinander trennten. (Vgl. Aries / "Geschichte der Kindheit".) Erwachsensein bedeutet nun die Aufgabe der Spiele als Handlungsraum, der vom "Ernst des Lebens" getrennt ist: Das bürgerliche Subjekt muss sich mehr auf sein eigenes Vorankommen konzentrieren statt auf die Satisfaktion ihm äußerer Systeme.
- Narzissmus, das heißt: Unfähigkeit zur Selbst-Distanz und zum "dritten Ohr". Der Narzisst löst die Grenze zwischen Ich und Welt auf, zuungunsten der Welt, aber damit auch zuungunsten seiner selbst; indem er sich gerade nicht mehr in eine ihm äußere Perspektive denken kann, kann er auch den eigenen Ausdruck nicht mehr nach ihm äußeren Regeln gewichten -- und so lernen, ihn zum eigenen Nutzen taktisch zu gestalten. (Außerdem viel Psychologen-Gebrabbel über narzisstische Gründe für Gefühle innerer Leere.)
- Der Narzissmus aber ist kein individueller Knacks, sondern Kultur der Moderne. Der moderne, flexible Mensch wird zum Narzissmus konditioniert, z.B. durch eine Firmenkultur, die Angestellte nicht nach ihren Handlungen (und damit etwas in ein äußeres Regelsystem Kalkulierbares) anspricht, sondern nach ihrer Persönlichkeit, ihrem "Potential", das sich immer wieder in der Welt der Firma beweisen, testen muss, nie objektivierend (und dadurch kalkulierbar) festgehalten werden kann.
- Der Narzissmus ist die neue Protestantische Ethik des Kapitalismus. Wie die Prädestinationslehre lehrt er totale Ich-Bezüglichkeit im Nachdenken über den eigenen Erfolg, die Verachtung gegenüber (und Unfähigkeit zu) allen Gratifikationen durch die/in Interaktion mit der Außenwelt. Wer ihn verinnerlicht, begreift seinen Erfolg nur noch als Funktion einer Mystik der eigenen Persönlichkeit, nicht mehr des Klassenkampfes oder der Schuld Anderer. Der Narzissmus befriedet und isoliert den Arbeiter.
- Conclusio: "The Tyrannies of Intimacy":
- Tyrannei der Intimität, das heißt: eine psychologische Kategorie, die des Intimen und Persönlichen, erhebt sich zum Maßstab, also Souverän, des gesamten menschlichen, zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Lebens. Persönlichkeit und ihre Wärme sind das Einzige, wonach wir bewerten, was wir noch suchen. Und so gehen wir schulterzuckend an allen Zusammenhängen und Fragen vorbei, die sich nicht in diese Kategorie verpacken lassen, und verzichten auf viele Anlagen und Möglichkeiten.
- Wie kam es dazu? Mit Ende des Ancien Regime begannen wir, uns nicht länger als Äußerungen einer über uns hinaus verweisenden Natur zu sehen, sondern als selbsterzeugte Persönlichkeiten, die sich in der gesamtem Breite unseres Seins und Handelns ausdrücken, ohne Achtung z.B. für eine Grenze zwischen Privat und Öffentlich. Das führte u.a. dazu, dass wir der Öffentlichkeit Aufgaben des Persönlichen aufhalsten, die sie um ihre Möglichkeiten impersonalen Spielens und Zivilisierens beraubten.
- "Persönlichkeit" belastet aber auch alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen (und gerade auch die zu sich selbst) mit ihren Forderungen nach Eigen-Autorenschaft des Selbst (das doch eigentlich vom Kontext geformt wird) und dessen Verlässlichkeit (dabei gibt es gar kein in sich geschlossenes und dadurch stabiles Selbst) und Auskundschaftung (die mangels greifbarem Selbst nie zu einem Ergebnis kommt, ständige Unsicherheit, Selbstzweifel beschert).
- Der Wert der Zivilisiertheit, der Distanz zueinander und zum Selbst, liegt nicht (wie die Konservativen sagen) im Vergraben all der im Menschen angelegten Hässlichkeiten, sondern in der befreienden Gleichgültigkeit gegenüber diesem persönlichen Kern hinterm Antlitz der Sozialisations-Partner; wenn wir das Innere nicht zum Maßstab des Sozialisierens machen, können wir freier, ergiebiger, spielfreudiger, abstraktionsfähiger sozialisieren.
- (So gesehen ist Sennett gar kein Apologet der Privatsphäre; er beschreibt einen Wandel, der auch eine bestimmte Periode der Trennung zwischen Privat und Öffentlich aufhebt, aber die Tragödie liegt weniger in dieser Aufhebung als der zerstörerischen Kraft dieses Wandels für jeden Bereich, den er einnimmt; und die Aufhebung der Absperrung zwischen Privat und Öffentlich bedeutet nur, dass dieser Wandel ein größeres Schlachtfeld zu verunstalten hat. Er verteidigt keinen Eigenwert des Privaten.)
- Die Tyrannei der Intimität drängt uns zu Lokalismus und Nabelschau, während die relevanten politischen Fragen, d.h. die eigentlichen Wirkungs-Faktoren, doch immer mehr ins Große Weite greifen. Die Globalisierung kommt, und ihr glaubt, ihr könntet euch gegen sie stemmen, indem ihr euch in eurem Schrebergarten einschließt.
- Die Tyrannei der Intimität verengt unserem Blick Wirkungszusammenhänge und Hebel auf Persönlichkeits-Gestaltung und intime Beziehungen; politisches Handeln nach so abstrakten Kategorien wie Klasse oder Zivilisation wird so unmöglich. Wir glauben, an unserem Wohl nur noch arbeiten zu können, indem wir unsere Persönlichkeit entwickeln oder enge persönliche Beziehungen pflegen.