Buch "Dumm 3.0. Wie Twitter, Blogs und Networks unsere Kultur bedrohen" / Markus Reiter, 2010.
Lektüre-Notizen:
- "Vorwort":
- Valide Liste diverser unter Internet-"Apolegeten" verbreiteten Thesen über die Chancen, die der MedienWandel aufwerfe. Strohmännisch wirkt die Beschwörung von religiösem Furor und Fanatismus. Mag sein, dass sich für all das Beispiele finden lassen, aber wo genau verortet und wie groß die Gruppe ist, gegen die er da argumentieren will, bleibt unklar.
- Nimmt gegenüber Internet-apologetischen eindeutig konservative Positionen ein – es gilt, das Etablierte an Verhaltens-Normen, Kultur, DiskursArten, GeschäftsModellen zu beschützen. Die Gegner scheinen irgendwo bei den Bloggern und Anonymen zu sitzen. Reiter sieht sich dagegen ganz bei der Kantschen Aufklärung.
- "Warum Kritik am Internet nötig ist":
- Sokrates' SchriftKritik wird verteidigt gegen ihre Instrumentalisierung als Beispiel für Absurdität von KulturPessimismus. Schließlich würden wir auch heute noch nicht nur über Schrift, sondern auch das gesprochene Wort und das Gedächtnis lernen. (Würde einwenden: Sokrates hatte mehr recht, als R. ihm zuerkennt. KulturTechniken des Erinnerns wurden von der Schrift obsoletiert/verdrängt.)
- Merkwürdiges NonSequitur: Ein großer Teil der Leute, die mit Bloggen oder Twittern anfangen, verlieren schnell wieder die Lust. Deshalb lässt sich hiermit "stete[r] und verlässliche[r] Journalismus" nicht ersetzen. (Vielleicht will R. implizieren, dass die, die weitermachen, zu wenige wären, um die Zahl der traditionellen Journalisten zu ersetzen?)
- R. kabbelt sich mit Fonsi, weil der sich über traditionelle Journalisten lustig macht. Ach, so leicht getrollt.
- Traditions-Presse stirbt, und das ist schlecht (weil, wichtig für Demokratie, Kultur, Gesellschaft usw.), da sollte man nicht das Kostenlos-Internet bejubeln, sondern lieber überlegen, wie man ihre Geschäftsmodelle rüberretten kann. Geistige Arbeit solle nicht schrumpfen auf die, die "irgendjemand aus irgendeinem unbekannten Grund sponsort" (wozu R. Bezahlung-durch-Leser wohl nicht zählt).
- "Das Internet – 'ein riesiger Misthaufen'":
- Das alte Wissen (Enzyklopädien, Printpresse) war stabil und verlässlich. Das neue (Wikipedia und Blogs) ist volatil und unverlässlich. Der arme Konsument tritt mit den Erwartungen an die Stabilität und Verlässlichkeit des alten Wissens an das neue Wissen heran und nimmt deshalb Unverlässliches für bare Münze.
- Lustigerweise führt R. konkrete Beispiele vor allem für die Unzuverlässligkeit des alten Wissens auf (oft direkt neben der Behauptung, man wisse ja, dass man sich aufs alte Wissen verlassen könne). Die Unzuverlässigkeit des neuen Wissens tritt vor allem als spekulative Überspitzung auf, was so Schlimmes passieren könnte, wenn sich dieser oder jener Trend fortwalze.
- Der InformationOverload des Internets überfordert uns. Wir brauchen Filter, wir brauchen Gatekeeper, um uns davor zu schützen, um für uns verlässlich vorauszuwählen. Aber wenn die traditionellen Geschäftsmodelle fallen, fallen mit ihnen auch die erschwinglichen Filter (=TraditionsPresse). Filter werden zur superteuren SpezialLeistung für eine kleine InformationsElite, der Rest steht dumm da.
- Die Bildung widmet sich nicht den neuen Herausforderungen, vermittelt keine erneuerte MedienKompetenz, sondern degeneriert selbst, "wird kurzatmiger".
- Viel Argumentation über R.s persönliche Überfordertheit mit den neuen Medien.
- Massig Bezugnahme auf irgendwelche Studien ohne konkrete Nennung, LiteraturAngabe oder Link. (Im Abschnitt "Literatur" am Ende des Buchs wird für "[d]ie unzähligen Online-Quellen" auf eine delicious-LinkSammlung verwiesen, ohne direkte URL – man solle halt auf "www.delicious.com" gehen und nach dem Stichwort "Klardeutsch" suchen.)
- "Drei Thesen zu den Folgen der dritten Medienrevolution":
- Zusammenfassung des Bisherigen: Klage übers Ende des gesicherten, stabilen Wissens; Klage über die Geschwindigkeit des InformationsAustauschs (vgl. "The Victorian Internet" zu Klagen über die Telegrafie); ohne Gatekeeper werden wir alle überfordert sein bis auf eine kleine Elite derer, die superteure PrivatGatekeeper bezahlen können.
- An den USA sieht man bereits, wie eine geschändete MedienLandschaft aussieht, was für eine Tragödie sie für die Demokratie darstellt!
- "Die drei Medienrevolutionen":
- Gut, hier liefert R. immerhin die stärkere HirnGedächtnisKultur, über deren Gefährdung Sokrates klagte, nach. Eine für die Kürze alles in allem recht hübsche MedienGeschichte, leider gelegentlich unterbrochen durch arbiträre Assoziationen mit den Übeln des NetzZeitalters. Die dritte MedienRevolution, das Internet, wird nur noch negativ definiert: was sie zu zerstören drohe.
- "Verteidigung des Journalismus":
- Demokratie braucht QualitätsJournalismus, und QualitätsJournalismus können nur bezahlte QualitätsJournalisten, nicht die große Masse. Die meint nur rum, kann aber keine überprüften Fakten liefern, keine verlässliche Auswahl des Wichtigen aus dem InformationOverload.
- Schon wieder kommen die Beispiele für die Gefahren eines MinderQualitätsJournalismus nur aus der Welt der traditionellen Medien. Im Falle US-Kriegs-Propaganda gesteht R. das sogar selbst ein. (Weiterer Fall: ChronologieKritiker Heribert Illig. R. beklagt, dass der bei den AmazonRezensionen im Durchschnitt okeh wegkommt. Aber hey, außerdem findet der Ullstein-Verlag ihn druckwürdig!)
- Verteidigung sogar des Mediums Papier: Offenbar regt dessen Haptik eher einen Willen an, Geld zu bezahlen, als das immaterielle Flackern des Internets. Und dass Leute für den PresseKonsum bezahlen, das ist schließlich notwendig (weil, BezahlPresse-Demokratie und so).
- Kleiner Bericht über Jugendliche als "digital natives". Sie trennen nicht mehr zwischen online und offline, sie lesen wenn überhaupt PrintZeitungen nur oberflächlich (schwören aber für Romane auf die BuchForm), sind permanent in mehreren Social Networks gleichzeitig aktiv, trauen Blogs nicht als Info-Quelle, aber (so halbwegs) der Wikipedia.
- R. arbeitet die Wikipedia-als-Quelle-Debatte undifferenziert ab – unterschlägt, dass der Wackeligkeit der ArtikelTexte der Druck ihrer ausgiebigen Verfußnotung gegenübersteht, idealerweise über direkt überprüfbare Links.
- "Blogs und Journalismus":
- R. zitiert gerne Fonsi als Beispiel für den Journalisten-bashenden Blogger (easy!). Oder anonyme Kommentatoren.
- Hat man nur die Blogger, hat man nur das Brodeln spontaner Leidenschaften, unstrukturiert, undiszipliniert (das Scheitern algorithmischer StrukturierungsVersuche wird an Rivva belegt). Es braucht die traditionelle QualitätsPresse für Systematisierung, Sorgfalt, langen Atem.
- Enge Verzahnung von (Selbst-)Zensur und der traditionellen Presse. Verteidigung derselben: Das NichtReportieren von Suiziden und anderen gefährlichen Informationen. Beispiel des Islamisten-Entführten David Rohde, zu dessen Schutz auch durch Absprache mit Jimmy Wales sein Wikipedia-Artikel kontrolliert werden sollte. Die Community wehrte sich aber laut dagegen.
- Auswahl, Hierarchisierung von Informationen ist gut, fördert Kürzung der Artikel aufs Wichtigste und Beste und macht sie einem zeitknappen Massenpublikum zugänglich. Man schaue sich nur den Unsinn an, den das Netz dagegen hochspült!
- Traditionelle Journalisten leisten den Drahtseilakt zwischen der Erfüllung der irrationalen Bedürfnisse des PrimatenGehirns und der Einhaltung eines Demokratie-nötigen PresseKodex. Blogger dagegen verfallen zu leicht in AufmerksamkeitsGeheische oder werden nur von drei bis vier Leuten gelesen.
- Blogger sind Privilegierte, jedenfalls diejenigen von ihnen, die angehört werden. Also keine zunehmende Repräsentanz der Marginalisierten. Wer heute mit einem Blog gehört wird, wäre früher auch schon als Angehörige der Elite angehört worden.
- Ja, auch die TraditionsPresse hat ihre Schwarzen Schafe. Aber als Abweichler von R.s Ideal beeinträchtigen die sein Plädoyer für selbiges nicht.
- Ohne das Fundament traditioneller Presse bloggen Blogger vor allem Katzencontent, Bauchnabelflusen, ihren eigenen InnenHof (NetzPolitik), nicht so sehr das gesellschaftlich Relevante. Die wenigen guten Blogger verdienen ihr Geld im traditionellen Journalismus, schreiben eigentlich für die FAZ oder das Handelsblatt o.ä.
- Google-Bashing im Geiste der LeistungsSchutzRecht-Debatte. Würde Google die Presse boykottieren, würde es als AnlaufStelle für relevantes Wissen verdursten bzw. nur noch als ProduktSuchMaschine taugen.
- Journalismus-FinanzierungsModelle: Werbung bringt zu wenig ein, für PaidContent müssten alle mitspielen (sonst Wechsel zur billigeren Konkurrenz), StiftungsFinanzierung macht Presse abhängig von der Philanthropie einiger Milliardäre, "Bürgerbezahlmodelle" (Spenden) fördern GefälligkeitsJournalismus, staatliche Subventionen werfen Frage aus, wer sie verdient; Kulturflatrate siehe später.
- Laut R. die Kriterien, mit denen ein NetzNutzer die Vertrauenswürdigkeit eines Textes prüft: Orthographie, Seriosität des Tonfall, Eindruck den der Autor macht. (Kein Wort etwa über Verlinkung von Quellen.)
- Fortwährende Wiederholung des Mantras, dass die traditionelle QualitätsPresse notwendige Bedingung der Demokratie sei. Schon die Weimarer Republik ging ja unter wegen einer ungezügelten Hetzpresse. Friedrich Ebert wurde verleumdet und zog sich in Folge eine tödliche Blinddarm-Entzündung zu. Es ist gut und richtig, dass es Gesetze und NichtVerbreitungsSitten gegen unflätige Äußerungen gibt.
- "Verteidigung der gesellschaftlichen Debatte":
- Max Weber – GesinnungsEthik vs. VerantwortungsEthik. Erstere bewertet nach der Intention, letztere nach den Folgen. Nach der GesinnungsEthik macht die Intention eine Handlung korrekt, auch wenn sie furchtbare Folgen nach sich zieht – die Schuld für letztere liegt dann bei der Welt, den Anderen usw. Für R. dominiert im Netz natürlich die GesinnungsEthik.
- Anklage der piratischen Technokratie. Das Netz sei nur offen für richtige statt falschen Lösungen, nicht für politische Kompromisse. Im Netz gibt es keinen Dialog der Argumente, nur das fortwährende Pochen auf die eigene Position, bestärkt durch FilterBlasen. In der idealen demokratischen Öffentlichkeit dagegen unterhalten sich die Gegner miteinander und verhandeln.
- Korrekte Demokratie ist begrenzte VolksHerrschaft, gekennzeichnet von Mäßigung, gelenkt von Vernunft, wehrt sich gegen das Krakeelen. Im Netz dagegen: Rüpelei allerorten, eierschaukelnde BlogKommentarKetten. R. legt sehr viel wert aufs Zitieren von SchimpfKommentaren, um zu demonstrieren, wie schlimm der UmgangsTon im Netz ist.
- Für R. trägt zum Problem bei, dass das Private und das Öffentliche im Netz "durcheinandergeraten", und die Anonymität der Kommentatoren. Gegen letztere müsste, sollte der Staat Handhaben haben.
- Nochmal kleinlautes Eingeständnis, ja, den Boulevard, die Hetzerei, die TrivialitätenPresse, das gibt es auch in Print. Aber das akzeptiert er nicht als Entschuldigung fürs Netz.
- "Verteidigung der Bildung":
- Kurze, nicht vertiefte Andeutungen neurologisch-psychologischer Argumente über SteinzeitMenschenGehirne und hormonelle BelohnungsSysteme, die im Kontakt mit der dritten Medienrevolution ungesund durcheinander geraten.
- R. kann sich nicht vorstellen, wie Leute sich über den Fluss tausender Tweets einen Überblick verschaffen, für sich Relevantes rausfiltern sollen. Die können da doch nur verdummen und Unverständnis für tiefere Zusammenhänge entwickeln. Dasselbe gilt für Wikipedia-Artikel: Die sind viel zu voluminös, im Vergleich zum Brockhaus, als dass man aus ihnen schlau werden könnte!
- Dann die Abgehängten, die HauptSchüler, die Analphabeten (R. attestiert dem Netz, es lasse sich auch passabel ohne Schriftkenntnis nutzen) – die sind doch medienkompetenztechnisch verloren im Netz, verfallen ganz den blinkenden Bildern.
- Klage über die BildungsPolitik, die immer noch auf WissensVermittlung setzt statt darauf, die Bewertung und Filterung von Informationen zu lehren. Unfähigkeit in diesen Bereichen attestiert R. auch manchen Journalisten.
- "Verteidigiung des Urheberrechts":
- Zur UrheberrechtsFrage macht R. es sich einfach. Er listet lauter Argumente pro freier Kopierbarkeit von Inhalten auf und erklärt sie ohne weitere Dekonstruktion für absurd; wohl in der Annahme, der Leser teile seine Irritation.
- Nicht die Idee des Geistigen Eigentums bedarf der Rechtfertigung, sondern ihre NichtAkzeptanz – nur neurologisch zu rechtfertigen, als KurzSchlüsse im PrimatenHirn.
- Die Kollektivierung der Kultur ziehe nicht, weil das Schulter-der-Giganten-Argument vollends nur für Ideen gelte; Werke liegen nach R. in einer anderen Dimension, sind eben doch größtenteils eigenständige Erzeugnisse individueller Autoren, und für den kulturellen Dialog genügt das ZitatRecht.
- Kultur, das ist, was die KulturIndustrie macht, die professionellen KreativArbeiten, sie bilden "das Rückgrat unserer Kultur".
- GeschäftsModelle über bezahlten Support für Software statt den Verkauf von Kopien kanzelt R. ab damit ab, dass hier überproportional "der faule Programmierer, der fremder Leute Programme wartet", profitiere, offenbar in totaler Unkenntnis der Mühen, die es macht, fremder Leute Code zu warten.
- "Wie wird das alles enden? Sieben Trens und drei Lösungsvorschläge":
- Wenn Zeitungen auf digital wechseln und ihre Redaktionen zusammenlegen, ist das vielleicht gar nicht so schlecht: weniger abgeholzte Bäume, und Potential für größere Redaktionen und damit den Erhalt von Spezialisierung. Aber KaputtSparen ist nicht!
- Die InfoElite entsteht und wird das Geschehen bestimmen, "Migrantenkinder mit und ohne Hauptschulabschluss" dagegen bleiben abgehängt. Wo Informiertheit verstärkt über SozialeNetzwerke läuft, sind nur die mit dem richtigen Umfeld informiert, der Rest kriegt den von Dummheit-of-the-Crowds und Spam geprägten Müll vorgesetzt.
- Objektive Wahrheit löst sich auf durch Vielheit der Stimmen und postmoderne Beliebigkeitund Heimeligkeit in den diversen FilterBlasen, die je ihre eigene Welt projizieren.
- Die Privatsphäre verschwindet und mit ihr der Gatekeeper der minderwertigen Meinungen, die früher ins Hinterzimmer gesperrt wurden.
- Ohne Urheberrecht verschwindet die Kultur unter bzw. schrumpft zur Kultur der bezahlkräftigen Eliten.
- Abbremsbar wäre das alles durch Sicherung von BezahlModellen, Urheberrecht und einer Reform des BildungsSystems weg vom FaktenWissen hin zur MedienKompetenz.
- "Ein Wort zum Schluss":
- Plädoyer gegen maschinenlesbare Inhalte.
- "Glossar":
- Bei seiner Definition von "Open Source" tritt R. in so viele Problem-FettNäpfchen wie es nur geht. Fast schon bewundernswert, vielleicht absichtliche Trollage?