Buch von Karl Heinz Roth, Götz Aly, 1984/2000: "Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus"
Lektüre-Notizen:
- "Vorwort zur Neuausgabe" (2000):
- Eilig zum Volkszählungs-Diskurs 1983 verfasst. Schützen-Hilfe zur Rationalisierung des Rechts auf Informationelle Selbstbestimmung.
- Nazis interessieren sich nicht für Statistik-Geheimnis und nutzen Volkszählung zum individuellen Identifizieren der Juden.
- Aber auch deindividualisierte Bevölkerungs-Statistik wird benutzt, um Bevölkerung in "Problemfelder" zwecks Kontrolle einzuteilen und kleinteilig zu diskriminieren. Soziale Salami-Taktik.
- "Einleitung" (1984):
- Interesse der Nazis, in den besetzten oder zu besetzenden Gebieten die Bevölkerung möglichst stark in getrennte Volksgruppen zu zerteilen, die voneinander isoliert und gegeneinander ausgespielt werden konnten. (Taktische Anerkennung der Völker als Mittel gegen breiten gesellschaftlichen Widerstand oder ehrlicher Ethnoismus?)
- Wo die Nazis ihre Daten-Sammlungen in Untaten verwandeln, tun sie das oft nicht in einem ungesetzlichen Missbrauch der Daten, sondern ganz Gesetzes-konform im Rahmen vorgesehener, vorgeschriebener Anwendungen. Die Autoren reiben sich aus dieser Ansicht heraus an einer Datenschützer-Logik, die sich vor allem auf Daten-"Missbrauchs"-Potentiale stürzt, wo doch die Unterdrückungs-Logik in das Abzählen und Erfassen und das bürokratische Prinzip selbst schon eingeschrieben sei.
- Statt Ideologie und Keule die bürokratische Erfassung der Bevölkerung als Kern-Funktion der nationalsozialistischen Greuel. Abzählen und Statistik als Verbrechen an der menschlichen Würde: Beschneidung und Angleichung des unendlichen Individuums auf kalte, verrechenbare Zahlen. Ausblendung und dadurch Drang zur Beseitigung aller Andersheiten als statistische Verunreinigungen. Zugleich durchs Sortieren, Ausdifferenzieren Aufhebung der universellen christlichen Gleichheit aller Menschen.
- "Wissenschaftliche Soldaten des neuen Reichs":
- Schwülstige Anbiederungs-Briefe der Statistiker ans neue Regime, die sich auf umfassende Erweiterung ihrer Aufgabenfelder freuen. Einige beispielhafte Karrieren zwischen schleim-potenter Einübung Partei-gefälliger Phrasen bis zum Asperger, der ob seiner Kompetenz von Himmler persönlich gefördert wird. Empfundene Goldrausch-Zeit einer Statistiker-Klasse, die sich als neue Zaubermeister-Elite sieht; wird am Ende aber von einer maschinisierten Bürokratie wegrationalisiert.
- Geschichte der Hollerith-Volkszählungen. Einträgliche Verdienstmöglichkeiten für die IBM-Tochter Dehomag im neuen Regime. Wie die Hollerith-Maschine das Zählen und Sortieren revolutioniert und so neue Effizienzen schafft im Einteilen der Menschen zum Beispiel nach Abnormalität. Computer-Technik erlaubt neue Größen-Ordnungen der detaillierten Erfassung großer Massen und macht so Angriffs-Punkte sichtbar, die vorher überkomplexes Chaos waren.
- Statistik, Verdatung, Verwissenschaftlichung fördern ein Denken in bevölkerungs- und biotechnischen Problemen / Lösungen, Groß-Projekten. Statistik ist nicht einfach nur Ziel-freies Interesse, sondern erfragt zum Beispiel Angriffspunkte für Geburtenförderung oder den potentesten Wehrpflichtigen-Jahrgang für einen kommenden Kriegs-Eintritt.
- Verwissenschaftlung leistet auch einem Anstrich der Objektivität der Maßnahmen Vorschub. Dass wir das Kind nach der Geburt in diesem und jenem vermessen, das entspringt doch rationaler, moderner, aufgeklärter Sorge, nicht einer bestimmten Weltanschauung! Individualisierung: Das Große Ganze ist neutral, abnorm ist der Einzelfall.
- Wie Deutschen die Volkszählung verkauft wird: Korrekte Angaben sind notwendig für Bewältigung der kommenden politischen Herausforderungen, formen die Entscheidungen des kommenden Jahrzehnts, Bürgerpflicht. Vertraulichkeit der Angaben im Zusatzbrief zur Abstammung (dient später der Selektion fürs KZ), wird nur im versiegelten Briefumschlag übermittelt, liest niemand unautorisiert. Kollegen-Nachkriegs-Lob für den Statistiker, der letzteres durchdrückte, foll Missbrauchs-Vermeidungs-Vorsorge.
- Soviel sei zur Bevölkerung erfasst / verzeichnet worden in den zwölf Jahren NS-Herrschaft wie sonst nie. (Frage mich nach mehr Vergleich. Erstmal: Wie sahen die Statistik-Trends in anderen Staaten aus, gar in ideologisch konkurrierenden / konträren Systemen? Weiß der Staat des Jahres 2011 wirklich weniger über sich als der Staat des Jahres 1939?)
- "Melden, erfassen, sortieren":
- Das borgesianisch anmutende, zur Zeit seines Vorschlags durch einen Privatmann schon längst nicht mehr zeitgemäße Konzept des "Deutschen Turms" als eines Gebäudes in Berlin, das ein Zentral-Verzeichnis aller deutschen Bürger seit dem 19. Jahrhundert geordnet nach Geburtsdatum enthalten sollte, Akte für Akte. Aber top die Idee, alles Wissen über die Bevölkerung auf eindeutige Datensätze zu jeder einzelnen Person runterzubrechen, die permanent (Ortswechsel, Todesfall) auf dem Laufenden gehalten werden.
- Zusammenführung diverser mal mehr, mal weniger loser Ansätze, ausdifferenziert nach Regionen und Aufgabenbereichen, in Sachen Meldepflicht, Arbeitslosen-Erfassung, polizeilichen Problemgruppen-Karteien usw. zu einer vollständigen Gesamt-Volks-Erfassung ohne Schlupflöcher / Widersprüche, die Ungemeldete oder Arbeitsdienst-Flüchtlinge ausnützen könnten. Doppelte Buchführung, Abgleich von Daten zwischen Institutionen, Herstellung von Eindeutigkeit; allen Unklarheiten bis zur Klärung nach-recherchieren.
- Die hohen produktiven Ambitionen von Arbeitsbuch und Volkskartei. Erfassung der Bevölkerung gerade auch runtergebrochen auf die beruflichen Qualifikationen, Schul-Abschlüsse, Sprachen-Kenntnisse, Gesundheit, KFZ-Führerschein, verbunden mit Infos über ihre Erreichbarkeit -- um jeden im Bedarfsfall sofort dorthin zu setzen, wo er anstehende Aufgaben am Besten erfüllen kann. Eile, bis zum Kriegs-Eintritt das Menschen- und Experten-Material vollständig steuerbar erfasst zu haben.
- Hohe Ambitionen treffen zuweilen auf unzureichende Umsetzbarkeit. Strenge Ansprüche an ständige Ausweis- oder zeitnahe Meldepflicht kollidieren mit mangelnder Disziplin in der Bevölkerung und später dem Kriegs-Chaos. Drakonischem Druck auf Außenseiter/Untermenschen (KZ) steht der Wille zur sanften Überredung der Eigenen, Deutschen entgegen: Entgegenkommen durch erhöhte Usability und gnädige Fristen, brought to you vom Erfinder des Slogans "die Polizei, dein Freund und Helfer".
- Viel Effizienz ihrer großen bürokratischen Projekte verdanken die Nazis dem Prinzip des Probelaufs auf kleinem Maßstab, entweder in bestimmter Region (nicht unbedingt nur in besetzten Gebieten, durchaus auch mal in einer deutschen Stadt wie z.B. Köln) oder bei bestimmten diskriminierten Personen-Gruppen.
- "Juden-Statistik":
- Unzufriedenheit mit der alten Volkszählung, erfasst nur "Glaubensjuden", wo doch gerade die versteckten "Rassejuden" das Problem sind. Aber wie identifizieren? Erfindung, Aufbau einer Identität, genealogischer Kriterien -- und Abgrasen aller nur denkbaren Akten- und Informations-Halden, aus denen sich das Jüdisch-Sein oder das Konvertieren vergangener Generationen herauslesen lassen könnte, und die ahnenkundliche Verknüpfung dieser Personen mit den heute lebenden.
- Auffällig die pragmatische Eingrenzung der Kriterien: Man guckt nach jüdischem Blut nur bis zu den Groß-Eltern, Hilfs-Erzählung: das massenhafte Konvertieren habe ja erst dann und dann im 19. Jahrhundert angefangen, Bastarde seien vernachlässigbar. Nützliche Verringerung des Such-Raums auf eine Tiefe, in der man noch eine gewisse verlässliche Daten-Dichte erwarten darf. Und um diese Enge dann immer stärkere informationstechnische Einschließung des sonderzubehandelnden Bevölkerungsteils.
- Kirchen helfen dabei gern in Auswertung ihrer Bücher und erhalten im Austausch wohlgeordnete Datensätze ihrer Schäfchen der Vergangenheit. Selbst Juden zählten sich schon lange vorher gerne selbst und strengten vor den Nazis so manchen Statistik-Vorstoß an, Gemeinden reichen auch jetzt ohne Aufhebens weiter. Stolzest aber die Niederländer. Deren Meister des Zählens haben nicht nur prä-Besetzung Vor-Arbeit geleistet, sondern assistieren den Nazis jetzt aktiv mit Expertise, Anregung, Erfahrung.
- Von der Statistik zur Personenkartei und Individual-Überwachung: in der Großzüzigkeit des nationalsozialistischen Daten-Vorrätig-Haltens ist der Schritt vom einen zum anderen und wieder zurück ein naheliegender, beide methodisch nicht getrennt. Die Autoren verknüpfen die Erfassung der Wanderjuden mit der Idee, statt eines bloßen statistischen Schnappschusses des Jetzt auch Veränderungs-, Entwicklungs-Linien von Menschen aufzuzeichnen und auszuwerten.
- Bevölkerungs-Abklopfen zur Festnagelung von Menschen aufs Rassenjudentum gegen deren Selbstverständnis oder Auskunftswillen kriminalistisch. Eben nicht nur der Glaubensjude, jeder Deutsche muss erfasst und überprüft werden. Der Arier-Nachweis muss den Abgleich mit so vielen Stellen als möglich bestehen. Juden müssen über-deutlich sichtbar werden (Namens-Zusatz, Stern). Niederländische Experten preschen mit Fälschungs- und Manipulations-sicheren biometrischen Super-Ausweisen mit Wasserzeichen vor.
- Da ist kein Hass oder Triumph, nur Zufriedenheit über die Erledigung der Zahlen, in den Planungen oder Protokollen der Erledigung unerwünschter Überschüsse von Bevölkerung via Unter-Ernährung oder "Sonderbehandlung". Soundsoviele Millionen Juden müssen weg, und wir sehen Madagaskar für sie vor, das wäre, wir haben es durchgerechnet, eine tragbare Lösung. Aber, oh, Madagaskar fällt gerade aus den und den politischen/logistischen Gründen weg, na dann halt über "Absterbeprozess".
- Die Anekdote von Eichmanns Antwort kurz vor seiner Hinrichtung auf die Frage, was die Juden zum Überleben hätten tun müssen: verschwinden, sich unsichtbar machen, bevor sie zentral erfasst wurden. Dann wäre man in ihrer Verfolgung viel hilfloser gewesen.
- "Der Wert des Menschen":
- Versuch, aus Euthanasie-Programm und Verrechnen von Behinderten-Kosten mit Behinderten-Erträgen die Menschen-Verachtung, Mord-Freude der Statistik herzuleiten. (Allerdings lässt sich aus den angeführten Beispiel-Texten genausogut die Menschen-Verachtung, Mord-Freude des Werts "Arbeit" oder "Geld" herleiten. Die Insassen der Heime werden in den Argumenten ganz auf Kosten und Arbeits-Leistung reduziert und nach dieser Arithmetik ins Ableben befördert.)
- "Siegfried Koller":
- Wie Biologie, Vererbungslehre, Psychiatrie und Kriminalistik von allzu euphorischer Statistik und Wahrscheinlichkeits-Rechnung solange zu Brei geschlagen werden, bis sie sich auf niedrigem argumentativen Niveau vermischen zu Thesen der Erblichkeit von Asozialität und Bolschewismus in nicht mal nur gerader Linie, sondern als Rumoren im Verwandtschafts-Körper, das die Sterilisation auch gesunder Sippschafts-Teile und überhaupt einen biologischen Ausmerzungs-Krieg gegen ganze Sozial-Schichten einfordert.
- Je abstruser die biologistische These des Statistikers, desto breiter legt er seine Studie an, desto mehr will er erfassen, damit er sich schon irgendwas Passendes zusammenkorrelieren kann. Stirnrunzeln zuweilen selbst im Nazi-Establishment. Der Ernst des Krieges macht den intellektuell wagemutigeren Volkskörper-Ingenieurs-Projekten bald einen Strich durch die Rechnung, aber nur, nachdem bereits Zahllose sterilisiert, abgetrieben, zwangsgeschieden sind.
- Einer der führenden Köpfe der Bewegung, Koller, wird nach einigen Jahren SBZ-Lager zum maßgeblichen Kopf hinter der bundesrepublikanischen Volkszählung und versucht sich hier ebenso an biologistischer Statistik wie auch bei Klärung der Überbevölkerung der Dritten Welt. Politischer Widerstand stoppt in den 60ern aber seine Ambitionen. (Für die Autoren sicher Beweis der üblen Genetik der BRD-Zensus-Kultur, für mich eher einer für den Erfolg Offener Gesellschaften darin, Faschismen die Zähne zu ziehen.)
- "Von der Volkskartei zur Reichspersonalnummer":
- Vorbei die Zeit der lustigen statistischen Akademiker-Spielchen, im Krieg gewinnt das eher industriell ausgerichtete Maschinelle Berichtswesen an Bedeutung. Hier interessiert man sich weniger für Wahrscheinlichkeits-Rechnung als für totale Erfassung und Logistik aller Ressourcen, seien es nun Maschinen-Teile oder eben später auch Menschen, deren Verwertbarkeit man hier eher mechanisch-dumm, aber dafür effektiv sortiert.
- Logistiker, die sie sind, begeistern sie sich wieder für die Idee der einheitlichen, eindeutigen Durchnumerierung des Menschen-Materials. Jeder habe eine eindeutige Nummer, zusammengesetzt aus Faktoren wie Geschlecht, Geburtsdatum, Geburtsort usw., leicht maschinell sortierbar und auf ein Zentralregister verweisend, wo man zu jeder Nummer eine Person findet und zu jeder Person (als: Name, dort dann und dann geboren) die Nummer. Ein Jahrzehnt Nazis reichte nicht, solche Zentralisierung durchzusetzen.
- Reichspersonalnummer gewinnt Aufwind im Rahmen verzweifelter Versuche, im ansteigenden Chaos des sich wendenden Krieges durch immer kleinteiligere, obsessivere Erfassung von allem aus schrumpfenden Ressourcen mehr und mehr rauszuholen, noch jeden Bub oder Greis und jede Oma zu mobilisieren und aus den Betrieben, wo Zwangs-Arbeiter und verpflichtete Hausfrauen inzwischen gleich unmotiviert werkeln, noch jede verbleibende zusätzliche Schraube, Arbeits-Sekunde, Verweigerung rauszuquetschen.
- Immer ambitioniertere Projekte zur besseren Kontrolle durch tiefere Erfassung führen aber zu wenig mehr als paar eng eingegrenzten Probe-Läufen, wo sie auch schon an informationstechnische Grenzen stoßen, sowohl versagender Tabellier-Maschinen-Nachschübe als auch der Ferne Konrad-Zuse'scher IT-Avantgarde. Ein Volk, schon halb zerbombt / untergetaucht / verflüchtet, in der nötigen Vollständigkeit zu erfassen in diesem Chaos? Eine Illusion. Aber Hitler persönlich setzt sich fürs Bemühen bis zum Ende ein.
- Nach dieser Darstellung gewagte Entschuldigungs-These: Dass bis zuletzt an der schrumpfenden Front es so wenig Desertiererei, Überläuferei, Aufstand, Bürgerkrieg, Abspaltung gegen das Regime gegeben habe, müsse gelegen haben an der engen bürokratischen Überwachung / Kontrolle, die die zentrale Erfassung bis zuletzt bis an die Reichsgrenzen ausgeübt habe.
- "Methoden des modernen Staates":
- Kontinuität, natürlich. Weiterbeschäftigung, Karriere, akademische Würdigung der nationalsozialistischen Zensus-und-Statistik-und-Daten-Elite in der Bundesrepublik Deutschland. Respektabilität der Thesen unter neuen Namen: Genetik, Anthropologie.
- Prä Nazis: Deutschland Idyll der Daten-Armut. Disziplinlosigkeit gegenüber Meldestellen. Ganze Landstriche, Stadtteile unerfasst. Dann NS-Modernisierungs-Schub, konnte Erfassung und Daten-Zusammenführung aber gegen den Widerstand DunkelDeutschlands nur zäh durchsetzen, letztlich nicht vollenden. Doch heute: Vollendung des Projekts. Technische Perfektionierung der Methoden, Revolution der Daten-Speicher / -Verarbeitung. Mikrozensus. Normalität, breite Akzeptanz der Erfassung. They won!
- Rolle der Verdatung der Bevölkerung werde in der Erörterung von NS-Verbrechen marginalisiert. Bestimmt, weil Verdatung der Bevölkerung heute als "Methode des modernen Staates" akzeptiert sei!