Buch: Bernhard Pörksen, Hanne Detel: "Der entfesselte Skandal" / 2012.
Lektüre-Notizen:
- Einführung:
- Wie funktionieren Skandale im Netz-Zeitalter; unter den Bedingungen demokratisierter Massenmedien (skandalisieren kann heute jeder, keine Gatekeeper), von Remix-und-Rekontextualisierungs-Kultur (alles lässt sich mit allem in Kontakt setzen), Post-Privacy und Unvergesslichkeit (alles was ich tue kann jederzeit erfasst, ausgegraben werden)?
- Klassische Skandale werden von professionellen Journalisten "aufgedeckt" (gemacht) und betreffen hohe Figuren, Prominente, Politiker, Institutionen; sie laufen linear ab vom auslösenden Ereignis beim Promi über seine empörerische Enthülung durch den Reporter zur Reaktion beim breiten Publikum und schließlich deren Rückwirkung auf den Start-Promi.
- Die neuen Skandale: Jeder kleine Netzbürger kann skandalisieren oder in seinem noch so trivialen Verhalten skandalisiert werden, Relevanz-Kriterien verlieren an Bedeutung; Publikum und Skandalisierungs-Ingenieure fallen in eins; auch was schon Jahre publik ist erfährt vielleicht erst jetzt oder morgen seine Skandalisierung; Skandal-Geduld.
- Beispiel Köhler-Rücktritt. (Ich kann mir immer noch nicht so ganz vorstellen, dass die Skandalisierung dieser paar Sätze die treibende Kraft gewesen sein soll. Aber ich kann ja eh vielerlei Aufregerei nicht verstehen und bin vielleicht blind/immun gegen diverse Skandal-Angebote.)
- Moralische Funktion des Skandals: Die Gesellschaft markiert Vorgänge als NormVerletzungen und versichert sich so ihrer Normen, handelt sie vielleicht auch erst hierüber aus. In Gesellschaften ohne eindeutigen positiven Werte-Konsens verspricht der Skandal eine zumindest negative gemeinsame Moral (was nicht duldbar ist).
- Die Skandal-Kultur des Netzes mag gute und schlechte Seiten haben; Ziel des Buches ist eine Analyse, wie sie funktioniert und kein vorgefertigtes Verdammungs-oder-Lobpreise-Urteil. Wir sind noch in der Evaluierungs- und Lern-Phase.
- "Die neuen Enthüller und die alten Medien":
- Lewinsky-Affäre: GegenÜberStellung Drudge Report und Michael Isikoff / Newsweek. Letztere: sorgsame langatmige Recherche, Publikation zögerlich mit Bedacht auf Presse-Ethik und Blatt-Image. Drudge dagegen: SchrotFlinten-Strategie. Erst publizieren, dann von der RestPesse prüfen lassen; Einiges wird schon stimmen oder hängen bleiben.
- Jessica Cutler / Washingtonienne: Bloggt pseudonymisiert ihr RegierungsMilieu-SexLeben, glaubt an Unauffindbarkeit, ist schockiert, als ihr Blog entdeckt und von der Masse ausgewertet wird. Löscht panisch alles, verliert Job. Dann 180°-Wendung: lernt kommerzielles Skandal-Surfing. Irgendwann ermüdet die Öffentlichkeit aber.
- WikiLeaks: Ausführung diverser Thesen zum KontrollVerlust. Starkes AugenMerk auf den WikiLeaks-eigenen: Skandalisierer werden skandalisiert werden. Und die Evolution von WikiLeaks' Skandalisierungs-Methoden: Reichte zuerst das bloße Publizieren, erkannte man sich immer mehr selbst als Skandal-GateKeeper mit fragwürdigen KontrollAnsprüchen.
- GuttenPlag: LobLied auf von PlagDoc gut organisiertes CrowdSourcing. Masse recherchiert, prüft, publiziert in diesem Fall Evidenz mit einer Wucht, die das Vermögen klassischer Medien weit übersteigt, und eben auch rücksichtsloser, unbestechlicher, schwerer zu relativieren. Kampagnen-Absprachen zwischen hohen Häusern wirkungslos.
- Nur Skandal-organisatorisch machtlose Hierarchien hinter sich, konfrontiert mit erschlagender Evidenz, bliebe Guttenberg nur (dies empfohlenes SkandalManagement) Milderung seines GesichtsVerlustes durch eigenständiges Aufdecken, Eingestehen und Bereuen seiner NormVerletzung. Bis zuletzt weigert er sich aber bzw. bemüht peinlichste Salami-Taktik.
- Empfehlung zum Auffangen von SkandalDruck, der dich betrifft: Handle schnell, eile den Skandalisierern voraus im OffenLegen der NormVerletzung (behalte dir so DeutungsHoheit?); anerkenne und problematisiere selbst die Differenz zwischen der Enthüllung und dem, was von dir erwartet wird; Heuchelei ist nämlich beliebtester SkandalisierungsFaktor.
- "Die neuen Opfer und die Macht des Publikums":
- Gao Qianhui ist sauer, dass ihr LieblingsOnlineSpiel pausiert, wegen chinesischer StaatsTrauer fürs ErdBeben 2008. Sie publiziert ihren Rant auf YouTube o.ä. -- und zieht damit die chinesische Internet Hate Machine auf sich, MenschenFleischJagd, NaktMachung. Der Staat inhaftiert sie vorsorglich und danach verliert sich jede Spur.
- Wang Qianyuan studiert im amerikanischen Ausland und versucht dort, zwischen Pro-Tibet-und-Pro-China-Demonstranten zu vermitteln; das wird aufgenommen und zieht ebenfalls die chinesische Internet Hate Machine auf sich. Daheim müssen ihre Eltern sich in den Untergrund zurückziehen. Sie weigert sich, sich für ihre Mittler-Position zu entschuldigen.
- Qianyuan hat es aber auch einfacher als Qianhui; in den USA hat sie den solidarischen Westen hinter sich. Der skandalisiert ihre Skandalisierung in China zurück -- Empörung gegen Empörung. Was dem chinesischen Mob unerträglichste NormVerletzung, ist dem amerikanischen Mob ehrenvollstes Verhalten. Clash of internet cultures.
- Wahrscheinlich ist es diese RückenStärkung, die es Qianyuan erlaubt, mutig und selbstsicher zu reagieren, auf ihrer Position in neuen öffentlichen Auftritten zu beharren, sie sogar auszuarbeiten. Für Qianhui, zumal in China isoliert, fanden sich dagegen keine FürSprecher; sie wurde überrollt von den unerwarteten Folgen ihres Faux-Pas.
- Tricia Walsh-Smith versucht, einen ScheidungsKrieg für sich zu gewinnen, indem sie ihren Gatten öffentlich skandalisiert/demütigt; in einer boulevardesken YouTube-Serie, die anfangs viel FürSprache, mit der Zeit aber immer mehr GegenWind erfährt. Nur kurz entflammt der von ihr geplante Skandal zu ihren Gunsten, ehe er sich gegen sie wendet.
- Amir Tofangsazan verkauft per e-Bay betrügerisch einen defekten Laptop und löscht dummerweise nicht gründlich genug die FestPlatte -- der Empfänger Thomas Sawyer rächt sich mit einem Blog, auf dem er deren intimes Material publiziert und Amir für jedermann identifiziert. Auch hier ereifert sich freudig die Internet Hate Machine, während sich kaum eine Stimme findet, die Amir vor überproportionaler Reaktion verteidigt.
- Was lernen wir daraus? Auch kleine Leute werden nun skandalisiert -- in Folge freiwilliger (aber das Potential der Konsequenzen nicht vorausahnenden) oder unfreiwilliger Publikation ihres Lebens und seiner Verletzungen öffentlicher Normen. Ihre einzelne Stimme ist machtlos gegen die erboster Millionen.
- Überleben lässt sich diese kollektive Hass-Maschine nur durch Gegen-Hass-Maschinen -- wenn widersprüchliche Normen-Systeme hierin aufeinander prallen und die eine die Skandalisierung durch die andere skandalisiert; oder durch das rasche Erlahmen des Interesses; der Skandal muss langweilig werden, die ihn antreibeden Faktoren müssen verblassen.
- Die Internet-Hass-Maschine ist überaus potent in NacktMachung, SelbstVerbreitung, Organisation von Harassment noch in die entlegendsten WohnGegenden. Angetrieben wird sie von der Gewissheit eines rigorosen moralischen Konsens untereinander und der Anonymität die Folgen für den Einzelnen ausschließt.
- "Die neuen Technologien und die Möglichkeit der gnadenlosen Dokumentation":
- Die FolterFotos von Abu Ghraib: Bemerkenswert (aber typisch) die Leichtfertigkeit, mit der dokumentiert und die Fotos distribuiert wurden; im festen Vertrauen darauf, dass das eigene Verhalten unter Kameraden in einem Raum bleibt, der es würdigt statt als NormVerletzung zu tadeln. Was für ein Raum, der solches UrVertrauen schafft!
- Der "Bus Uncle": Beispiel dafür, wie ein wirklich banaler Vorfall, eingefangen durch die Ubiquität der SmartPhone-Kamera, durch die Mechanismen der Internet-Memetik in seiner Rezeption explodiert und (qua Parodien, Montagen usw.) weit über seine Skandalisierbarkeit als NormVerletzung als Text am Leben erhalten wird.
- Sowohl bei Abu Ghraib als auch beim "Bus Uncle": Die empfundene Unschuld des Kamera-Manns, der nicht interveniert, "nur" dokumentiert (auch wenn im Fall von Abu Ghraib der KameraMann der einen Szene oft Täter der nächsten ist); das Dokumentieren gilt, bei Kamera-Männern wie beim gegenüber allen anderen Beteiligten leidenschaftlichen Publikum, stets als gerecht, rechtfertigt sogar unterlassene Beschwichtigung der Szene.
- Und hier wie dort auch: die niedrige technisch-künstlerische Qualität der Aufnahmen als Authentizitäts-Garant. Was die Materialität der Aufnahmen anbelangt, wird mit der Simuliertheit der Bilder bei Baudrillard zum ersten Golfkrieg verglichen; dessen Thesen seien in Anbetracht der neuen Hyper-Realität der Bilder kaum zu halten.
- Privat-Affären-E-Mail-Leak beim ArbeitsAmt: Beispiel dafür, wie leicht unabsichtliche Leaks peinlicher Dinge in die Öffentlichkeit geschehen; eine falsch erwischte Taste, und schon erreicht die intimste Konveration den ganzen KollegenKreis und darüber den Rest der Welt. "Medialitätsvergessenheit".
- Tiger Woods' Affäre leakt seine SMSse, und Woods droht mit Verlust seines Saubermann-Image der Verlust seiner Sponsoren. Ihm gelingt unter allen Beispielen am Ehesten noch eine Kontrolle, ein Schadens-begrenzendes Management Skandals; durch direkte Kommunikation mit seinen Fans via persönlicher Website, worin er zugleich sich auf seine Privatsphäre beruft; über eine perfekt inszenierte Reue-Zeremonie.
- So wie die Aktien der Woods-Sponsoren fallen, steigen die Einnahmen der Skandal-Presse. Hier lässt sich direkt der Widerstreit zweier monetärer Märkte messen, die einen leiden am, die anderen profitieren vom Skandal.
- Anders Anthony Weiner, der aus Versehen ein Unterleibs-Foto gerichtet an eine angedachte Affäre in seinen öffentlichen Twitter-Stream rutscht; FehlSchlagen des Lösch-Versuchs, das Material ist im Netz, Streisand-Effekt. Bei ihm misslungenes Skandal-Management: erstmal Lügen statt Reue, und spätere Reue-Inszenierung zutiefst missraten; seine EheFrau fehlt auf der PresseKonferenz, und auf selbiger wird er unvorbereitet übertölpelt.
- Mit ihrer Anti-Nestle-Kampagne gelingt GreenPeace ein Skandalisierungs-Coup, der seitens Nestle noch durch öffentlichkeitswirksame Zensur- und KritikerBeschimpfungs- und -Verblendungs-Versuche unterstützt wird. GreenPeace schafft es, Konsumenten und Rezipienten des Skandals in Skandalisierer zu verwandeln und siegt auf voller Linie.
- Denn in der Netz-Ideologie ist jeder Versuch der Zensur, der Unterdrückung missliebiger Information ein Skandal für sich, gerät in diesem Fall also zum Skandal zweiter Ordnung zum eigentlichen Skandal (Nestles umweltschädliche FirmenPolitik).
- Daniel Cohn-Bendits pädophil lesbare KinderLaden-Memoiren waren ihrerzeit als Provokation gemeint, lösten aber nur SchulterZucken aus; dreißig Jahre später erst werden sie von einigen Protagonisten gezielt ausgegraben und skandalisiert. Bendit gelingt eine ausreichende Selbst-Distanzierung, die Hetze ebbt ab bzw. reduziert sich auf die geschlossenen Universen von RechtsExtremen, denen jeder StrohHalm genügt, um endlos wieder aufzuwärmen.
- Cohn-Bendit ein Beispiel für Skandale als Normen-Veränderungs-Politik. Cohn-Bendits Äußerungen unskandalös im sexual-libertären Kontext seiner Zeit, aber in Kollision mit neueren Normen problematisch. Verschiedene Maßstäbe kollidieren, weil Text inzwischen nicht mehr altert, auch dreißig Jahre später noch genauso verfügbar ist.
- "Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Ein programmatisches Resümee":
- Die Digitalisierung füttert den KontrollVerlust; denn Daten sind unkontrollierbare Substanz, beliebig speicherbar, verbreitbar, rekontextualisierbar. So wird schonmal medial potentiell alles, was vorfällt im EinzugsBereich der Verdatung, inzwischen also alles, zum Futter für Skandalisierung.
- Und Skandalisierbares entsteht, weil Menschen in diese Verdatung hineinhandeln, ohne den Möglichkeitenraum richtig abschätzen zu können, der daraus resultiert; aus mangelnder Reflektion, aber auch aus mangelnder Möglichkeit der Reflektion (noch der abgebrühteste Netizen wird von den Dynamiken des Netzes zuweilen überrascht).
- Rekontextualisierung: räumlich, zeitlich. An beides sind Geschehen, Texte nicht mehr gebunden; Texte bleiben ewig fortbestehen, gerade wenn sie skandalös sind. Das Publikum ist nicht mehr nur der FreundesKreis, sondern potentiell die ganze WeltÖffentlichkeit; wo aber Räume mit unterschiedlichen Normen kollidieren, gerät leicht das hier Akzeptable ins dort Abscheuliche.
- Verneigung vor Gregory Bateson und Plädoyer für seine diskursive Offenheit und Verspieltheit. Kein klarer Schluss, ob Michael Seemann oder Evgeny Morozov, die Optimisten oder die Pessimisten recht haben. Raum offen halten, um sich überraschen zu lassen!