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Robert Fossier, "Das Leben im Mittelalter" aka "Ces gens du Moyen Age". Mittelalter-Kulturbuch, bemerkenswert dünn in (as in: völlige Abwesenheit von) Quellenangaben. Aber die Autorität des Autors (Experte? Akademiker?) soll das vermutlich ausgleichen.
Lektüre-Notizen:
- "Vorwort": Der Mensch war damals Tier wie heute, das Mittelalter hat zu schlechten Ruf?
- "Der Mensch und die Welt"
- "Ein schonungsloser Blick auf den Menschen":
- "Ein zerbrechliches Wesen":
- der Mensch ist Gottes Plan minus Sünde
- Othering durch Hässlichkeit (in den Bildern): schwarze Sarazenen, behörnte Mongolen, verwachsene Kranke. Hässlich = Böse!
- Schönheitsmaßstab Europäer: die Apostel waren keine Semiten, sondern Germanen
- die Fettigkeit eines Königs wird beklagt nicht in Hinsicht auf Völlerei, sondern in ihrer Behinderung seiner Ausübung repräsentativer Akte wie des Besteigens von Pferden
- "Eine bedrohte Kreatur":
- Krankheit und Leid sind Teil von Gottes Plan und Strafe für Sünde; Heilkunde? Ha! Sowas nennen wir Hexerei!
- Die Juden hatten am Ehesten Ahnung von Medizin, wurden aber als Auskenner und damit Verantwortliche auch als erste bestraft, wenn ihnen nichts einfiel. (Pest-Pogrom.)
- Kein differenzierendes Vokabular für Krankheiten beim einfachen Mann. Jeder ist halt irgendwie physisch abnorm und leidend und krank.
- Heute nennen wir alles Krankheit. Damals nannte man alles Charakterschwäche/Sünde.
- Alle waren ständig besoffen, bekifft oder sonstwie unter Drogen-Einfluss. Mutterkorn!
- arithmetisches Desinteressse, die Zahl hat nur symbolischen Wert, buchhalterische Großzügigkeit
- "Noch 1427 wussten in Florenz manche Einwohner nicht genau, wie viele Kinder sie hatten." (S. 48)
- Und dort, wo man zählte, zählte man oft nur die männlichen Köpfe.
- Weniger Frauen als Männer -> Ritterturniere um die holde Maid.
- "Haushalt" equals "Feuerstelle"
- Geschichte der Namensgebungen
- "Die Stadien des Lebens":
- "Vom Kind zum Erwachsenen":
- die einfachen Leute im Mittelalter verhüteten und trieben ab, und die Kirche musste es irgendwann dulden und ernannte ein Zeitmaß, bis zu dem ungeborenes Leben getötet werden durfte
- Frauen waren nahezu durchgängig schwanger
- jede zehnte Erstgebärende starb, 25%25-30%25 Totgeburten
- es sind auch bei den Adligen selten Zwillingsgeburten überliefert, These: zwei Kinder sind Beweis für ein Einlassen mit zwei Männern, Schande, überzähliges Kind abmurksen
- Aufstieg des Ammenwesens: "Die Auswahl an stillfähigen Frauen war wegen der hohen Säuglingssterblichkeit groß." Erotische Zuneigung zwischen "Milchbrüdern", Bauern- und Adelsjunge gemeinsam an den Brüsten derselben Frau. "Revolution der Ammen" machte die eigentlich Gebärenden schneller fruchtbar -> Bevölkerungswachstum.
- Überzählige Kinder wurden "versehentlich" im Bett erdrückt oder ausgesetzt.
- Kindheit war ein Sonderzustand: Gesellschaftsteilnehmer im Werden statt junge Erwachsene (ab acht bis zwölf Jahren). Aber Kinder durften nicht krabbeln oder weinen, fürs Weinen gab's Prügel. Dafür gab's aber auch Schnuller und Spielzeuge. Die Kirche gebot Strenge und ein Zügeln des Kinder-Liebkosens.
- "Der Mensch im Privaten":
- Die These, das Aufkommen des Humanismus erst habe überhaupt das Private produziert, lässt sich auch umkehren: Wir finden erst mit Aufkommen des Humanismus Belege für das Private, weil erst mit Aufkommen des Humanismus der Blick aufs Private gelenkt wird.
- Wiederholt betont Fossier, im Mittelalter habe man Blinde gehänselt, sich über ihre mangelnde Orientierung lustig gemacht, sie für selbst-schuld gehalten.
- Eine Kultur der Gesten. Im Tanz: die höfischen Tänze, gezügelt-sittsam in Gestiken konzentriert, as opposed to wildes Rumgetolle der Bauern. Mit der Alphabetisierung verlieren die Gesten an Bedeutung.
- Tag und Nacht bestimmten den Lebensrhythmus, teilten sich in jeweils zwölf Stunden, die aber jahreszeitabhängig ihre jeweilige Länge änderten. Erst später triumphierte die "Zeit der Kaufleute" über die "Zeit der Kirche".
- Der gemeine Mann scherte sich nicht um Jahre in der Zeitrechnung. Wenn er differenzieren musste, so gab er einzelnen Jahren Namen, oder zählte nach Herrscherzyklen.
- Die Menschen waren ständig hungrig, deshalb verausgabten sie sich so auf ausgewählten Fressgelagen. Sehnsucht nach dem Schlaraffenland. Wo sie aßen, da aßen sie vor allem Kohlenhydrate, Fleisch dagegen verhältnismäßig wenig, und dann eher gekocht und gepökelt statt gebraten. Fette gab's auch kaum.
- Wein wurde massig getrunken, pro Person ein bis drei Liter pro Tag, verringerter Alkoholgehalt zwar (7-10%25), aber jungejunge! Und Bier natürlich, vor allem dort, wo kein Wein angebaut wurde.
- "Erst sehr spät wurde vielerorts ein fester Tisch mit Stühlen üblich." Deckt sich mit "Home: A short history of an idea"-Buch.
- Bei Festgelagen wurde weniger um des Geschmacks oder der Verdorbenheitsüberdeckung kunstvoll-massig gewürzt, sondern aus symbolischer Bedeutung.
- Auch der kleine Mann verbrachte damals seine Körperhygiene im "Schwitzbad". Alle Geschlechter und Stände saßen gemeinsam nackt im selben Wasser!
- Auch Zähne putzte man sich. Gelegentlich.
- "Eine Trennung zwischen Haus- und Straßenkleidung existierte nicht." (p.100)
- Das Haar der Frauen, kostbares Gut, Sexsymbol. Wer es offen trug, galt als sexuell verfügbar, ein Zeichen auch von Straßenmädchen. Damit es bei der Arbeit nicht in den Weg kam, wurde es verschnürt, zu Zöpfen gebunden usw., aber nicht gekürzt. Fossier meint: "wie ein persönliches Gut hüten" und "Schutz der Privatsphäre". Haar zugebunden tragen war wie Schleier-Tragen heute.
- "Der Mann, die Frau und die anderen":
- "Sie war einfach nur das Gefäß, in das der Samen hineingegossen wurde."
- Erotik war ungleich Nacktheit. Man badete gemeinsam nackt. Stattdessen porno: Haar, Arme, Lippenfarbe, Teint.
- Zum Sex: Die Geistlichen sagen, hier habe der Mann das Sagen gehabt, die volkstümliche Dichtung dagegen: die Frau. Kirche befahl Missionarsstellung, aber der Bauer zuckte sicherlich mit den Schultern dabei.
- Die Heiden waren sex-positive, die Kirche dagegen: "Sogar sexuelle Beziehungen zwischen Ehepartnern, die außerhalb der Empfängnisbereitschaft der Frau stattfanden, galten als eine Art Seitensprung." Aber in Sachen Sex hörte ja nemand auf die Kirche.
- Masturbation = Simonie (wtf?), "Ausverkauf von Gemeingut", Fortpflanzungsgutverschwendung an die sündhafte Lust! "Die Grenzen zwischen Onanie und Homosexualität sind in den mittelalterlichen Schriften nur undeutlich gezogen" (alles mit allen übrigen Sachen unter "Sodomie" abgeheftet). Pädophilie wurde "streng geahndet ... als feige Gewalttat", dito Zoophilie als Gotteslästerung; Homosexualität dagegen galt vor allem als ungesund und wurde gelassener gesehen; "[ging] wohl als eine auf das Fleischliche ausgedehnte Form der Freundschaft durch", insofern auch nicht wesentlich sündhafter als vieles Andere.
- die ihrem Gatten zutiefst gehorsame und unterworfene Ehefrau eine Erfindung des 19. Jahrhunderts
- der Ehemann war üblicherweise bis zu doppelt so alt wie die Frau, "ebenso sehr ein Vater wie ein Geliebter". Squick!
- Seitensprünge wurden von der Kirche verdammt, von der Öffentlichkeit aber nachsichtig behandelt; Fossier nennt die Strafen "Verspottung der Dummheit, sich erwischen zu lassen"
- Die Kirche duldete weibliche Prostitution als am Wenigsten dem Glauben schadhaftes Ventil für den furchtbaren Sexualtrieb der Männer und leitete sie in geordnete Bahnen.
- "Mädchen wurden auch unter den eigenen Verhältnissen verheiratet, um möglichst rasch die Unterhaltspflicht loszuwerden."
- "Lange hielt sich der Brauch, dass eine Matrone über Nacht in der Nähe des Bettes blieb, um am nächsten Morgen den körperlichen Vollzug der Ehe zu verkünden."
- Familienumfeld: vom pater familias über die horizontale Blutsverwandtschaft bis zu Dienstboten, Klientel, Freunden und Nachbarschaft fließend. Soziale Isolation ist der Tod.
- "Der äußere Rahmen des Zusammenlebens":
- Fossier behauptet das Haus als "für andere unzugängliche[n] Privatbereich", aber: Gastfreundschaft
- das Haus der kleinen Leute, klein und ein Raum, in dem alle eng beieinander
- Ritterburg: großer Saal für soziales Umfeld, drüber "Privatbereich" für Männer, noch weiter drüber der für Frauen, Töchter und Dienstmägde
- in der Stadt: mehrere Haushalte unter einem Dach
- das Bett das wichtigste Möbelstück, und repräsentativ! bis zu zweieinhalb Meter breit, für mehrere Menschen (das zweitwichtigste Möbelstück: die Truhe)
- mittelalterliche Arbeits- und Wirtschaftskultur: Verbot der Konkurrenz, strenge Normierung; Gemeinwohl ist der Zweck; geregelte Arbeitswelt; Sicherheit des Notwendigen statt Unternehmergeist; unentgeltliches Arbeiten statt Kapital-Akkumulation
- auf dem Land viel Arbeiten nicht direkt gegen Geld oder aus Sklaverei heraus, sondern im Austausch für Nutzungsrechte, Privilegien usw.
- "Das Lebensende":
- "Die wenigen erhaltenen Zeugnisse belegen, dass zu Anfang des 14. Jahrhunderts über zehn Prozent der Kriegsleute über sechzig Jahre alt waren."
- Alte bezeugten die Vergangenheit, kannten die Verwandtschaftsverhältnisse. Historische Säulen. Kontinuität.
- "Die Natur":
- "Das Wetter":
- Wer an Gottes Bestimmung glaubt, der sorgt sich auch weniger über die Ökologie. Wer es doch tut, der ist ein Ketzer.
- "Feuer und Wasser":
- Christentum: Feuer böse! Feuer Hölle! Deshalb auch das Verbot, das Unheilige der Einäscherung bei den abrahamitischen Religionen. (Gegensatz zu den anderen religiösen Systemen weiter östlich / paganisch.)
- In einer Welt aus Holz (europäisches Mittelalter) war Feuer die drohende Entropie.
- Zwischen 900 und 1100 verortet Fossier den Umzug des Feuers vom Draußen hinein ins Haus, und damit den familiären Haushalt "Herdstelle", das Private, Eigene, von der Frau Betreute.
- Wasser gut! Wasser Leben! Wasser Hygiene! Wasser für alle Kreisläufe des Alltags!
- Ozean: fremd, scary, aber abenteuerversprechend. Birgt Atlantis und Thule. Die Küstensiedlungen, das Fischervolk, versteht sich als Avantgarde, schaut abschätzig auf die Inlandsbauern herab und gelangt durch Salzförderung zu Wohlstand.
- "Die Erträge des Bodens":
- Der Boden ist fruchtbar und weiblich. Deshalb beackert der potente Mann ihn. Squick! Die Frau hilft nur.
- "Als 'Kraut' galt im Volksmund ... alles, was ohne intensive Arbeit geerntet wurde", d.h. ohne die Natur allzu aufwendig herzurichten. Und was man also so aus der wie für sich sprießenden Natur rupfte, daraus machte man dann "Eintopf". Sammler- statt Agrarwirtschaft. Aufgabenbereich für Hexen, Frauen und Kinder.
- Aber die Weinberge! Dass der Islam den Alkohol verbietet, ergibt gleich viel mehr Sinn, wenn man an das damals ständig besoffene Fringistan denkt.
- "Der Baum und der Wald":
- Die Bäume überleben den Menschen, auch als Individuum.
- Wald, tief, mystisch, bedrohend, Grenze der Zivilisation, Hort für Kobolde, Drachen und Feen, Banditen und Hexen, heidnische Monumente, Höhlen, Tiere, Ungeheuer. "Der Wald war wie das Meer: schrecklich und voller Verlockungen."
- Der tiefe, undurchdringliche, endlose Wald, von dem die Römer schrieben, war ein Mythos, erklärlich dadurch, dass die da unten ja so wenig Wald hatten. Stattdessen Gras und Gestrüpp.
- Schätzt das Waldschrumpfen im Mittelalter auf gerade mal zehn Prozent. Viel verheerender sei das 20. Jahrhundert gewesen. Aber: Mit dem Mittelalter verliert der Wald seine Wildheit.
- Im Mittelalter wurde nachhaltig gewirtschaftet. Tausend Jahre Nachhaltigkeit!
- Es gab im Mittelalter viel weniger Eisen als gern vorgestellt. Es war die "Holzzeit".
- In den Wald vertriebene Kollektive wurden wieder zu Jägern und Sammlern. Und mussten dabei zumindest Nahrungs-technisch gar nicht mal so schlecht leben. Konnten Monate, Jahre durchstehen auf diese Weise.
- Die Größe von Wäldern wurde in Schweinen gemessen. (Ein Hektar Wald ungefähr dient einem Schwein ein Jahr als Ernährung.) Dann ging man aber mehr und mehr zu Ställen über.
- "Und was ist mit den Tieren?"
- "Das Verhältnis des Menschen zum Tier":
- Christliches Othering des Menschen gegen die Tiere, Demütigung, Entseelung (vgl. andere Religionen). Sicher auch aus Furcht vor ihnen, denn sie sind stärker als er. Deshalb schläft er auch noch mit dem Kopf zur Wand.
- Größtes Gefahrbild im europäischen Mittelalter: der Wolf. Eindringen bis in die Städte. Aber auch große Angst, großer Ekel vor Ungeziefer und Reptilien, sicher Quelle aller Krankheiten.
- Wie alle anderen intellektuellen Analysen der Welt im Mittelalter war auch der Diskurs zum Tier vor allem ein symbolischer.
- Die Katze verliert erst im 17. Jahrhundert ihren dämonischen Ruf und wird erst im 19. Jahrhundert zum "anspruchsvollen und eigenwilligen Gefährten und Seelentröster des Menschen"
- Die Zähmung des Pferdes vor 5000-7000 Jahren veränderte die menschlichen Entfernungsvorstellungen. Den Hund dagegen domestizierten wir schon vor 30.000 Jahren. Das Mittelalter schätzte seine vorbildliche Untertänigkeit, die Antike (halt prä Sklavenreligion!) verachtete ihn.
- "Kennen und Verstehen":
- Der Zoophile beleidigt den Schöpfer, denn er hat Sex mit einem Seelen-losen Objekt.
- Der mittelalterliche Zoologe würdigte das Tier nur in seiner funktionalen Bedeutung für den Menschen.
- Fortdauern der mittelalterlichen Symbolzoologie bis heute: "Der Hund vertrug sich nicht mit der Katze, da beide ja ein Sinnbild für die ständige Rivalität zwischen Mann und Frau darstellten."
- Zwischen der Panik der Menschen vor den Tieren, ihrer Symbolaufladung der Tiere und ihrem Bedürfnis, ihr Verhältnis zu ihnen als überlegen zu definieren, erklären dann auch die mittelalterlichen Gerichtsprozesse gegen Tiere irgendwie mehr Sinn.
- "Gebrauchen und Zerstören":
- Selbst der Viehdieb hielt sich in seiner Auswahl an die Vorgaben der Fastenzeit, für sein Seelenheil.
- Wolle, das andere Holz des Mittelalters! (Nebenschauplätze: Leder, Eisen)
- Wachs, die Plaste des Mittelalters! Mit ihm auch der ewige Kampf gegen die Dunkelheit, der ewige Kampf um künstliche Lichterzeugung.
- Der Ochse, der Bulldozer des Mittelalters!
- Entschädigungszahlungen für Tiere entsprechend ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Entschädigungszahlungen für Katzen: keine.
- Heuschreckenplagen: "manchmal verdunkelten Millionen Insekten die Sonne", letzte große Welle AD 873
- mit der Jagd zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert Ausrottung der "europäischen Wölfe, Luchse, Bären, Auerochsen und Büffel"
- verschiedene Rechts- und Besitzzustände von Wäldern/Jagdgründen, werden zum Ende des Mittelalters immer restriktiver
- "Der Mensch und der andere":
- "Das Leben in der Gruppe":
- "Der Einzelmensch war verloren; es gibt für ihn deswegen auch kein Wort." Wer sich von der Gesellschaft abwandte, der wurde nicht mehr mitgezählt, der gehörte nicht zur Christenheit und damit auch nicht mehr zur Welt.
- Man ist teil einer ewigen, sich bruchlos Richtung Endzeit fortschraubenden Kontinuität. Sich ihr entgegenzustellen: Blasphemie!
- Die Solidarität der Menschen war nicht einfach Gutherzigkeit, sondern Zwang, Gehorsam zur Höllenvermeidung. Konservativismus war Gottesfurcht, alles Neue war Vorzeichen des Bösen ("malae sunt novae consuetudines") und "jede individuelle 'Wahl' [war] (griechisch heresis)" Ketzerei.
- Jede Tätigkeit, jedes Leben war gemeinschaftlich organisiert. Erst im Tod oder in der Verbannung sah man sich vereinzelt.
- Der mittelalterliche Mensch fürchtete im Tod nicht so sehr das Ende des Lebens als den Richtspruch im Jenseits.
- Der Gemeinschaftsdrang des mittelalterlichen Menschen rührte auch aus seiner ständigen Angst.
- Geschichte der Entstehung, Entwicklung und Benennung von Orten.
- Dörfer waren nicht ewig, Häuser und Menschen änderten immer wieder ihren Standort, es gab einen reges Netzwerk zwischen Dörfern und Städten.
- Immer wieder muss erwähnt werden, wie unattraktiv es in Häusern war, dass man sich dort nur aufhielt, wenn nötig. (Schlafen, Feuerstelle.)
- "freilaufende Schweine" in den Straßen der Städte als "Abfallbeseitiger"
- Auf dem Dorf lebte es sich sehr viel angenehmer als in der Stadt.
- Die städtischen Straßen waren widerwärtig, man konnte sich nicht aufhalten. Die Häuser waren dunkel und muffig, da wollte man sich auch nicht aufhalten. Öffentliches Leben in der Stadt brauchte eigene Orte. Die Römer schufen dafür Thermen, das Mittelalter Brunnenplätze.
- Gilden entstanden ursprünglich als karitative Vereine, kritisch ob Wohltätigkeitsmonopolanspruchs von der Kirche beäugt, bevor sie zu Berufsverbänden wurden. Andere Abarten wurden zu Flagellanten. Städtische Laienverbände, mittelalterliches Vereinswesen.
- Pilgerer/Wallfahrten hatten zwar einen eigenen Rechtsstatus, wurden aber mit viel Misstrauen von der Kirche beäugt. Umherstreunen, statt einen festen vorgesehenen Platz in der sozialen Ordnung auszufüllen? Pah!
- Unsere Quellen stammen aus dem Adel, dem der Feudalismus als Weltstruktur natürlich wichtig war, aber deshalb machen wir den Fehler, das ganze Mittelalter unter den Kategorien des Feudalismus zu denken.
- Der Feudalherr kümmerte sich um die Menschen, richtete milde, sicherte eine gefährliche Welt, zog die Gemeinen nicht zum Wehrdienst ein (alle untauglich gegenüber dem tollen Ritter!), stellte Infrastruktur zur Verfügung und verlangte viel weniger Steuern als unser heutiges Finanzamt.
- Der gemeine mittelalterliche Mann lachte und weinte mit Inbrunst (disapproved von der Kirche: schadet der Stille und Ruhe der Ordnung). Subtilität, "das Lächeln und die Stille Trauer waren dagegen künstliche, beherrschte Verhaltensweisen", "höflich", d.h. höfisch, heuchlerisch.
- Ein Drittel der Arbeitszeit fiel aus wegen Feiern und dessen Folgen. Der mittelalterliche Gemeine sah Arbeit als Mühsal und schätzte die Muße, gab sich leidenschaftlich Spielen und Festen und theatralischen Darbietungen hin. Disapproving Zuschauen von der Kirche!
- "Einpassung und Abweichung":
- In der "kosmischen Ordnung" ist der Mensch "ein Element ohne Handlungsfreiheit". Wozu auch? Wichtig ist das Seelenheil. Der Bauer in seiner Unfreiheit hatte es da am Leichtesten.
- Die Städter widersprechen der kosmischen Ordnung der drei Stände: Weder Kirche noch Krieger noch Bauern, fehlen ihnen die Gruppen-Identitäts-Vorlagen. Hier ist dann also die Keimzelle des säkulären Individualismus und Personalismus. Und die in den Städten entstehenden Ausdifferenzierungen innerhalb des Dritten Standes (wenn definiert als "alle, die weder Kirche noch Krieger sind") zwischen Arm (außerhalb der Städte in der Natur wesentlich überlebensfähiger) und Reich, sicher und unsicher, frei und unfrei, untergruben das Verlassen auf die Gottgewolltheit und Wohlgeformtheit des überlieferten Systems.
- dekonstruiert Anarchie und Endzeitstimmung um 1000 mit dem Satz: "In Wirklichkeit handelte es sich um einen langsamen, sich über zwei Jahrhunderte erstreckenden Umschwung vom Öffentlichen ins Private mit all den unumgänglichen Anpassungen der menschlichen Gruppenbeziehungen, die dieser nach sich zog." Ich wüsste gerne genauer, wovon er spricht.
- Die Kirche besaß "die absolute Kontrolle über alle Informationen"
- "feudale Gesten" interessierten nur den Zweiten Stand, der Gemeine Mann wusste einfach ein Herrschaftsverhältnis direkt über sich und interessierte sich für die Machtkämpfe in der restlichen Lehnspyramide nicht.
- In einer Kultur, in der es ums Seelenheil geht und alles symbolisch gelesen wird, ist eine Beleidigung und Ehrverletzung tatsächlich eher ein Kriegsanlass als eine Körperverletzung oder eine abgefackelte Vorratskammer.
- Man zweifelte nie die höchste Autorität des Königs an, aber der war fern und abstrakt. Seine konkret-näheren Vertreter griff man schon eher an.
- "Krieg" war mehr eine non-kontinuierliche Aneinanderreihung von Scharmützeln bis zur Erschöpfung beider Seiten statt eine kontinuierliche Abfolge von Schlachten.
- Das Mittelalter: der Traum einer nachhaltigen post-monetären Wirtschaft. Durchkreuzt vom Aufstieg der Städte.
- "Das Wissen":
- "Das Angeborene":
- Die Bauern hatten als Gedächtnis nur den Kopf, der zweite und erste Stand hatten Schrift.
- Das Ahnengedächtnis des Bauern reichte nur bis ins Miterlebte des Ältesten, das des Adligen dagegen in die Tiefe schriftlich fixierter Stammbäume (die aber, je tiefer sie reichen, umso erfundener sind; Hauptsache, man stammte irgendwie von Karl ab).
- Wo "schön" "gut" heißt und alles symbolisch ist, da ist die Kunst natürlich nicht realistisch, da hat sie gar keine Ahnung davon, was Realismus sein könnte!
- Maß war im Mittelalter immer nur geschätzt und subjektiv. Zahlen interessierten ja nicht, jedenfalls nicht in ihrem numerischen Wert, nur symbolisch. "Viel" ist alles ab sechs, denn nur fünf Finger hat die Hand. Zahlen hatten kein vergleichbares Volumen.
- Der mittelalterliche Mensch war ständig dabei, sich zu verrechnen. Die Fehlschätzungen sind teils monumental. Ein Wunder, dass ihre Kathedralen stehen blieben, vermutlich Kenntnis-Einflüsse aus dem Heidentum. Umrechnungsverhältnisse zwischen einzelnen Geldstücken änderten sich von Ort zu Ort.
- Es gab kein analytisches Verhältnis zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Es gab auch keine Geographie. Alles, was über den nächsten Hügel hinaus ging, war für den kleinen Mann gleichermaßen Überforderung seiner Denkkategorien. Die übernächste Stadt, Rom und Jerusalem waren gleich weit weg.
- "Das Erworbene":
- Die Masse lernte weitaus weniger über die Bildwerke, als angenommen. Die Illustrationen in teuren Büchern würde der Bauer kaum durchblättern, und die architektonischen Details seiner Kirche würde er auch nicht eingehend studieren.
- Stattdessen lernte man durch das Nachahmen von Gesten. Gesten waren wichtig. Bei der Unterschrift war das Unterschreiben wichtig, nicht so sehr die erzeugte Schriftgrafik. Deshalb gingen auch das Kreuz oder der Stempel statt der Signatur. Die Geste zählt!
- Der Computerbildschirm ist die Rückkehr zur Papyrus-Rolle. Scrolling in ungebrochener Kontinuität als Lesegliederungsmethode statt Blättern.
- Als mehr Masse lesen kann, werden die Texte auch belehrender.
- Ah, die Erklärung für das Stehenbleiben der Kathedralen im Zeitalter des Nicht-Rechnen-Könnens: Erfahrung triumphiert über Theorie. Man hat Gewölbeformen einfach so lange ausprobiert, bis sie nicht mehr zusammenklappten.
- Griechisch sprach kaum jemand, ein paar Mönche und Kaufleute mit Verbindungen zum Orient hatten damit zu tun. Latein war die Sprache der Gelehrten, Griechisch wurde höchstens bewundert, hatte ansonsten aber den Stand wie heute vielleicht Sumerisch. Die Wiederentdeckung des Griechischen war die wahre Renaissance.
- "Petrarca hatte eine Ausgabe des Homer mitten in seinem Haus auf einem Lesepult liegen und küsste sie jeden Tag, wozu er auch seine Gäste aufforderte."
- Die Bildung wurde im frühen Mittelalter erst noch fertig christianisiert. Bis ins 7. Jahrhundert gab es Bildungs-Freelancer außerhalb der Kirche, die für die Oberschicht arbeiteten; irgendwann machten ihnen Kloster Konkurrenz, und Karl der Große verfügte dann kirchliche Schul-Angebote fürs ganze Volk, wovon freilich nur verblieb, dass Schul-Angebote, wenn denn, christlich zu sein hatten. (Heißt das, dass auch das Mittelalter in seinen ersten Jahrhunderten sich erst fertig christianisieren musste?)
- "Pech für die vier Fünftel der Bevölkerung, die auf dem Land leben und wahrscheinlich nie davon gehört haben!" (Eine Bemerkung, die Fossier explizit zum universitären studium generale macht, deren Geist aber aus vielen seiner Erörterungen spricht.)
- Die Universität, die erstrahlt vor allem in ihrer Loslösung von kirchlicher Kontrolle. Den Zeitgenossen war sie unlieb. Sie strahlte hundert Jahre als Ort unabhängigeren Denkens, wurde aber rasch von der Kirche über das Einfalltor der Theologie übermannt und ins Scholastikertum getrieben, ihre weltlichen Lehrer als "Erbkaste" stillgestellt, ihre Macht in interregionaler Zerfleischung gedämpft. Intellektueller Fortschritt spielte sich im 14. Jahrhndert bereits außeruniversitär ab.
- "Der Ausdruck":
- Eintritt der Wörterbücher und Enzyklopädien. "[E]s ist eine Erfindung des Mittelalters, alles, was man weiß oder zu wissen glaubt, zusammenzufassen." Verabsolutierungsdrang der Symbolisten. Werke, die eine "Gesamtübersicht" über die Welt geben wollen, einschließlich der Göttlichen Komödie.
- Eintritt auch des Romans, langer Erzählungen in Volkssprache. Erste Entwürfe des Realismus. Analytische Anekdote statt Universalien,
- Mit der höfischen Dichtung erfindet sich der Adel neu, findet neue Legitimation in edlen Helden- und empfindsamen Liebesgeschichten.
- "Die Seele":
- War der Glaube im Mittelalter "christlich"? Der gemeine Mann hatte nicht unbedingt dieselben Vorstellungen von den spirituellen Mächten über ihm wie der Scholastiker.
- "Wenn der mittelalterliche Christ den Moslem als 'Ungläubigen' und dne Juden als 'Gottesmörder' bezeichnete, musste er damit rechnen, von Ersterem 'Polytheist' und von Letzterem 'Götzenanbeter' genannt zu werden."
- "Gut und Böse":
- Aufräumen mit Missverständnis der "Häretiker": Die Katharer waren keine Christen. Sie hielten Christus für einen Betrüger. Sie waren antichristlich. Man kann der Kirche vieles vorwerfen, aber nicht, dass ihre Verfolgung der Katharer besonderer Dogmatismus gewesen wäre; die Katharer waren dem Christen ein Feindbild da per definitionem antichristlich.
- Nette Worte für die erste Inquisition: "... zeigten die Richter dieser Zeit, wie etwa ihr bekanntester und wichtigster, Bernard Gui, trotz allem eine Differenzierungsfähigkeit, die sie eher zur Mäßigung geneigt machte." Bernard Gui, wir erinnern uns, ist der bad guy aus "Der Name der Rose"!
- Jeder, der sein Leben selbst wählt, statt sich mit dem Gottgewollten abzugeben, ist ein "Häretiker". Die Armen hatten ihren Lebensstil vielleicht auch selbst gewählt. Also waren vielleicht auch sie: Häretiker!
- Für die Reichen wurde Wohltätigkeit gegenüber den Armen (via Proxy Kirche) rasch zur "Christenpflicht" fürs Seelenheil ernannt. Tatsächlich aus Nächstenliebe gaben nur die Armen.
- Der rechtliche Sonderstatus von Kirchenangehörigen, Kirchenrecht, ward gerechtfertigt mit ihrem moralischen Bessersein zweck Vorbild. Wo diese besondere Tugendhaftigkeit nicht mehr ausgelebt wurde, da zurecht Empörung. Beim Kriegerstand war die Tugendhaftigkeit nicht ganz so wichtig, die leisteten ja immerhin durchs Raufbolddasein ihren wesentlichen Beitrag. Und der Bauer war tugendhaft, sofern er arbeitete, da konnte man auch schonmal ein Auge zudrücken. Des Unmoralischen verdächtig freilich alles, was außerhalb dieser drei Kategorien stand.
- "Erbsünde, Beichte und Vergebung sind die wichtigsten konstitutiven Merkmale des Christentums"
- Ursprünglich war die Beichte öffentlich und öffentlich demütigend. Das war aber zu heavy für den Beichtenden und untergrub so den Willen zur Ehrlichkeit. Also verlegte man sie ins Private und das Ohr allein des Geistlichen.
- Die Vergebung / Absolution, ihre Erteilung oder Vorenthaltung, war das hauptsächliche seelenheilerische Macht- und Erpressungs-Instrument der Kirche gegenüber den Gläubigen. Mit ihr ließen sich prima materielle Buße eintreiben.
- "Glaube und Heil":
- Christentum war vor allem auch die Vermenschlichung des vorderasiatischen Gottes in Jesus Christus gechanneled durch Paulus, der ihn gar nicht kannte. Eigentlich war Paulus der Kopf hinterm Christentum.
- Okzidentale, un-spirituelle "Volksfrömmigkeit", die nach Konkretem verlangt. Sieht Gott oder Jesus über sich wie einen Lehnsherr und hat am Liebsten Bilder und Idole zum Angucken und Anfassen. Der christliche Dogmatismus versucht, das vulgum an den Glauben heranzuführen, schafft es aber doch nur, den Eingeborenen einen magischen, weltlichen Ersatz-Herrn zu besorgen, der die gleichen Unterwerfungsgesten verlangt wie ein heidnischer Herrscher. Tja, dann heiligt man halt notgedrungen das Profane. Oder betreibt Propaganda mittels Wundern, deren Inflation aber ihre Verweltlichung und damit Rückkehr ins Heidnische androht.
- Der gemeine Mann ging nicht unbedingt sonntags in die Kirche. Bis ins 12. Jahrhundert hing er lieber auch in der Schenke rum. Ach je, was musste man alles erziehen! Eucharistie, Firmung, Buße? Schulterzucken! Taufe (Erbsünde abstreifen) und Letzte Ölung (prä-mortale Seelenheil-Absicherung), das kriegte man gerade noch durchgedrückt.
- Auch die Ehe wurde erst recht spät zum Sakrament, wegen der "in den Augen der Kirche skandalösen Ehesitten des Kriegeradels". Oha, was ging da wohl ab?
- Die strenge Zuordnung, eindeutig und vollständig und ausschließlich, der Menschen zu Pfarrgemeinden vollendete sich erst im 13. Jahrhundert.
- Der örtliche Pfarrer stieg mit den Jahrhunderten im Ansehen, in seiner sozialen Rolle in der Gemeinde, aber auch in seiner eigenen Bildung. Er war irgendwann das örtliche Gehirn, falls man einen Intellektuellen/Ethiker/Lateinsprecher brauchte.
- Leichenverbrennung war ein absolutes Nein, denn der (sonstwie verrottete) Körper musste zum Jüngsten Gericht ja wieder auferstehen, um sich mit der Seele zu vereinigen, die so lange in der Vorhölle wartete.
- "Der 'Teufel' ist weitgehend eine mittelalterliche Erfindung." In seiner Omnipräsenz, die es ständig zu entlarven und der es ständig auszuweichen galt, war er das ewige Damoklesschwert über den Köpfen der Gläubigen. Ein psychologischer Druck wie die spätere Prädestinationslehre bei den Protestanten vielleicht!
- "Schlusswort":
- Der Autor entschuldigt sich für große Teile seiner Methode. Nur nicht für die Abwesenheit von Quellenangaben!