Buch: "A History of Private Life. Riddles of Identity in Modern Times" (Hsrg. Antoine Prost & Gerard Vincent, Übersetzung Arthur Goldhammer)
Lektüre-Notizen:
- "Public and Private Spheres in France" (Antoine Prost):
- Einführung:
- "Changing Workers and Workplaces":
- "The Family and the Individual":
- Noch die erste Hälfte des Jahrhunderts ist für die UnterschichtsFamilie das übervölkerte Ein-Raum-Quartier die Norm. Das Individuum hat hier gegenüber der Familie per definitionem keine Privatsphäre, bestenfalls eine VersteckNische für KleinKrams. Der amüsierte Hinweis, dass schulische SexualKunde erst eingeführt wurde, als die Kinder von den Eltern separate Räume bekamen.
- Die Familie gibt Verantwortung und Macht ab, an ein sich zum Teil produktiv ergänzendes Doppel aus Individuum und Staat. Die Schule erzieht für eine Öffentlichkeit, zu der die Familie als Institution nichts mehr beisteuert. Die Ehe, einst Begründung einer neuen sozialen Zelle, verliert an Privilegien, und intimer fühlt sich das unverheiratete Paar.
- Neues KörperBewusstsein. SelbstDefinition über den Körper, seine Gesundheit, seine Schönheit, seine Pflege. Plötzlich putzen die Menschen sich die Zähne und duschen, und es wird legitim für Frauen, auch nach der Heirat noch an ihrer Attraktivität zu arbeiten. Damit einher neue HyperSensitivität gegenüber körperlicher Gewalt: Angriffe auf meinen Körper sind ein absolutes Verbrechen.
- Vom 19. ins 20. Jh. vollzieht der Tanz die zunehmende Individualisierung: vom kommunalen Ritual, dem in einer Gruppe regeltreu abgespielten Balett, hin zum unsittlich engen und vor allem auch intimen Tanz zu zweit bis schließlich hin zum Individuum, das nach seinen eigenen Regeln in der Disco tanzt.
- "The Transition from Neighborhood to Metropolis":
- "A History of Secrets?" (Gerard Vincent):
- "The Secrets of History and the Riddle of Identity":
- Gerade im Totalitarismus blüht das Geheimnis auf, denn gerade hier wird eine Abkapselung der Freiheit von einer absolut unfreien Öffentlichkeit gefördert. Sartre sagt: Nie waren wir freier als unter der Deutschen Besatzung. Orwells Ingsoc-Staat übte seine totalitäre Macht aus durch Kontrolle der Erinnerung und der Sprache.
- Im modernen Staat ist das Private sicher nicht mehr das, was vom Staatlichen unabhängig ist -- denn wir setzen gerade auf die gesetzliche Regulierung zur Sicherung unserer Ansprüche des/im Privaten. Stattdessen, ja, könnte das Schaffen von Geheimhaltungs-Sphären gegenüber wechselnden Anderen eine Grundlage für den Begriff sein. Das Geheimnis ist das Private.
- Privatsphäre ist im 20. Jahrhundert etwas, das Gesetze und internationale Chartas definieren, behaupten, garantieren. So ganz glücklich scheint der Autor damit nicht, betont er doch, aus seiner Perspektive, den Kampf des Historikers mit Gesetzen, die es verbieten, ein Tagebuch auszuwerten, dessen Autor nicht bereits hundert Jahre tot ist.
- "Family Secrets":
- "The Body and the Enigma of Sex":
- Körper-Obsession des modernen Menschen (as of SchreibZeitpunkt des Buches, 80er Jahre). Gesundheit, Jugendlichkeit, Statur! Dasjenige, worüber sich das Individuum am Stolzesten zu definieren scheint. (Wirkt ein bisschen gealtert diese Beobachtung.)
- Was schicklich ist an Ernährung wie an KörperMaß ist stets durch Kultur und Distinktions-Bedürfnis bestimmt. Als die Armen mager waren, war es im Bürgertum schick, dick zu sein, und heute ist es halt umgekehrt.
- Der Doktor der bürgerlichen Familie früher, er war ein Hausbesuche-Generalist mit intimer Kenntnis des Haushalts, der Menschen. Verachtung galt dem Spezialisten, der seine Patienten nur über eine bestimmte Krankheit kannte. Heute umgekehrt. Heute gehen wir fürs kleinste Weh ins Krankenhaus und wollen sofort den Spezialisten.
- Im Vergleich zu früher werden alle Menschen abnorm alt. Das Senioren-Leben als eigene gesellschaftliche Schicht ist ein neues Phänomen. Früher folgten durch frühen Tod Generationen aufeinander, hintereinander -- heute überlagern sie sich, stützen sich aufeinander auf.
- Die Geschlechter-Rollen weichen aus und werden austauschbar. Die Emanzipation der Homosexuellen wirft sie als frisches Vorbild, frei von den institutionellen Verinnerlichungen der bürgerlichen Familie, in die Arena; vielleicht werden bald alle unsere Beziehungen und Familien nach ihrem Lifestyle (wenn schon nicht sexueller Vorliebe) sich ausrichten.
- "Cultural Diversity in France":
- "Catholics: Imagination and Sin" (Gerard Vincent):
- "Communism as a Way of Life" (Gerard Vincent):
- "French Judaism" (Perrine Simon-Nahum):
- "The Role of Immigrants" (Remi Leveau, Dominique Schnapper):
- "Nations of Families":
- "The Rise and Fall of the Swedish Model" (Kristina Orfali):
- Schweden stand lange Zeit als die perfekte sozialdemokratische Nation Vorbild, die goldene Mitte im Kalten Krieg der Systeme, Vorreiter in Fragen der Kunst- und GeschlechterFreiheit, ohne krasse soziale Ungleichheit, ein sozial-liberales Paradies. Hohe Erwartungen, mit einiger Basis, die aber natürlich zwangsläufig enttäuscht werden mussten.
- Transparenz und ÖffentlichkeitsPrinzip als zentrale schwedische Werte, Konsens und demokratische Initiative, eine als eng empfundene Verbindung dem eigenen Wohl und dem gemeinschaftlichen und den Aufgaben und Tätigkeiten des Staates. Vertrauen in die Gemeinschaft, Vertrauen in den Staat.
- Ethische Grundsätze im Aufgaben-Katalog staatlicher Aufgaben wiegen stärker als das Primat des Privaten, wie sich zum Beispiel in Familien-Rechts-Fragen zeigt. Das Wohl des Kindes und seine Unterstützung durch den Staat obsiegt über Souveränitäts-Ansprüche seiner Eltern, sei es in Fragen der VaterschaftsKlärung oder des Verbots körperlicher Züchtigung.
- Feminismus ist einflussreich in Schweden, auch als Faktor in Richtungen, die andernorts sicher als anti-liberal empfunden würden: Eine Strömung richtete sich wirkungsvoll in Ablehnung traditioneller Institutionen gegen eine Legalisierung der Homo-Ehe, eine andere kämpft für die Illegalität der Prostitution als sexistischem Geschäft.
- Die Direktheit, mit der Schweden andernorts als privat tabuisierte Fragen beispielsweise des Sexes verhandelt, wird gern von außen verwechselt mit Permissivität. Aber wo es Schweden an Tabus mangelt, ist es oft umso geneigter zur kommunal-ethischen Kontrolle von Dingen, denen Menschen anderswo unbehelligt als PrivatSache zu fröhnen hoffen, z.B. Alkohol.
- Eine bestimmte neurotische Faszination für Fragen zum Beispiel der Erotik scheint den Schweden zu fehlen, die so offen den Sex zwischen Porno und Didaktik angehen, gerade weil das Geheimnis, das Tabuisierte bei ihnen eine so geringe Rolle spielt.
- Schweden ain't no Orwelliana, scheint aber dennoch in seinen hohen Ansprüchen an Öffentlichkeit und Mitsprache-Rechten von Staat und Gemeinschaft im Leben eine Gegen-Reaktion der umso konzentrierteren und intensiveren Solitude und des individualistischen Rückzugs zumindest in einigen Nischen wie der Wald-Hütte zu provozieren.
- "The Italian Family: Paradoxes of Privacy" (Chiara Saraceno):
- "The German Family between Private Life and Politics" (Ingeborg Weber-Kellermann):
- Auch das deutsche Bürgertum teilt die Werte patriarchaler Häuslichkeit, von Biedermeier bis Kaiserreich. Ab dessen ZusammenBruch bringt die gesellschaftliche Turbulenz aber Einiges durcheinander. WirtschaftsKrisen rütteln an Status und Sicherheiten.
- Die Weimarer Republik leitet diverse liberale Trends ein, bis zum Schreck-Bild der emanzipierten berufstätigen Frau und einer Abnahme der Geburtenrate. Die Nazis richten sich mit Verve dagegen, behaupten und verrechtlichen die Blut-und-Boden-Natürlichkeit einer idealisierten ländlich-patriarchalen Familie und erfinden das MutterKreuz.
- So sehr die Nazis auch von Patriarchat und familiärem Konservativismus schwärmen, so sehr ordnen sie gleichzeitig die Souveränität der Familie biotechnischen und pädagogischen Eingriffen durch den Staat unter. Statt privatistisches Bollwerk gegen die Revolution ist das FamilienLeben ganz der Gnade und Mitsprache eines totalitären Staates ausgeliefert.
- Exil-Soziologen, Frankfurter Schule, Wilhelm Reich analysieren die deutsche Familie als autoritären, proto-faschistoiden Charakter, legen Fährten für die Emanzipations-Ideologie der Sexuellen Revolution. GegenStimmen der Adenauer-Ära idealisieren sie als privatistischen FluchtRaum vor den Schrecken eines politischen, totalitären Jahrhunderts.
- Ab den 60ern mündet die Sexuelle Revolution in großer Vielfalt und Liberalität der LebensStile, selbst wo das Gesetz nicht hinterherkommt. Neue Familien-Modelle entstehen, Tendenz Kommune. Patriarchal-traditionalistischer Diskurs besteht weiter, ist aber nur noch eine Stimme unter vielen im Pluralismus der LebensEntwürfe.
- Im Gegensatz zur BRD ist die DDR nicht zimperlich bei der Verrechtlichung der FrauenGleichStellung, ihrer Einbindung in den ArbeitsMarkt, der Förderung werktätiger Mutterschaft und der Liberalisierung von Abtreibungs- und ScheidungsRecht. Mit der WiederVereinigung hinken westdeutsche Gesetze noch immer hinterher; Befürchtungen, ostdeutsche Errungenschaften könnten verloren gehen.
- "Myths and Realities of the American Family" (Elaine Tyler May):
- Die viktorianische amerikanische Familie verstand sich als Institution eines öffentlichen Lebens männlicher Familien-Oberhäupter, deren Selbständigkeit und Moral zu garantieren sei durch den sittlichen Rückhalt eines Heims, das von einer über-züchtigen Ehefrau als Grund von Ruhe und Anstand organisiert und abgesichert werden sollte.
- Vom Ende des 19. Jh. an zerbricht diese Rolle unter ansteigendem Individualismus, mehr öffentlichen Rollen für Frauen, einer wenn nicht funktionalen so zuminest moralischen Gleichberechtigung im Paar, mehr Anerkennung für die Bedürfnisse der Frau als Selbstbestimmungsrecht und schließlich einem Brotverdienst-Druck in der WirtschaftsKrise gegenüber beiden Partnern.
- Frauen emanzipieren sich in den 30er Jahren beruflich. Berufliche Karriere der Ehefrau gilt zwar nach wie vor als abseitig, aber die alleinstehende Karriere-Frau ist als Modell durchaus respektiert. Der Zweite Weltkrieg erweitert die Frauen-Beschäftigungs-Rate, proletarisiert sie aber auch: Statt Spezialistinnen sind jetzt niedrig qualifizierte FabrikArbeiterinnen gefragt.
- Mit Ende des Krieges soll die neue weibliche ArbeiterKlasse zurück an den Herd gezwungen werden, u.a. auch Druck von Gewerkschaften mit Blick auf die Arbeitsplatzsituation für die rückkehrenden Männer. Hollywood dreht nun viele Filme, in denen die berufstätige Alleinstehende herausfindet, wo ihr Glück wirklich liegt: als Gattin, Mutter, Hausfrau.
- Schon während des Krieges, und dann voll ausgelebt in den 50ern, drängt das heterosexuelle Suburbia-Kleinfamilien-Glück mit klarer RollenTrennung als Ideologie die Emanzipation zurück, behauptet sich vor allem sittlich und propagandistisch als Norm und zwängt alles Abweichende in die Diskriminierung oder den Untergrund.
- Ab den 60ern dann Ideologie-Krieg gegen diese Norm, in Vielem sehr erfolgreich. Provoziert dann aber wiederum eine konservative Reaktion, und der KulturKampf währt noch heute fort zwischen den rechtskonservativen Anhängern eines Familien-Traditionalismus mit Forderung nach AbtreibungsVerbot und den linksliberalen HomoEhe-Befürwortern.
- Bis einschließlich in die Suburbia-HeileWelt behauptet sich ein neues FamilienBild gegen das viktorianische: statt Rückhalt fürs Öffentliche ist die Familie nun SelbstZweck, Ort persönlicher Erfüllung im Sinne von "Leisure" und Konsumismus. Aus dem Patriarch wird der "Dad", und gefährliche urban-sittenwidrige Vergnügen werden in Vorgarten-Luxus und private SelbstFindung sublimiert.