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Cover des Buches: Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre

Verlag C.H.Beck / 174 Seiten / 12,95€

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Christian Heller

POST-PRIVACY

Prima leben ohne Privatsphäre

Kapitel 2: Eine kleine Geschichte des Privaten (Auszug)

[…]

Home, Sweet Home

In dieser Zeit wurde das Private entdeckt als eigener Ort, als eigener Wert, als eigene Welt.

Bis dahin wirkte das Innere des bürgerlichen Heims einigermaßen lieblos gestaltet: ein Reich des Notwendigen, aber nicht der Gemütlichkeit; zweckgemäß eingerichtet, aber nicht unbedingt freundlich. Statt Sesseln, Blumenvasen und Pantoffeln begegnen wir im Haus des 15. Jahrhunderts einer Kargheit, in der der beliebteste Gegenstand die überaus praktische große Truhe war:23 Man kann sich draufsetzen, das Essen auf ihr abstellen, alles Mögliche in ihr lagern, sich sogar hineinlegen – und wenn nötig, war sie rasch anderswohin geschoben. Was brauchte man mehr?

Nun aber erhielt das häusliche Innere ein eigenes Gesicht, ja eine eigene Philosophie. Die Mehrzweck-Hallen wurden aufgeteilt in viele kleine Kammern, die jeweils einem bestimmten Zweck dienten oder einer bestimmten Person gehörten.24 Hier schliefen die Kinder, dort die Diener. Hier aß man, dort las und schrieb der Vater. Was eben noch ein tragbares Möbelstück war, wurde nun fest im jeweiligen Raum eingelassen. Unzählige weitere Möbel und Gegenstände kamen hinzu, wurden erfunden. Die plumpe Allzwecktruhe zerfiel in eine Vielzahl hochspezialisierter Kästchen, Kommoden, Tischlein, Stühle. Ganze Wissenschaften entstanden von der Vielfalt der Essbestecke, von der körperfreundlichsten Polsterung, der Form von Sesseln und Sofas, der Kunst der Innendekoration.25

Das Heim wurde zu einem Kosmos mit Ansprüchen und Gesetzen, die andere und vornehmere waren als die der Straße. Es wurde zur Idylle, zum Ort der meditativen Stille und Selbstfindung. Hier erprobten sich die neuen Vorstellungswelten der Innerlichkeit und der Innigkeit.

Damit diese neue Welt des Eigenen, des kleinen Glücks ganz zu sich finden konnte, musste ihr Kern festgelegt und streng vom Rest abgeschnitten werden. Die Straße mit ihrem Kommen und Gehen wurde zum Feind: Gäste wurden aussortiert, nur noch in Empfangsbereiche vorgelassen – und zwar bloß zu festgelegten Zeiten und nach Einladung.26 Die Familie selbst schrumpfte auf Vater, Mutter und deren Kinder, in möglichst niedriger Zahl. Die Dienerschaft wurde in ihrer Zahl aufs Nötigste reduziert, in einen eigenen Trakt abgeschoben und nur noch bei Bedarf über Klingelzeichen hinzugeholt. Das muntere Gewimmel von Menschen, das früher den Haushalt bestimmte, war unduldbar geworden. Damit die Zimmer als Orte der Ruhe und des Rückzugs dienen konnten, waren sie nicht mehr direkt untereinander, sondern über Korridore verbunden. Vor allem aber wurde das Heim als Ort des Familienlebens streng abgetrennt vom Geschäft als Ort des Arbeitens und des Verkehrs mit der Öffentlichkeit.

Dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts galt das traute Heim als Quelle der Moral: Draußen tobten Revolutionen, Kriege, Industrialisierung, Schmutz und Versuchung. Umso wichtiger war es, dass im Schoß der Familie Anstand, Ordnung und Stille herrschten. Zu ihrem eigenen Besten waren hier die Schwachen und Verführbaren eingesperrt, die Frauen und Kinder. Nur hier (oder vielleicht noch in einem strengen Internat) konnten die Jüngsten ungestört einen guten Charakter erlernen. Kehrte der Mann aus dem brutalen Tohuwabohu der Öffentlichkeit heim, sollte er im Privaten Idylle und Fürsorge erfahren.

Die bereitzustellen war die Aufgabe der Ehefrau. Als die bürgerliche Familie sich im Gegensatz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen erfand, war das vor allem auch Geschlechterpolitik.

Das Aufteilen und Festlegen von Räumen, Verhaltensweisen, Zuständigkeiten zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen war eines zwischen Mann und Frau. Den Haushalt und das Familienleben auf der einen Seite zu trennen von Politik und Geschäft auf der anderen hieß: Frau und Kinder im Privaten abkoppeln von der Öffentlichkeit, in der der Mann sich bewegte.27

Als die Französische Revolution den Untertan zum Bürger, Freien und Gleichen ernannte, war damit der Mann gemeint. Nur wenige riefen nach der Befreiung der Frau – ihnen schlug Unverständnis entgegen.28 Liberale Theoretiker pflichteten bei: Die Begabung zur politischen Freiheit besitze der Mann, nicht die Frau. Nur der Mann nämlich sei der Öffentlichkeit gewachsen. Das Aufgabenfeld der Frau liege natürlicherweise, ihm untergeordnet, im Privaten.29

Zur Begründung wurden Erzählungen gesponnen über die Geschlechtlichkeit von Öffentlichem und Privatem. Öffentlichkeit und Politik seien der Ort der Vernunft, der lauten Rede, der Härte – und damit des Mannes. Privatheit und Familie hingegen seien der Ort der Gefühle, des Flüsterns und der Fürsorge – und somit der Frau. Die Öffentlichkeit sei Kultur, Zivilisation, die der Mann durch seine Gewalt aus der Natur geformt habe. Das Private dagegen sei die Erdung in Natürlichkeit und Liebe, denen die Frau als kindlicheres Geschöpf noch viel näher stehe als der erwachsene Mann.30

Beides, das Öffentliche und das Private, das Männliche und das Weibliche, ergänzte sich in diesem Bild zur Familieneinheit: gelenkt und beschützt vom Mann, mit Sanftheit und Fürsorge erfüllt von der Frau. Die Familie galt, gerade auch für die politischen Theoretiker der Zeit, als sittlicher Mittelpunkt der Gesellschaft. Erst im Privaten fand der Mensch zu sich – das heißt hier aber: nicht als vereinzelter Ausreißer, sondern im moralischen Körper einer engen und strengen, aber auch liebenden Gemeinschaft.31

Das 19. Jahrhundert war in vielerlei Hinsicht das Goldene Zeitalter der Privatsphäre: Hier wurde sie erfunden als ein eigener Raum mit eigenem Glück und eigener Kultur – gegen ein Draußen, das draußen bleiben soll. Aber sie erfand sich nicht als das, was heute gerne als ihr Wert angeführt wird: als ein Ort der Freiheit zum Anderssein oder der Freiheit von Herrschaft.

Furcht vor dem bösen Blick

[…]


Anmerkungen

  1. ^ Siehe die Bemerkungen zur Truhe bei Rybczynski, S. 25.
  2. ^ Zur Entwicklung der städtischen Häuser und ihres Inneren, siehe vor allem: «Intimacy and Privacy» in: Rybczynski und «Von der mittelalterlichen zur modernen Familie» in: Ariès.
  3. ^ «Commodity and Delight» in: Rybczynski.
  4. ^ «Ease» in: Rybczynski.
  5. ^ Siehe hierzu vor allem die Ideen der englischen Evangelikalen, beschrieben von Catherine Hall, «Trautes Heim» in: Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum großen Krieg, Frankfurt/M. 1991.
  6. ^ Lynn Hunt, «Französische Revolution und privates Leben» in: Perrot.
  7. ^ «Das Private und das Öffentliche» in: Ellen Krause, Einführung in die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, Opladen 2003.
  8. ^ Michelle Perrot, «Funktionen der Familie» in: Perrot.
  9. ^ Michelle Perrot, «Der Triumph der Familie» in: Perrot.