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Cover des Buches: Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre

Verlag C.H.Beck / 174 Seiten / 12,95€

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Christian Heller

POST-PRIVACY

Prima leben ohne Privatsphäre

Kapitel 1: Das Ende der Privatsphäre (Auszug)

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Freiwillige und unfreiwillige Entkleidung

Wer weiß, was in den Mathematikerköpfen und Computerprozessoren von Internetunternehmen und Geheimdiensten noch so an Rechenverfahren wartet, um unser Intimstes zu enthüllen? Wer sich dagegen absichern will, dem kann man wohl nur zur Paranoia raten: am Besten überall nur das Allernötigste angeben; das Facebook-Profil so karg wie möglich halten; nirgendwo im Netz sich zu irgendwas unter dem eigenen Namen äußern; nur keine Daten eingeben – alles kann dich verraten.

Die Datensparsamkeit, die der Einzelne sich leisten kann, ist aber beschränkt. Er hat oft genug nur die Wahl, am Sozialkosmos des Internets teilzunehmen – oder eben nicht. Wer ein Nutzerkonto bei den gefragtesten Internet-Diensten wie zum Beispiel Amazon, Facebook oder Google hat, der hat diesen bereits den Schlüssel für das Innerste seiner Privatsphäre gegeben. Der kann sich zwar zurückhalten im bewussten, eigenwilligen Verbreiten von Bildern, Äußerungen oder Selbstbeschreibungen. Aber auch so protokollieren und archivieren diese Dienste18 jeden seiner Klicks; auf welchen ihrer Inhalte er wann und wie lange verweilt; von welchen anderen Seiten im Netz er auf sie gelangt und in Richtung welcher anderen Seiten er sie wieder verlässt; mit welchen ihrer Nutzer er sich unterhält oder auf denselben Fotos landet; nach welchen Begriffen er mit ihren Suchmaschinen fahndet; welchen ihrer Empfehlungen er folgt und welchen nicht.

Die Rechenverfahren von Amazon, Facebook und Google wälzen sich wie wild durch die so entstandenen Daten-Berge. Amazon empfiehlt uns Bücher, von denen es glaubt, dass sie uns interessieren: Aus dem Wissen, was für Bücher wir uns auf seinen Seiten angeschaut und bestellt haben, erahnt es unsere literarischen Vorlieben. Googles Suchergebnisanzeige orientiert sich nicht nur an dem Text, den wir ins Suchfeld eingeben, sondern auch an Googles Einschätzung unserer Interessen – nach einer Auswertung unserer früheren Suchanfragen und unserer früheren Entscheidungen, bestimmte Suchergebnisse anzuklicken oder nicht. Und Facebook macht oft schaurige Vorschläge, mit wem aus seiner großen Nutzerschaft wir uns noch anfreunden sollten: zum Beispiel verstoßene frühere Affären oder andere Menschen aus verdrängten Vergangenheiten. Wie kommt Facebook auf diese Verbindungen? Durch ausgefuchstes «Datamining», also ein möglichst schlaues Umgraben der Daten, die über uns selbst und all die anderen in seinen Datenbanken schlummern.

Gelegentlich wissen die Denkmaschinen des Netzes mehr über uns als wir selbst, unsere Eltern und unsere Freunde zusammengenommen. Was wir dem globalen Gehirn Internet nicht direkt über uns mitteilen, das erfasst und folgert es eben selber – notfalls, ohne uns um Erlaubnis zu bitten.

Nicht jedem gefällt das. Der Verteidiger der Privatsphäre fragt zornig: «Was erlauben diese Dienste sich?» Es gibt viel öffentliche Empörung und Klagen über mangelhaften «Datenschutz» bei all den eben genannten Internet-Riesen. Datenschützer fordern (sinngemäß): «Wissen über uns, unsere Persönlichkeit, unser Umfeld, unser Verhalten gehört unter unsere Kontrolle. Daten, die uns betreffen, sollten nicht ohne unsere ausdrückliche Erlaubnis gesammelt, ausgewertet oder gar mit anderen Daten zusammengeführt werden. Wer das tut, so wie Google oder Facebook, der gehört als Datenverbrecher an den Pranger gestellt.»

Die öffentliche Debatte darüber wird mit beträchtlicher Lautstärke geführt. Ein Großteil der Nutzer etwa von Google oder Facebook dürfte sie inzwischen mitbekommen haben – oder hat sich sogar daran beteiligt. Aber kaum jemand verzichtet deshalb auf Google oder löscht sein Facebook-Profil. Im Gegenteil: Facebook kann sich regelmäßig mit Google um den Titel des Datenschutz-Gefährders Nummer Eins streiten und ist trotzdem in den sieben Jahren seines Daseins auf knapp 700 Millionen Nutzer angewachsen.19 Das heißt: Grob ein Zehntel der Menschheit teilt Facebook inzwischen freiwillig mindestens Name und Alter (zu einem gewissen Prozentsatz wahrscheinlich nicht ganz korrekt), Geschlecht, Freundeskreis und das eigene Klick-Verhalten mit. In westlichen Ländern beträgt der Bevölkerungsanteil mit Facebook-Profil wenigstens ein Fünftel (Deutschland) und oft genug schon die Hälfte (USA, Kanada, Großbritannien).20 Und selbst wer kein Benutzerkonto hat, muss damit rechnen, dass er dennoch irgendwo in den Datensätzen von Facebook Erwähnung findet: Freunde tratschen bei Facebook über abwesende Dritte und benennen deren Gesicht auf den Gruppen- und Partyfotos, die bei Facebook lagern. Eigentlich brauchen unsere Regierungen gar keine Volkszählungen mehr – sie müssen einfach nur höflich bei Facebook anfragen.

Und wer will es all diesen Menschen verdenken, dass sie so offenherzig mitspielen? Unterm Strich scheinen die meisten Gutes und Nützliches aus ihren Verhältnissen zu den bösen «Datenkraken» zu ziehen: Unterhaltung, Sozialleben, Selbstbehauptung. Nicht nur für die Internet-Riesen ist Datenschutz nur ein Lippenbekenntnis, sondern auch für die meisten ihrer vermeintlichen Opfer. Ein lockerer Umgang mit Informationen über andere ist längst nicht nur die Norm bei den Betreibern datensammelnder Webseiten, sondern auch bei den Nutzern untereinander.21 Datenschützer hoffen, irgendwann würde die Masse ihre Lektion lernen, irgendwann wäre der Bogen überspannt, irgendwann hätten alle die Nase voll von Erfassung, Durchrasterung und Verknüpfung ihrer Daten. Vor die Wahl gestellt zwischen dem Schutz ihrer Privatsphäre und einem Platz in der Neuen Welt, scheinen sich aber mehr und mehr Menschen für Letzteres zu entscheiden. So wurde im Mai 2010, aus Protest gegen die Datenschutz-Politik von Facebook, die bisher vermutlich größte öffentliche Kampagne zum Facebook-Austritt gestartet: der «Quit Facebook Day». Wie viele hatten am Ende dieses Tages geschworen, ihr Facebook-Profil zu löschen? Nicht einmal ein Zehntausendstel der Gesamt-Nutzerschaft.22

Hilfe, das Internet ist überall

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Anmerkungen

  1. ^ Siehe die jeweiligen Datenschutzerklärungen. Google: http://www.google.de/intl/de/privacy/privacy-policy.html Amazon: http://www.amazon.de/gp/help/customer/display.html/ref=footer_privacy?ie=UTF8&nodeId=3312401 Facebook: http://www.facebook.com/policy.php
  2. ^ Susan Su, «Facebook Now Reaches 687 Million Users – Traffic Trends, and Data at Inside Facebook, June 2011 Edition», 10. 6. 2011: http://www.insidefacebook.com/2011/06/10/facebook-now-reaches-687-million-users-traffic-trends-and-data-at-inside-facebook-gold-june-2011-edition/
  3. ^ Nick Burcher, «Facebook usage statistics 1st April 2011 vs April 2010 vs April 2009», NickBurcher.com, 5. 4. 2011: http://www.nickburcher.com/2011/04/facebook-usage-statistics-1st-april.html
  4. ^ James Grimmelmann, «Facebook and the Social Dynamics of Privacy», 2008: http://www.scribd.com/doc/9377908/Facebook-and-the-Social-Dynamics-of-Privacy
  5. ^ «We’re quitting Facebook»: http://www.quitfacebookday.com/