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Cover des Buches: Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre

Verlag C.H.Beck / 174 Seiten / 12,95€

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Christian Heller

POST-PRIVACY

Prima leben ohne Privatsphäre

Kapitel 6: Post-Privacy-Taktiken (Auszug)

[…]

Das Ugol’sche Gesetz

«Du bist nicht der Einzige.» So lautet das «Ugol’sche Gesetz», eine beliebte Formel in bestimmten Ecken der Netzkultur. Sie entstand Anfang der 1990 er Jahre in Diskussionsforen über sexuelle Vorlieben abseits des Mainstreams: Sadomasochismus, Fetischismus, Vergnügen an Spielen und Körperkonstellationen ungewöhnlicher Art.

In diesen Foren tummeln sich häufig Menschen, die bei sich eine bestimmte sexuelle Vorliebe entdeckt haben, mit der sie sich ziemlich allein fühlen. Also fragen sie: «Bin ich eigentlich der Einzige, der diese Vorliebe hat?» Das Ugol’sche Gesetz (benannt nach dem Foren-Teilnehmer Harry Ugol, der es formulierte) bezeichnet die Beobachtung, dass die Antwort auf diese Frage stets lautet: «Nein.»6 Egal, wie obskur ein Fetisch scheint: «Es gibt Leute, die haben den gleichen Geschmack. Sie haben deinem Fetisch diesen und jenen Spitznamen gegeben, unter dem du weiter recherchieren kannst. Es gibt Pornoseiten zu deinem Fetisch7 und Foren, wo sich Leute zu seinem Ausleben verabreden. All das findest du im Internet.»

Die Vielfalt menschlicher Neigungen ist groß. Dass eine Neigung bei einem auftritt, legt nahe, dass sie auch bei anderen auftreten kann. Nur: Wie finde ich zu denen?

Wer in einem Fünfhundert-Seelen-Dorf lebt und eine sehr spezielle Neigung weit abseits der örtlichen Norm hat, der wird es schwer haben, dort Neigungsverwandte zu finden. In einer Fünf-Millionen-Stadt sähe das schon anders aus. Die Chance, hier Neigungsverwandte zu finden, ist viel größer. Nehmen wir an, nur einer von fünftausend Menschen teile eine Vorliebe: Dann stünden (freilich verwirklicht sich ein Durchschnitt nirgends absolut) die Aussichten gut, dass in der Stadt Hunderte, vielleicht Tausende diese Vorliebe teilen.

Neigungsgruppen finden in Großstädten recht schnell zusammen – gerade auch solche, die sich in der Provinz versteckter halten müssen. Sexuelle Subkulturen abseits des Mainstreams pflegen in westlichen Großstädten breite Netze von Sexpartys, Fetischklubs, Stammtischen, Einsteigerabenden, Jugendgruppen. Wer sich hier mit seiner Abweichung von der Norm vorstellt, wird an die Hand genommen und zielgenau in eine Gemeinschaft der ihm Ähnlichen eingeführt.8

Die Größe gibt der Vielfalt Raum. Je größer und vielfältiger die Menge an Menschen ist, die die Stadt aufsaugt, je mehr Möglichkeiten die Stadt bietet, sich selbstbestimmt zusammenzufinden, desto eher findet Andersartigkeit hier sozialen Rückhalt – und in diesem sozialen Rückhalt Absicherung und Verstärkung.

Das Internet schließlich ist die größte Stadt. Sie umfasst mehrere Milliarden Einwohner – bald die gesamte Menschheit. Dass ein Interesse unter fünftausend einen treffe, das bedeutet hier locker: eine Million Menschen, die das Interesse teilen. Eine Großstadt in sich – die sich dementsprechend noch weiter ausdifferenzieren lässt. So findet selbst die obskurste Spielart einer für sich schon sehr speziellen Neigung noch eine ganze eigene Subkultur. So erfüllt sich das Ugol’sche Gesetz.

Das Ugol’sche Gesetz gilt selbstverständlich nicht nur für sexuelle Fetische. Es trifft auf Interessen jeder Art zu. Auch im Fünfhundert-Seelen-Dorf lässt sich vielleicht ein Stammtisch von Leuten finden, die gerne Tatort schauen. Im Internet dagegen gibt es Communities für jede noch so obskure Fernsehserie, jede noch so abseitige Verschwörungstheorie, jede vergessene Musikrichtung, jedes noch so verdrängte politische Anliegen, jede seltene Krankheit oder Behinderung. Egal, wie speziell du dich definierst – im Internet gilt: «Du bist nicht der Einzige.»

Es sind aber nicht bloß die großen Zahlen, die im Netz die Chance erhöhen, andere von derselben Sorte zu finden. Es sind die schlauen Such- und Vermittlungsalgorithmen, die mein Interesse erfassen und zu den passenden Stellen führen. Es ist das allgegenwärtige Plaudern und Sich-Mitteilen, das die Verschiedenheit der menschlichen Ansichten, Probleme, Erfahrungen und Wünsche in großer Breite abbildet und durchsuchbar macht. Es sind die sozialen Netzwerke, die Menschen entlang ihrer Datenanalyse einander als passend vorschlagen. Kurzum: Es ist die gegenseitige Durchsichtigkeit.

Es ist die Offenheit, mit der ich mit meinen Eigenschaften umgehe, die mich für andere als Träger dieser Eigenschaften auffindbar macht. Und es ist umgekehrt deren Offenheit, die es mir erlaubt, sie zu finden. Wären wir sehr viel zögerlicher und klammernder im Umgang mit unseren Daten, unsere Verknüpfung miteinander entlang unserer Neigungen fiele den Algorithmen sehr viel schwerer. Post-Privacy macht uns einander sichtbarer und ansprechbarer.

Sozialer Rückhalt gerade auch in einer Eigenschaft, in der ich weit ab vom Mainstream liege, gibt Stärke, Sicherheit, Selbstwertgefühl. Eben war ich in dieser Sache noch ein einsamer Sonderling, jetzt bin ich Teil einer Gemeinschaft, die sogar weiter reicht als der Mainstream, der mich vor Ort umgibt: Sie offenbart mir nicht nur Verwandte in der eigenen Stadt, sondern verteilt über den ganzen Globus. Sie hat Vertretungen in New York, Johannesburg und Tokio. Die globale Neigungsfamilie kann Scham und Einschüchterung durch so etwas Ähnliches wie Nationalstolz ersetzen – nur ist die Nation nicht mehr die eines Territoriums, einer regionalen Geschichte, sondern eines Hobbys, einer Perversion, eines politischen Kampfes, einer gesundheitlichen Herausforderung.

Die Post-Privacy, die es uns erlaubt, einander zu finden, muss nicht total sein. Gruppen, die aufgrund ihres Andersseins Verfolgung fürchten, nehmen zwar rege am Geschnatter und Erfahrungsaustausch im Netz Teil – oft aber nicht mit ihrem bürgerlichen Namen. Einen Teil von sich zu verhüllen gibt ihnen ein Sicherheitsgefühl, unter dem sie mit anderen Teilen von sich umso offener umgehen können.

Das Ergebnis lässt sich trotzdem als Post-Privacy beschreiben: Vieles, was vorher nur in finsteren Gassen verstohlen gemunkelt wurde, wird nun – unter Pseudonym oder gar anonym – sorglos in öffentliche Foren getragen. Und die Kraft einer solidarischen Masse erfordert nicht in jedem Fall, dass ihre Mitglieder als Träger bürgerlicher Namen erkennbar werden: Die Internet-Gemeinschaft «Anonymous» organisierte viele weltweite Proteste und Aktionen von beachtlicher Schlagkraft, obwohl ihre Mitglieder im Digitalen nur anonym oder pseudonym und im Analogen nur mit Maske auftreten. Einerseits ein demonstratives Versteckspiel – andererseits ein offensiver Schritt ins Öffentliche.

Aber was in die Post-Privacy drängt, zieht langfristig alles Verwandte mit: Wer zu viel von sich preisgibt, den verbergen irgendwann auch Pseudonym und Maske nicht mehr. Bis dahin hat das taktisch ausgewählte Enthüllen hoffentlich bereits die Ausgangslage in eine Richtung verändert, die die eigene Enthüllung erträglicher macht: kann Tabuisiertes zum Tagesgespräch erhoben worden, die gesellschaftliche Toleranzschwelle ausgetestet und gedehnt, die Tragweite der gegenseitigen Solidarität erprobt und gefestigt worden sein.

In engen, bedrückenden Gemeinschaften ist die Privatsphäre des Einzelnen ein Garant, an wenigstens einem Ort anders sein zu können als die Mehrheit. In der offenen Weite des Netzes gibt es sehr viel mehr Anknüpfungspunkte für das Anderssein jenseits der Privatsphäre: Abweichungen vom Mainstream meiner regionalen Umgebung werden durch sozialen Rückhalt im Globalen bestärkt. Andersheit und sozialer Rückhalt, das schließt sich hier viel weniger aus als in der Enge eines Dorfes.9

Solidarität und Transparenz

[…]


Anmerkungen

  1. ^ Für eine ausführliche Besprechung von «Ugol’s Law», die Harry Ugols den Begriff begründendes Posting in alt.sex.bondage einschließt, siehe: http://everything2.com/title/Ugol%2527s+Law
  2. ^ Siehe hierzu auch die nur halb scherzhaft gemeinte «Rule 34», die besagt, dass es zu jedem denkbaren Thema im Netz Pornografie gebe.
  3. ^ Zu urbanen Netzwerken schwuler Subkultur, siehe z. B. Woltersdorff, S. 247–250. Für Beispiele der BDSM-Subkultur, siehe z. B. die Kapitel «Fast wie im richtigen Leben – SM-Gruppen und Vereine» und «In schlechter Gesellschaft – SM-Partys und andere Lustbarkeiten» in: Kathrin Passig, Ira Strübel, Die Wahl der Qual. Handbuch für Sadomasochisten und solche, die es werden wollen, Reinbek 2004.
  4. ^ Für eine eher kritische Sichtweise auf diese Netz-Dynamik als eine, die den Kampf um öffentliche Akzeptanz eines Andersseins durch eine Zufriedenheit mit dem eigenen Ghetto ersetze, siehe: Woltersdorff, S. 198–207.