Buch: Günter Gaus, "Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung" / 1983. Darin wird wohl der Begriff der "Nischengesellschaft" erfunden, deshalb lese ich es, in Verbindung zu meinem PostPrivacyBuchProjekt.
Lektüe-Notizen:
- "Altes Unglück":
- Wir sind Anfang der 80er und die Welt ist unübersichtlich, Sicherheiten fallen, die Grundfesten der Gesellschaft zerbröseln, die Zukunft stimmt sorgenvoll. Drei Jahrzehnte BRD waren für die (West-)Deutschen eine Verschnaufspause vom Deutschen Unglück, aber sie waren eine falsche Sicherheit, die nun ins Wanken gerät.
- Die BRD ist eine pragmatische, seelenlose Staatskonstruktion, die sich in ihrem Frieden, ihren Lebensbedingungen auf äußere Kräfte stützt, sich von den Amerikanern verteidigen lässt, ihr Herz statt in der eigenen Geschichte in einem Europa sucht, das aber eigentlich auch nur eine weitere wirtschaftsbürokratische Technokratie ist.
- Die BRD ist nicht die europäische Normalität. Die anderen Europäer haben ein rüstiges Bewusstsein nationaler Identität, Geschichte, Kultur; die BRD fürchtet sich davor. Die anderen europäischen Nationen tragen den Kampf der Ideologien in sich aus; die BRD erklärt einfach die Kommunisten zum anderen Staat und Verfassungsfeind und hält so die Frage für geklärt.
- Doch die äußeren Kräfte bieten uns in der BRD keine anhaltende Sicherheit mehr. Um für die kommenden Herausforderungen gewappnet zu sein, müssen wir lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, auf einem eigenen Fundament aus Geschichte und Werten und Traditionen -- also all das, was die BRD seit dem Wirtschaftswunder an Opportunismus und "Stunde Null"-Ideologie geopfert habe.
- Dieses stärkende Fundament, das kann die BRD nur finden in einer Rückbesinnung auf: "Deutschland". Das Deutschland, das eigentlich in uns, unter uns brodelt und unsere Fragen und Probleme formt, nur dass wir halt uns anlügen und es verleugnen. Und dieses Fundament kann die BRD finden, indem sie sich auch über die DDR als Identitäts-Einheit begreift.
- Die Rechten sind Opportunisten, die Linken sind Ideologen. Die Rechten strafen die Deutsche Frage hinter ihren Lippenbekenntnissen mit nüchterner Gleichgültigkeit. Die Linken sind gefangen im Deutschen Selbsthass, wollen Deutschland so schnell als möglich an Europa opfern. Aber vielleicht eine Chance: ein neues nationales Bewusstsein durch die Deutsche Friedensbewegung!
- Die DDR, die ist sicher kein Paradies, aber die BRD interessiert sich zu wenig für sie. Der BRD-Bürger parliert lieber mit Franzosen als mit Brandenburgern -- ein schwerer Fehler. Denn die da drüben, die sind noch eher im Deutschsein verwurzelt als wir, in ihren privaten Bräuchen, in ihrer Bodenhaftung. BRD, öffne dich den Herzen der DDR, damit du deinen Halt in Deutschland wiederfindest!
- Davon abgesehen, ist die Wiedervereinigung natürlich Humbug, Utopismus. Auf absehbare Zeit außer Frage. Was nicht heißt, dass nicht deutsch-deutsche Beziehungen einen deutschen Raum wiederbeleben können. Auch, sagt Gaus, natürlich schreibe ich "Mitteldeutschland". Ich will die Ostgebiete ja nicht wieder haben. Aber, "Ostdeutschland" sagen, das ist Ideologie, die mir unnatürlich scheint.
- "Staatsvolk der kleinen Leute":
- Anders als im restlichen Ostblock musste das Bürgertum nur von der einen Straßenseite zur anderen ziehen, um dem Sozialismus zu entfliehen. Sie mussten -- im Gegensatz zu anderen Migranten -- nicht groß sich neu orientieren; umso umfassender ihre Flucht. So blieb der DDR nur die Arbeiterschaft beziehungsweise das Kleinbürgertum.
- Es ist nicht so sehr das SED-Regime, das dem Besucher aus dem Westen Unbehagen verursacht, als diese Kleinbürgerlichkeit der DDR. Der Blick vom Westen in den Osten ist der von der einen Klasse in die andere, der von großbürgerlichen Kosmopoliten auf die verwurzelten Kleinen Leute. Deren Andersheit resultiert nicht nur direkt aus der Regierungs-Arbeit.
- Die BRD schnellte aus der Nachkriegszeit rapide in ein neues Universum, klar orientiert am liberalen westlichen Konsumismus, blendete durchs Wirtschaftswunder ihre Herkunft aus. In der DDR dagegen haben sich die Bedingungen vergleichsweise langsam verändert. Hier herrscht stärker ein Geist vor, der immer noch auf die Ideen und Erfahrungen der NachkriegsZeit verweist.
- Es ist eben nicht nur ideologische GehirnWäsche, die die breite Bevölkerung der"MittelDeutschen" mit Marxismus, Kommunismus, Rosa Luxemburg sympathisieren lässt. Es ist ein direkteres Anknüpfen an '45 und die Kämpfe der Weimarer Republik. Sie sind "links" vor allem relativ zu einer BRD, die ihr politisches SelbstVerständnis gerade im AntiKommunismus sucht.
- Den kleinen Leuten fehlt der westdeutsche Standes-Dünkel, die AbstiegsAngst der MittelSchicht die sich ständig ihrer gesellschaftlichen Stellung versichern muss. Es gibt jenseits der Partei kein Streben nach Oben, keine SelbstBehauptung durch zur Schau getragenen Wohlstand. Geld haben bringt nicht viel weiter, Beziehungen sind viel wichtiger.
- Nur in der Partei schnuppert Gaus Karrierismus. Hier geht es fast zu wie in westlichen Firmen-Etagen.
- Natürlich schaut man WestFernsehen, aber es formt nicht zu WestBürgern. Man pflegt einen auch kritischen Blick nach Westen. Man erkennt in der eigenen Gesellschaft Errungenschaften dem Westen gegenüber. Der Westen wird, nicht zu Unrecht, in vielerlei Hinsicht als reaktionär wahrgenommen. Er ehrt Ernst Jünger und verdammt Rosa Luxemburg.
- In gewisser Weise hat es der Osten besser. Hier hängt man nicht dem Konsumismus nach, dem JugendWahn, hier verleugnet man nicht die eigene Geschichte und Tradition. Der Sozialismus hat die Gesellschaft nicht utopisch niedergesäbelt; der alte Mensch ist hier immer noch der alte Mensch, mehr als im Westen.
- Die SED wuselt für sich. Vieles im Osten ist anders als im Westen, aber das liegt mindestens genauso am Westen wie am Osten. Die BRD hat sich ebenso fremd gemacht, wie die Menschen in der DDR gleich geblieben sind.
- Die Partei betreibt keine marxistische Theorie. Kommunisten an der Macht sind nur noch Pragmatiker, die ihre Dogmen auswendig können. Vom regen linksintellektuellen Diskurs anderswo keine Spur. Theorie-Armut der DDR. Die Regierung kennt ihr Auswendig-Gelerntes, das Volk vertraut auf sein BauchGefühl.
- Die DDR ist kein stalinistisches KonzentrationsLager. Die Menschen leben mit dem Regime arrangiert und mit ambivalenter Bewertung ihrer Situation. Nicht im staatstragenden Liberalismus zu leben, heißt nicht automatisch, ins Unglück zu stürzen. Sie würden gerne frei reisen und wohlhabender sein, aber die Meisten sehen ihre Lage eher mit praktischer Sorge statt in ideologischem Ereifern.
- LobLied auf die Schönhauser Allee. Gaus beschreibt sie ganz genauso, wie sie auch heute noch ist. Nur vielleicht mit einer leicht anderen sozialen Zusammensetzung.
- "Honeckers Partei":
- Wenn wir uns die SED vorstellen, oder sagen wir besser: das ZK, das PolitBüro, also die obere Spitze, dann müssen wir uns alte Kommunisten vorstellen, deren prägende Erfahrungen in den 20er Jahren liegen. Die Gründerväter der DDR waren zum Teil Adenauer-Generation, also noch spätes 19. Jahrhundert.
- Am Tisch mit den bürgerlichen Kosmopoliten mangelt es den SED-Funktionären an Unbeschwertheit, am lockeren Parlieren. Sie sind sozialisiert mit Politik als tödlichem Kampf nach oben, serious business, Verteidigung ihrer Lebens-Projekte. Eine Ernsthaftigkeit durchzieht sie, vergleichbar auf BRD-Seiten nur mit Herbert Wehner, mit seinem ähnlichen Hintergrund.
- Was im Neuen Deutschland geschrieben wird, muss durchaus im selben Maße ernst genommen werden wie die Westdeutsche Presse, nur halt auf andere Weise. Es ist nicht einfach ein Lügenblatt; es ist ernstgemeinte ideologische Scholastik. Jedes Wort hat ein Gewicht. Lesen wir es mit Ernst, um die SED zu verstehen. Ganz anders das gefällige Geblubber der westdeutschen Presse.
- Die Hemmung der SED-Politiker gegenüber BRD-Politiker werden verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die prägenden zwei Jahrzehnte zum Aufbau ihres politischen Projektes jene waren, in denen Adenauer-Deutschland nicht müde wurde, ihnen jedes Recht abzusprechen, ja, regelrecht nach ihrer Vernichtung zu rufen. Verletzte, Bedrohte können mit Ironie nicht umgehen.
- Auch die Kommunisten betreiben Politik nicht als Übermenschen-Projekt, bemühen sich zuweilen redlich aber mit Mängeln. Der Diskurs im PolitBüro wird sicher anders geführt als der in der parlamentarischen Demokratie, aber er ist nicht unbedingt diktatorisch. Niemand fürchtet mehr Stalin und Gulag. Er ist aber auch fraktionsloser: Alle hier haben den selben Hintergrund, glauben ans selbe.
- An Ulbricht mochten wir sein dämonisches Maß. Honecker verachten wir dafür, nur ein Mensch zu sein, ein pragmatischer; und dass er kein Fernseh-Format hat. Dabei sei er in kleiner Runde durchaus feinsinnig, informiert. Gaus lobt die intellektuelle Qualität der Gespräche mit ihm; kein rascher Schlag-Abtausch, sondern überlegtes Diskutieren.
- "Nischengesellschaft":
- Der Großteil des Lebens findet für den Ostdeutschen in der privaten Idylle statt. Am Besten in der Datsche. Hier sucht er seine Freiheit, und hier findet er sie auch: Der Staat lässt ihn hier in Ruhe, wenn er nicht grad groß auf öffentlichen Dissident macht. Auch den Volkspolizisten fürchtet man hier nicht. Man weiß, wie weit man gehen kann, und wird auch gelassen.
- Die Dissidenten, die Verstoßenen ... Naja, das sind eher Einzelfälle. Weiß Gaus auch nicht, was die falsch gemacht haben. Aber ist die Duldung des Andersseins im Westen denn so viel größer? Wird nicht auch in der BRD gegängelt und gezüchtigt? Müsse man nicht die Außenseiter jeweils selbst fragen, ob sie glaube, ihre Freiheit sei hier größer als da?
- In den Nischen, im Privaten leben die Menschen noch sehr viel deutscher, spießiger, konservativer. Ihnen wurde nicht der Kopf verdreht vom Amerikanismus. Alte Verhaltensregeln bewahrt, zum Teil spießiger als die SED. Kopfschütteln darüber, wie teilweise im westdeutschen Fernsehen mit Autoritäts-Personen umgesprungen wird.
- Aber auch in der Nische: Idylle, Ernsthaftigkeit, Bodenhaftung, Sorgfalt, Ehrerbietung, Würde, Tiefe. Nicht nur flüchtiges VorbeiSchauen wie im Westen, sondern lange Nachmittage des BeisammenSeins. Wie oberflächlich, wie kurzlebig dagegen es im Westen inzwischen oft zugeht!
- Der Westen hat sich ja ganz und gar selbst entwurzelt, sich entleibt und sein Heil, nein, nicht mal in gemeinsamen Traditionen mit seinen westlichen Nachbarn, sondern gleich in einer verrohten Interpretation Amerikas gesucht. Im Osten dagegen behält man für sich die Distanz zum Iwan, keine Annahme eines sowjetischen Identitäts-Angebots. Die Sowjets bleiben auch brav in ihren Kasernen.
- Nur zaghaft die Entstehung von Jugendkultur im Osten. Honeckers konsumistische Liberalisierung mit Disko, Motorrad und Lederjacke. Keine Idolisierung der Jugend, kein bürgerlicher Jugendwahn. Die verbleibende Klasse im Osten bringt die Jugend traditionell schnell in den Ernst des Lebens statt ein SelbstFindungsJahrzehnt. Kleine Spur von Aries.
- Überhaupt das Bejammern ostdeutscher Unfreiheit als bürgerlicher PrivilegienSport. Die Unterschicht hat sich noch nie groß in freier BerufsWahl und professioneller SelbstErfindung gesehen; sie ist froh, wenn der Staat AusbildungsPlätze zuweist. In der BRD ist es halt keine direkte staatliche UnFreiheit, sondern die des Numerus Clausus und der notwendigen UmSchulung weil kein ArbeitsPlatz gefunden.
- Gaus: Ja, ich gehöre ja zu euch, westdeutsches Bürgertum, ich will ja auch nicht drüben leben. Aber nicht alle sind ja wie wir, ich kann mir vorstellen, für den Proletarier muss die DDR nicht unattraktiver sein, jedenfalls, wenn ja jetzt die schale Freiheit, die falsche, die geborgte soziale Sicherheit der BRD in der Krise langsam abbröckelt, der SozialVertrag sich aufkündigt.
- Die bundesdeutsche Freiheitlichkeit ist oft schal, konstruiert, eine der Privilegierten oder auf Pump; im Osten pflegt man nicht die gleichen Illusionen, hat zwar ein linkes BauchGefühl verinnerlicht, sieht seine Freiheit aber mehr als privat-selbstgemacht an als auf die Ordnung des Systems zu vertrauen, ihre Predigten zu verinnerlichen, wie das im Westen geschehe.
- "Deutsch-deutsche Beziehungen":
- Die EU, äh, die EWG führt uns weg von unserer deutschen Identität. Ein Wirtschafts- und Verteidigungs-Bündnis, das die Spaltung zwischen den beiden Staaten nur noch vertieft. Zu viel Orientierung am Westen.
- Falsch auch die Ost-Politik von Schwarz-Gelb: Kredite an die DDR geben und gleichzeitig konservativ von Wiedervereinigung rumschwallern -- in Moskau! Gaus dagegen hat die Erfahrung gemacht: Voran kommt man mit der DDR eben nicht nur mit Geld, es muss auch die Politik stimmen, der Ton. Einfühlsamkeit. An die konkreten Bedingungen der Menschen denken, an die gemeinsame Identität!
- Lob für Alexander Schalck-Golodkowski. Überhaupt, der SED-Apparat, der mag ja ziemlich paranoid sein, aber hey, das sind wenigstens keine Aufmerksamkeitshuren. Das sind pflichtbewusste Funktionäre. Im Westen dagegen: Da geht es vor allem um Selbstdarstellung, um Wahlkampf. Da ist man nicht richtig informiert, aber führt große Reden. Schalck war immer genau und gut informiert.
- Gerede von Menschenrechten ist bürgerliche PrivilegienPimmelei. Die sind auch nicht alles bzw. den Fragen heute in ihrer liberalen Formulierung selten adäquat. Soziale Probleme, nicht Probleme der Bürgerrechte.
- Wenn die BRD mehr Rücksicht und Einfühlung nimmt mit den Befindlichkeiten der SED, kann sie mehr für die Menschen dort tun als über kalte egoistische Geldpolitik. Aber ach, den Linken ist Deutschland egal und die Rechten träumen von den Grenzen von 1937. Gaus fordert dagegen ein skeptisches, aber eben doch nationales Gefühl. Er spürte es in seinem Herzen wachsen, als er mit den Menschen drüben sprach.
- "Aussichten":
- Die Friedensbewegung, ach, die Friedensbewegung. Gut und richtig, aber sie wird sich zerlaufen, wie jede linke Protestbewegung. Und dann: Ja, es wird wohl zum Krieg kommen in Europa. Man hört schon die Relativierungen seiner Unkalkulierbarkeit. Die totalitären Antikommunisten säbelrasseln halt so lange, bis Moskau keine andere Wahl bleiben wird.
- Nein, wir dürfen nicht auf Destabilisierung im Osten hoffen, auf den Zusammenbruch der dortigen Verhältnisse, aufs Kaputt-Rüsten. Wir müssen endlich akzeptieren, dass Moskau eine Weltmacht ist mit Gleichgewichts-Anspruch gegen Washington. Wir müssen die Blöcke-Ordnung akzeptieren, sie gibt uns Sicherheit, sie gibt uns Frieden, sie muss noch lange währen, damit kein Chaos ausbricht.
- West-Europa muss gaullistischer werden, muss aufhören, nur Amerikas Raketenschirm zu sein, muss eine eigene Politik machen, die Moskau anerkennt, mit Moskau Verträge schließt, Mittel-Europa durch ein Entgegen-Kommen wieder fruchtbar macht. Warum übrigens kein französischer Nuklear-Verteidigungsschirm statt ein amerikanischer?
- Amerika hat längst jeden revolutionären oder solidarischen Elan verloren. Es ist Moskau, das im Zweifel bei den Unterdrückten steht.
- Die Rede vom "Ende der Geschichte", schon Gaus kennt sie; warnt davor, ihre Ratlosigkeit leite über in ein Verlangen, wieder Geschichte zu machen, also: große politische Umwälzungen, um die Spannung und Ratlosigkeit zu lösen. Doch Europa kann nur gerettet werden, wenn es auf den Frieden und das Akzeptieren und friedliche Verbessen des Ist-Zustandes setzt.
Warum ist „Lebens-Projekte“ kein CamelCase?