Paul Betts: "Within Walls. Private Life in the German Democratic Republic."
Lektüre-Notizen:
- "Introduction":
- Autor muss erstmal vor einem Bild der DDR als erfolgreich totalitärem Gestapo-Staat warnen, in dem es gar keine Privatsphäre gegeben habe. Das Bild ist in der angloamerikanischen Welt offenbar verbreiteter. Ein paar Absätze fühlt es sich so an, als wolle er dem erbauliche Ostalgie entgegenstellen, aber später wird's dann doch noch komplexer.
- Ein paar Absätze zur Ideologiegeschichte der Privatsphäre, deren Quellverweise ich begierig aufsauge. Oh je, da hab ich noch viel zu lesen! Z.B. eine mehrere tausend Seiten umfassende fünfbändige Reihe namens "A History of Private Life", die vom Alten Rom bis ins 20. Jahrhundert reicht und offenbar aus Frankreich stammt.
- Die liberal-verrechtlichte Privatsphären-Ideologie z.B. der BRD wurde nicht zuletzt als Geste gegen den Ostblock gepflegt: Bei uns würdigt man Privatsphäre, bei euch wird sie systematisch ausgelöscht!
- Später dann, ab der Tauwetterzeit: Günter Gaus' "Nischengesellschaft"-These: Vor den Greueln des Staatssozialismus zieht sich das gemeine Volk in kleinbürgerliche Privatsphäre zurück und findet dort die urdeutsche Gemütlichkeit, die dem modernisierten Westen abhanden gekommen sei. Eine Romantisierung, die die Ostalgie des wiedervereinigten Deutschlands vorweg nimmt.
- Die DDR lernte, ihre anfänglichen totalitären Ambitionen aufzugeben, und umarmte schließlich die Privatsphäre-Vernarrtheit ihrer Bürger, erhob sie zum Teil ihres Gesellschaftsvertrags. Ein Kompromiss, der beiden Seiten Ruhe voreinander versprach.
- "I. Secret Societies, Public Institutions, Private Lives":
- "1. Tyranny of Intimacy: The Stasi and East German Society":
- Autor verwehrt sich dagegen, die gesamte DDR-Repressionskultur auf die Stasi zurückzuführen. Zu gern habe man persönliche Verantwortung auf eine Diktatur durch einen offenbar fertig aus dem Nichts entstandenen, oder von Außen aufgezwungenen, "Staat im Staat" abgewälzt.
- Tatsächlich sei die Stasi erst langsam und organisch erwachsen, aus Dagewesenem -- deutsche Blockwart- und Politspitzel-Kultur bis zurück ins Kaiserreich -- und als Reaktion auf neue Situationen: Als der Kalte Krieg sein Tauwetter erlebte, empfand ein Ostblock-Staat wie die DDR bald weniger das Ausland als direkte Bedrohung, als vielmehr die durch Helsinki und Glasnost in ihren Ansprüchen gestärkte eigene Zivilgesellschaft.
- Am Anfang glaubte der Staat noch an die Wirksamkeit öffentlicher Kontrolle, die sozialistische Umerziehung, die Durchschlagkraft der Ideologie bis ins Privatleben, dessen Auflösung. Die Stasi ufert aus im offenkundigen Scheitern dieses Anspruchs. Anstatt die privaten Fluchträume vor der Ideologie offensiv einzureißen, werden sie nun heimlich durchspitzelt, verunsichert, vermint.
- Die Stasi verschiebt die staatliche Kontrolle von einer immer entleerteren öffentlichen Sphäre ins Private, sie macht aus ihr ein Geschäft der Privatsphäre: Kontrolle durch persönliche, intime Beziehungen, Privilegien, Ängste. Die Arbeitsmittel der Stasi sind nicht Erziehungslager und Todeskommando, sondern Freundschaften und Ressentiments, Datschen und Urlaubsreisen und Karrieren, Alkoholismus und außereheliche Affären. Ihren Mitarbeitern gab die Stasi engsten persönlichen Halt.
- Der Psycho-Terror der Stasi ist ein privatistischer. Man bringt subtil Unordnung ins Heim des Opfers, vertauscht die Gewürzdosen, zersetzt den Ehefrieden, schürt Zwist und Misstrauen unter Freunden.
- Die Heimlichkeit der Stasi ist die Stärke ihres Terrors. Sie fördert die Paranoia der Opfer, die sich von ihr noch bis in die harmloseste Geste ihres Umfelds verfolgt fühlen, ja, sogar glauben, die Stasi könne ihre Träume mitlesen.
- Ein puritanischer Filter bestimmt die Postenbesetzung. Stärker noch als der Lebenswandel der Subversiven interessiert die Stasi der Lebenswandel der Parteimitglieder, und der Stasi-Mitarbeiter selbst. Wer Karriere machen will, muss ein Leben führen, das einwandfrei, sauberst ist, muss verheiratet und ehetreu sein und stets ordentlich und rasiert auftreten. Ehefrauen beschwerten sich bei der Behörde über ihre Ehemänner, mit guter Aussicht darauf, dass die Behörde deren Lebenswandel korrigiere.
- Die Stasi war noch die eindeutig männlich dominierte Institution in der DDR. Frauen durften hier nur Tippse oder Sex-Lockvogel machen.
- Der Großteil der DDR-Bevölkerung fand sich mit der Stasi als einer unerfreulichen Belästigung ab. Unvoreingenommener, unbeschwerter sozialer Umgang miteinander im größeren Kreis geriet so unmöglich, nur in engster familiärer Intimität konnte man sich noch unkontrolliert fühlen, darum führte man diese Beziehungen umso intensiver. Bestimmte Fern-Medien wie Telefonate oder Briefe wurden mehr für die Mitleser/Mithörer geführt als für das menschliche Gegenüber und verloren so ihren Gehalt.
- Erst die ideologische Kontrolle der Öffentlichkeit, dann die Stasi-Okkupation jeder erweiterten Sozialsphäre formten, schufen, stärkten eine eigene Form der Privatsphäre in der DDR, als Flucht, als Ventil ihrer Bürger, und schließlich sogar vom Regime geduldet und genehmigt als beruhigender Abfindung und gelegentlich einzusetzendem Hebel.
- "2. East of Eden: Christian Subculture in State Socialism":
- Eigentlich stellte sich die SBZ gegenüber der Kirche zu Anfang recht freundlich, schon um das Volk nicht zu verschrecken. Man erinnerte sich an Toleranz-Versprechen aus früheren Allianzen und ließ ihr Landbesitz, ganz im Gegensatz zum übrigen Ostblock. Die Kirche zuckte mit den Schultern und dachte sich: Gib Ulbricht, was des Ulbrichts ist, und ansonsten innere Emigration.
- Im Verlauf der 50er zeigte sich dann aber doch die Unvereinbarkeit zweier Ideologien, die jede für sich einigermaßen totalitär das Leben der Menschen bestimmen wollten: Der Staat möchte ins Privatleben und Gewissen der Leute reinreden, zu deren Verteidigung sich die Kirche vor allem deshalb berufen sieht, weil sie dort ihr eigenes Macht-Monopol verortet.
- Im Westen vermied die Säkularisierung den Konfrontationskurs mit den Macht-Ansprüchen der Kirche länger. Im Osten gab's recht schnell unchristliche Familienlebensratgeber, liberales Scheidungsrecht und die Jugendweihe. Die Kirche ragiert, und der Staat steht gegenüber ihrer reaktionär pochenden Stirn erstmal kühl als aufgeklärter Modernist da.
- Die Kirche setzt ihre Schäflein unter Druck: Entscheidet euch zwischen unseren Institutionen und denen der DDR, beides geht nicht! Wer die (von der DDR erstmal als freiwillig und Glaubens-neutral dargestellte) Jugendweihe mitmacht, wird nicht konfirmiert und kann für den Rest seines Lebens auf unsere Sakramente verzichten. Die Rhetorik und der Psycho-Druck der Hausbesuche seitens der Kleriker wird härter und härter.
- Irgendwann Ende der 50er hat das Regime die Schnauze voll und schaltet auch seinerseits auf Konfrontation. Atheismus wird zur Staatsreligion, vom Schulunterricht bis zur Jugendweihe der Glauben runtergemacht, Christen werden gestresst, gemobbt. Langfristig sitzt das Regime am längeren Hebel.
- Die Christen dazwischen werden zerrieben und scheinen irgendwann die Schnauze vom Ideologiekampf gründlich voll zu haben. Die Kirche hat sich erfolglos verausgabt und isoliert und verliert an sozialer Bedeutung, der Glaube wird zur Privatsache, die man selbst den eigenen Kindern nicht mehr allzu sehr aufhalsen will. Die einzige kirchliche Institution, deren Beliebtheit sich gegen die Säkularisierung behauptet: das Begräbnis. Der Hoffnung aufs Jenseits weiß der materialistische Staat weder Erpressung noch Versprechen entgegen zu setzen.
- Einen christlichen Haushalt, den habe man nicht am Kruzifix erkannt, sondern am individuelleren, eklektischeren, selbstgebauteren Möblierungsstil, der die DDR-Standards ablehnt. Allgemein bot das Christentum eine kulturelle Kontinuität zu jenseits dem Sozialismus und dadurch Ideologieflucht und Eigenständigkeitsraum.
- In den 70ern ist der Ideologiekampf vorbei. Der Sozialismus hat einen Pyrrhus-Sieg errungen: Die Jugendweihe ist vom Volk breit angenommen, aber zum privaten Konsumfest umgemünzt worden, die Ideologie übergähnt man. Im Zuge demonstrativer Liberalisierung gibt sich das Regime auch der Kirche wieder etwas toleranter.
- Die Kirche schafft es, auf den Helsinki-Zug aufzuspringen und sich als liberaler Hort der Zivilgesellschaft neu zu erfinden. Die Liberalität geht so weit, dass man verfolgte Homosexuelle und Punk-Konzerte beherbergt -- jetzt dreht man den Spieß erfolgreich um und lässt den Staat als den aggressiven Intoleranzling dastehen. Das Kreuz verspürt wieder einen Aufwärtstrend, gegenüber einem immer maroderen Staat übernimmt die Kirche immer breiter zivilgesellschaftliche Aufgaben.
- "3. Intimacy on Display: Getting Divorced in East Berlin":
- Kleine deutsche Ideologiegeschichte des Scheidungsrechts bis '45: unter protestantischem Geist und napoleonischen Einflüssen schon im 19. Jahrhundert säkularisiert, aber stark patriarchal: alle Freiheit für den Mann. Weimarer Republik liebäugelt man mit weiterer Liberalisierung, und die Nazis werden dann ganz pragmatisch: Ehen sind gut, solang sie arischen Nachwuchs erhöhen, Scheidung ist immer möglich, wenn sich da mit anderem Partner mehr verspricht.
- Hohe Scheidungsrate unter vom Krieg gezeichneten Ehen. Man hat voreilig geheiratet, sich voneinander entfremdet, wenig Lust zum Sex zwischen verrohten Kriegsheimkehrern und Russen-vergewaltigten Ehefrauen, Untreue-Vorwürfe en masse, und außerdem hält sie die Hausruine nicht rein! Die Ansprüche an die Ehe als Fluchtort nach den zerstörten Lebenssystemen sind groß und unerfüllbar.
- DDR bekennt sich recht früh zur Nuklearfamilie als hohem Staatsideal fürs Leben ihrer Bürger, sozialistischer Sonderfall. Solides Familienleben gibt dem Arbeiter Rückhalt und sichert so auch seinen Erfolg im Betrieb ab; gern gesehen sind innerbetriebliche Ehen. Geduldeter Scheidungsgrund: wenn das Familienleben sich auf die betriebliche Leistungsfähigkeit negativ auswirkt.
- In den 50ern/60ern bemüht sich DDR um Erhalt von Ehen und interessiert sich sehr für den Hausfrieden. Scheidungsprozesse sind auch ein guter Anlass zum Reinhören ins familiäre Privatleben; mal Sozialarbeiter vorbei zu schicken, die sich alles ansehen. Gar nicht so einfach, die Richter davon zu überzeugen, dass ein legitimer Scheidungsgrund vorliege; die wollen auch Zeugenaussagen hören von Nachbarn und Arbeitskollegen über Verhalten und den Belastungszustand der Prozessierenden.
- Eher soll an der Ausräumung von Scheidungsgründen gearbeitet werden als an der Scheidung selbst. Viel wird an den guten Willen der Ehepartner appelliert; der untreue Ehemann muss sich auch schonmal auf Gespräche im Betrieb einstellen, wo der Kollegenrat ihm einen Lebenswandel nahelegt. Gern interpretiert das Gericht als Scheidungsgrund Reste kleinbürgerlich-egoistischen Geistes im Lebensstil, vor allem, um vom Staat zu verantwortende materielle Unpässlichkeiten als Gründe abzulehnen.
- Ab den 60ern/70ern zunehmende Liberalisierung. Zum Schluss ist man stolz auf die hohe Scheidungsrate: Seht her, bei uns ist man selbsbewusst und lässt sich nichts gefallen; der sozialistische neue Mensch weiß halt, was er will und was nicht. Auch gilt Frauen-Emanzipation und Umerziehung der Männer weg vom Sexismus jetzt als Staatsaufgabe. Typische Männer-Scheidungsgründe (sie ist ungehorsam) werden weniger akzeptiert, Frauen-Scheidungsgründe (er ist roh zu mir) dagegen schon eher. Hohe Frauenquote unter Scheidungsrichtern.
- Sexuelle Liberalisierung. Ehe- und Sexualberatungen und vor allem viele Sex-Ratgeber erfreuen sich großer Beliebtheit. Sexuelle Selbstbestimmtheit ihrer Bürger ist eine der Sachen, auf die die DDR mit Stolz verweist.
- In den 80ern hat der Staat alle Umerziehungs-Illusionen aufgegeben und winkt nahezu alle Scheidungen durch, ohne großes Interesse für die Gründe, mit einer Ausnahme: wo er das Wohl eines Kindes gefährdet sieht. Angleichung an westliche Situation.
- "II. Domestic Ideals, Social Rights, Lived Experiences":
- "4. Building Socialism at Home: Remaking Interiors and Citizens":
- Deutschland ist ein Traum für Architektur-Ideologie-Historiker: Grob jedes zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wollte hier die neue Staatskultur alles monumental neu bauen im radikal neuen politischen Geiste. Vom Vorher bleiben immer genug Reste übrig, und jetzt lassen sich so ziemlich alle Ideologien der Moderne im Stadtbild bewundern.
- Nach '45 findet der Wiederaufbau sein Ziel in Ost wie West im Bild des heilen Heims. Beide Systeme wettstreiten, wer das schneller und besser hinkriegt. Ostberliner fahren massig in den Westen, um sich Ausstellungen übers amerikanische Wohnen anzugucken; das DDR-Regime ist angepisst und versucht, seinen Bürgern einzubleuen, dass im Kapitalismus nur die oberen Zehntausend so wohnten, der Rest dagegen im Elend.
- Der Westen hat in den 50ern massenproduzierbare Bauhaus-Moderne als Wohn-Gestalt für sich gepachtet. Die DDR, um sich von Nazis wie Westen abzugrenzen oder weil Ulbricht gelernter Möbel-Tischler mit Privatgeschmack ist, setzt dagegen auf bourgeoisen, teils "kritisch überarbeiteten" Traditionalismus. Der Internationale Stil entfremdet den Arbeiter, Biedermeier dagegen gibt Heimattreue und Geborgenheit! Die Fassaden der Stalinallee entsprechen sowjetischem Trend seit den 30ern.
- In den 50ern träumt die DDR von enger räumlicher Zusammenführung privater Wohnbereiche mit Orten der Gemeinschaft und des Konsums, alles schön in einen Block zentralisiert, als Gegensatz zum Auseinanderfallen in westlichen Städten. Dazu passt, dass Technologie, Küche, Wäsche aus den Privatwohnungen raus und in Gemeinschaftsbereiche hinein geplant werden.
- In den 60ern folgt man verspätet Chrustschows Vorgabe einer billiger und dafür breiter zugänglich produzierbareren Moderne, und dann gleich richtig: Super-Bauhaus, gerade in der DDR mit Blick auf Westen und Schweden. Der Plattenbau ist präfabriziert und verringert Gemeinschaftsräume zugunsten von Privatwohnungen mit eigener Küche. Das Wohnzimmer wächst auf Kosten des Schlafzimmers. (Wesentlich früher hielt man sich übrigens eher in der Küche statt im Wohnzimmer auf, denn hier war's wärmer!)
- Der DDR-Modernismus der 60er ist auf der Höhe seiner Zeit und erhält auch Lob aus dem Westen. Plastik und Bunt statt vereinfachten hölzernen Chippendale-Stühlen. Die DDR verspricht ihren Bürgern Konsumismus und arbeitet gar nicht so ungekonnt an dessen flippigen Oberflächen. Trotz offizieller Emanzipations-Predigt liebt in seinen Katalogen die Frau noch vor allem die Küche.
- Bis in 60er kleinbürgerliche Benimm-Ratgeber im Trend, Knigge für den Arbeiter. Revolution der Wirtschaft sollte den Proleten eigentlich von selbst zivilisieren, aber bisschen nachhelfen kann ja nicht schaden. Auch hier wird der Frau zu fraulichem Auftritt geraten. Manche Stellen finden die Büchlein arg konservativ, wobei sie vor allem deren Einbezug religiöser Sitten meinen. Immerhin, im Gegensatz zum Westen gibt es auch Hinweise fürs Bett. Öffentliches Umerziehungsprojekt, in den 70ern fallengelassen.
- Ab den 60ern/70ern sorgt sich der Staat immer mehr um die privaträumliche Zufriedenheit seiner Bürger. Umfragen, Konsumentenforschung, Hausbesuche; Ergebnis: mangelnde Liegefähigkeit von Wohnzimmersofas brütet Discontent. Und der besorgt, könnte schließlich den gesellschaftlichen Frieden stören.
- In den 60ern/70ern, nach der Mauer, mit der Ausweitung des Privatwohnungsraums gegen den Gemeinschaftsraum -- überhaupt spart sich die DDR immer mehr Gemeinschaftsangebote -- startet der Rückzug ins Private durch, bis hin zur Datschenkultur. Die Datsche sei ein russisches Wort für ein deutsches Lebensgefühl, schreibt einer, und meint damit gründliches In-Ruhe-gelassen-Werden. In Moskau dieweil baut sich die Intelligentsia ihre Gegen-Öffentlichkeit in gemütlichen abendlichen Küchen-Besuchen untereinander.
- Teil des Rückzugs vor der sozialistischen Öffentlichkeit ist auch das Gucken von Westfernsehen. Irgendwann findet sich die DDR nicht mehr nur mit der Datsche ab, sondern sogar hiermit: Wenn sie Westen gucken, wird ihre Sehnsucht nach dessen Welt abgebaut, vielleicht verlieren sie sogar die Lust an ihm? (Ist aber nicht aufgegangen.)
- "5. Property, Noise and Honour: Neighbourhood Justice in East Berlin":
- Im Gegensatz zum liberalen Westen misstraute das DDR-Regime Legalismus und juristischer Klasse. Insofern offener für nachbarschaftlich / aus Laien zusammengesetzte "Schiedskommissionen", die nach eigenem Ermessen unterhalb der Gesetzbücher hantieren konnten, wenn es um Nachbarschafts-Streits, kleinere private Vergehen usw. ging.
- Schiedskommissionen waren ein vom Staat implementierter Hauch von Zivilgesellschaft: Hier konnten verschiedene Bürger und Haushalte ihre Verhältnisse untereinander regeln, ohne sofort auf das Gewaltmonopol rekurrieren zu müssen. Nichtsdestotrotz steckte dieses die Grenzen ab und nutzte die Protokolle zum Erkenntnisgewinn über seine Bürger.
- Zivilgesellschaftliche Impotenz der Schiedskommissionnen: keine kritische politische Öffentlichkeit (Versammlungsfreiheit, freie Presse), sondern stets nur insular auf die Klärungen von Gartenzaun- und Hausfriedens-Konflikten beschränkt. Teil des Stillhalte-Abkommens: Wir gewähren euch Autonomie zwischen euren Datschen, und ihr gebt euch damit zufrieden.
- Zugleich erwartete das Regime von den Schiedskommissionen eine erzieherische Wirkung, die Demonstration sozialistischer Werte, die Verdammung von Überbleibseln imperialistischer Werte als Ursache zwischenmenschlicher Konflikte. Konfliktparteien lernten aber schnell, ihre eigenen kleinbürgerlichen Egoismen in die hehre Sprache sozialistischen Zusammenlebens zu verpacken und den Gegner als Asozialen zu denunzieren.
- Schiedskommissionen Teil eines größeren staatssozialistischen Trends bis in die UdSSR, bei der Abschaffung des Privateigentums ein "persönliches" Eigentum abzusondern und zu respektieren, von Nippes und Familienerbstücken bis zur Datsche. Sozialismus enteignet das Kapital, das Persönliche aber darf bleiben, und so entfällt auch Erbschaftssteuer (im Westen dagegen: Erbschaftssteuer, denn Eigentum verpflichtet). Kein durchgängig radikaler Kurs gegen bürgerliche Persönlichkeitswerte, oft vielmehr deren Behauptung.
- Die von der DDR beschützten bürgerlich-kleinbürgerlich Persönlichkeitswerte -- Eigentum, Familie, Ehre --, waren gesellschaftlich ungefährlich. Versprechen und Durchsetzung von "Ruhe und Frieden" in diesen Dingen des Privaten gegen Störungen von Nachbarn, Straße, Umwälzungen waren schon immer eine anti-revolutionäre Strategie deutscher Staaten seit dem 19. Jahrhundert. Markant, dass sich ihrer nun auch die DDR bedient.
- "6. Socialism's Social Contract: Individual Citizen Petititions":
- Die individuelle Petition an die Obrigkeit ist ein altes Instrument der Beziehung zwischen Bürger und Staat, rückverfolgbar bis ins Alte Rom. In der Neuzeit ursprünglich als demokratischer Wert propagiert, erfährt sie später verdächtig viel Vorliebe in autoritären Systemen und im Absolutismus. Das direkte Band zwischen Untertan und König, ohne den Umweg über eine Volksbewegung, Partei oder Öffentlichkeit.
- In der BRD setzte sich die individuelle Petition als Instrument nicht durch, nur die ans Parlament gerichteten Massen-Petitionen. In der DDR dagegen, und überhaupt im ganzen Ostblock, breitet sie sich stark aus und wird zum Nächstbesten einer politischen Öffentlichkeit: Zwar wendet sich vor allem der Einzelne, privatistisch isoliert, an den Staat, nicht das Kollektiv; dafür wird hier aber Tacheles geredet über Unzufriedenheit mit der oft als unzureichend empfundenen staatlichen Ausgestaltung von Lebensbedingungen.
- Das DDR-Regime setzt auf die "Eingabe" als Ventil für Unzufriedenheit des Volkes: Wird im Einzelfall geholfen, entsteht vielleicht kein Flächenbrand. Dementsprechend ernst wird der Anspruch dieses Instruments genommen, seine Benutzung ermutigt und die Bürokratie mit Nachdruck angehalten, darauf einzugehen. Auch die UdSSR erklärte den hartherzigen Bürokratismus zum Feindbild, insoweit er das Band zwischen Volk und Staat gefährdet.
- An Eingaben ist natürlich auch kühl, dass der Staat durch sie viel erfährt über die Lebensumstände, Problembestände seiner Bevölkerung. Gibt ja keine freie Diskurs-Öffentlichkeit, aus der er das sonst ablesen könnte.
- Der Eingaben-Tonfall bis in die 60er ist eher unterwürfig, bettelnd. Ab den 70ern verspricht der Staat mehr, und dementsprechend steigen auch die Forderungen; die Engpässe der Nachkriegszeit sollten jetzt überwunden sein, der Sozialismus selbst bekennt sich doch zum Konsumismus, außerdem: Helsinki, später Glasnost. Eingaben allerdings, die in letztere Richtung allzu liberalistisch Rechte einfordern, werden pauschal ignoriert.
- Zum Ende der DDR nehmen Eingaben zu, werden kollektiver, im Tonfall fordernder, zynischer. Manchmal veröffentlichen Zeitungen sie sogar. Vorher glaubte der Bürger noch ans Stillhalte-Abkommen: Staat gibt Wohlfahrt, Bürger fordert keine politischen Rechte oder politische Öffentlichkeit. Nun steigt aber das Empfinden, dass der Staat seinen Teil des Abkommens nicht einhält. Mit Schwinden dieses Vertrauens wendet man sich mehr und mehr anderen Körpern wie etwa der Kirche zu. Die Eingabe-Öffentlichkeit scheitert und weicht einer richtigen, zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
- "7. Picturing Privacy: Photography and Domesticity":
- Der größte Fotograf der DDR war die Stasi. Sie waren auch die Einzigen, die die Mauer fotografieren durften. Und sie fotografierten natürlich heimlich verdächtige Personen wie Wolf Biermann -- sowie, wenn sie mal vorbeischauten, deren Wohnungen. Sowie alle konspirative-Treffen-geeigneten Stellen auf Stadt und Land. Als Gegenbewegung zur Stasi-Fotografierwut in vielen Gegenkulturen CCC-like Fotografie-Paranoia.
- In den 50ern und 60ern vor allem fördert der Staat kollektivistisch-utopische Propaganda-Fotografie grinsender Arbeiter und Betriebe, und notfalls ist das Grinsen reinretuschiert. Sozialistischer Realismus ist optimistisch! Nebenher gibt es noch Privatfotografen, die nüchterner die Wirklichkeit einfangen, aber die finden sehr viel schwieriger zahlende Abnehmer und vergraben schlimmstenfalls ihre Negative aus Angst vor der Stasi.
- Mit der Aufgabe des großplanerischen Weltumbau-Utopismus in den 70ern kehrt die DDR-Fotografie auch dem Draußen und dem Betrieb den Rücken und widmet sich nun Privatwohnungs-Innenaufnahmen, die harmlose Ruhe zeigen. Das nach wie vor und immer stärker verfallene Draußen zu fotografieren, gilt nun als Subversion; heil sieht die sozialistische Gesellschaft nur noch am Wohnzimmertisch aus.
- Die Privatwohnungs-Aufnahmen der DDR-Fotografen sehen alle ziemlich nach der Biedermeier-Periode aus, bis auf eine Ausnahme: Das Fenster nach Draußen (DDR) spielt keine Rolle. Dafür der Fernseher (BRD).
- Kühlstes Foto: Gundula Schulze Endowy, Lothar (1983)
- "Epilogue: 1989, Civil Rights and the Reclamation of Private Life":
- Am Ende hat die DDR wieder eine Öffentlichkeit, eine aus Helsinki und den zur privaten Nische denunzierten Bereichen z.B. der Kirche erwachsene. Das "Ich" der Eingaben wird zum "Wir" der Demonstranten, die '89 den Dresdener Hauptbahnhof stürmen.
- Die friedliche Revolution der Leipziger Demonstranten begegnet ihrer Impotenz, als dann die großen Männer und Institutionen über ihre Köpfen hinweg hinter verschlossenen Türen die Wiedervereinigung planen; enttäuscht wird man sich mit der Wende nun wieder vom öffentlich-politischen Leben abwenden und im Chaos der nächsten Jahre vor allem wieder auf intime Bande wie die Familie als Sicherheit setzen statt auf breitgesellschaftliches politisches Engagement.
- Kampf um StasiLeaks: Volk stürmt Ostberliner Stasi-Bastille, doch Kohl/CDU wollen erbeutete Akten zugunsten des sozialen Friedens vernichten. Erstmal sperrt man sie weg. DDR-Bürger fühlen sich verarscht, sehen im Wegschließen der Papiere künftiges Erpressungspotential durch ihre Inhalte, wollen die eigenen Akten sehen. Erkämpfung dieses Rechts bemerkenswerter Erfolg verglichen mit übrigen Ostblock-Staaten und gegen das westlich-liberale Insistieren auf der Nicht-Denunziation der in den Akten genannten Informanten.
- Die friedlichen Leipziger Bürgerrechtler konnten sich nicht mit der Wut messen, die daraufhin Enthüllungen über das Luxus-Leben von Stasi und Nomenklatura im Mob provozierten. Soziale (materielle) Ungerechtigkeit brachte Volkes Stirn immer noch mehr zum Pochen als abstrakte Menschenrechte.
- Joachim Gauck und sein Demokratie-Idealismus: Der individuelle Einblick in die eigene Stasi-Akte soll die demokratische Persönlichkeitsbildung stärken. Nach-Wende-Bücher erforschen die Psyche des Ostdeutschen, seine eigene Variante der "autoritären Persönlichkeit", und ihre mangelnde Einpassbarkeit in die westlich-liberal-demokratische Ordnung.
- "Aktenneid": Ich frage die Gauck-Behörde nach meiner Akte und die antwortet mir, es gibt gar keine. Ich war der Stasi zu unwichtig, nicht nonkonformistisch genug. Sad :-(
- Der Blick in die eigene Akte schockiert viele Leute. So ein tiefes Durchforsten ihrer Privatsphäre hatten sie nicht erwartet -- und vor allem nicht von diesen Leuten. Rückblickend wird nun die eigene Biografie in der DDR neu konstruiert.
- Die Erinnerung der geschützten Lebens-Nischen gegen den Staat macht den DDR-Bürger anschlussfähig dem liberalen Privatsphäre-Begriff des Westens. Dass seine Nischenwelt eine meist vom Staat geduldete, ermöglichte, geförderte war und Teil eines gegenseitigen Stillhalte-Abkommens, verdrängt er dabei gern. Post-Wende erklären selbst Partei- und Stasi-Obere ihr Leben und Treiben zur Nischengesellschaft, die Unterdrückung kam immer von den Anderen.