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PostPrivacyEthik

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Momentan noch nicht (wenn Sie dies lesen aber vielleicht schon) freigeschalteter Kommentar vom 2010-12-08 als Antwort auf http://faz-community.faz.net/blogs/deus/archive/2010/12/07/dotcomsomolzen-steigen-dir-aufs-dach.aspx

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Den Menschen als ethische Forderung das aufzuerlegen, was sie nicht wollen (z.B.: ihre Privatsphäre aufzugeben), verdient kritische Prüfung. In dem Satz kommen wir sicher erstmal zueinander.

Eine solche ethische Forderung muss man aber, denke ich, scheiden von der beobachtbaren Wirklichkeit: Die Privatsphäre der Menschen erodiert, ob sie das wollen oder nicht. Dadurch entstehen neue Anforderungen an die Lebensführung. Die Frage, wie ich ein gutes Leben führen kann, braucht neue Lösungsansätze. Kurzum: eine neue Ethik.

Für die Entwicklung einer solchen Ethik muss ich mich zuerst umschauen, wo für ein gutes Leben Probleme entstehen und wie sie gelöst werden können -- und, auf welchen Grundlagen das passiert. Was sind die Vorteile der Privatsphäre, die verloren gehen, und was sind ihre Nachteile, von denen man befreit würde? Was sind die Gefahren einer Post-Privacy, die auf uns zu kommt, und was sind ihre Chancen? Dass auf beiden Seiten Lobenswertes wie Bedauerliches aufzufinden sei, halte ich (ohne erstmal eine Aussage über die Gewichtung zu treffen) auch noch für ziemlich konsensfähig.

Für eine Ethik unter Bedingungen der Post-Privacy muss ich aus dieser Analyse dann eine Strategie entwickeln, um das Gute zu stärken und das Schlechte zu schwächen. Wenn wir annehmen, dass Privatsphäre auf dem absteigenden Ast ist und eine Post-Privacy auf dem ansteigenden, dann bietet es sich vor allem an, die wahrgenommenen Vorteile der Post-Privacy stark zu machen gegen ihre Nachteile. Und das geht, denke ich, nicht, ohne positive Entwürfe eines Post-Privacy-Lebens zu entwickeln, experimentell zu erforschen, zu propagieren und vorzuleben; negative kennen wir ja schon zur Genüge, und unter dem Stichwort "1984" lassen sie sich gut summieren.

Die spannendere Frage ist sicherlich, wie eine solche Ethik mit der zwar (zumindest nach Behauptung dieses Arguments) absteigenden, aber nicht von heut auf morgen völlig verschwundenen Privatsphäre umgeht: Soll sie auf sie eintreten, sie zum Feind erklären? Soll sie sie als noblen Ritter respektieren, auch wenn sein Kampf verloren ist? Soll sie sie so lange schützen wie möglich? Hierauf gibt es, selbst in der Post-Privacy-Front, in die ich eingeordnet werde, sicherlich verschiedene Antworten, und auch oft Fall-abhängig; ihre Findung erfordert viel analytische, empirische und experimentelle Arbeit. Und hier mag es auch Fälle geben, wo der Schutz von Privatsphäre sich mit der Stärkung einer positiven Post-Privacy beißt, vielleicht sogar einer negativen Post-Privacy zuarbeitet -- zum Beispiel, wo Datenschutz die Starken mehr schützt als die Schwachen, was unter allgemeinen Post-Privacy-Trends aufs Bentham'sche Panoptikon zulaufen mag.

Zuallerletzt kann es natürlich auch sein, dass eine Analyse von Privatsphäre und Post-Privacy zum Schluss gelangt, dass ersterer letztere in jedem Fall vorzuziehen sei; und dass folglich, selbst wenn der Wechsel von ersterer zu letzterer nicht unvermeidlich wäre, eben diesem trotzdem zugearbeitet werden müsse. Das wäre, denke ich, die radikalste Post-Privacy-Position. Sie würde einen ethischen Imperativ legitimieren, Menschen gegen ihren Willen Post-Privacy aufzuzwingen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass diese Position im derzeitigen Diskurs ausschließlich und ausdauernd von überhaupt irgendeinem Teilnehmer vertreten wurde. Was nicht heißt, dass sie falsch sein muss; aber, wie gesagt, jede Ethik, die Menschen etwas gegen ihren Willen oder ihr Können als Forderung auferlegt, verdient einen besonders kritischen Blick.

Wenn es der gemeinsamen Ideen- und Situations-Verständnis-Entwicklung hilft, bin ich aber gern bereit, auch immer mal wieder diese Extrem-Position zu vertreten.

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Danke für die Antwort, Hochverehrter Gast!

Was die argumentative Opportunität betrifft: Ich halte es für den Diskurs wenig ergiebig, sich auf etwas Anderes zu werfen als die Qualität vorgebrachter Argumente. Ob derjenige, der Thesen vorbringt, mit tiefstem Herzen an sie glaubt, scheint mir ein unergiebiger Maßstab zu ihrer Bewertung. Ich erwarte auch von einem Wissenschaftler nicht, dass er einen tiefen mystischen Glauben an seine Thesen hat, sondern eher, dass er sie der Diskussion und Widerlegbarkeit stellt -- und stets für die Möglichkeit offen ist, sie könnten falsch sein. Dass immer mal wieder Thesen vorgebracht werden, die unsinnig klingen, halte ich für gut und notwendig: Trial and Error.

Was mir an den übrigen Kommentaren auffällt: Mit welcher Beharrlichkeit eine bestimmte Vorstellung von Privatsphäre und Datenschutz als anthropologische Konstante behauptet wird: "in jeder Generation", "seit der Mensch sprechen kann", "durch den vollständigen Verlust der Privatsphäre würde" der Mensch "lebensunfähig". Die Geschichte des modernen Menschen dauert nun schon so einige Jahrtausende und umfasst auch nicht nur unseren Kulturkreis. Wo sind die anschlussfähigen Datenschutzdiskurse der Renaissance (Don Alphonso findet sicher ein paar gute Zitate!), des Mittelalters, der Antike (aus der der Begriffe des "Privaten" ja kommt), der Urvölker?

Die modernen Datenschutzdiskurse scheinen so richtig jedenfalls erst in der jüngeren bürgerlichen Gesellschaft zu reifen, unterm Druck der Massenmedien im 19. Jahrhundert. (Die "Stanford Encyclopedia of Philosophy" verweist z.B. als Beginn auf "The Right of Privacy" (Warren, Brandeis 1890).) Das weist meines Erachtens darauf hin, dass es weniger um einen ewig-natürlichen Kampf des Menschen geht, als um ein Schutzrecht, das in einer sich informationstechnologisch verändernden Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt als Bewältigungs-Strategie dem ja schon immer sehr anpassungsfähigen Menschen naheliegend und machbar schien. So leicht sich verändernde Bedingungen den Datenschutz hoch hoben, können sie ihn dann aber auch wieder fallen lassen.

Und dass sich derzeit die informationstechnologischen Bedingungen so radikal verändern, dass der Sockel des Datenschutzes ins Wackeln gerät, scheint mir nicht von der Hand zu weisen. Da mag noch so viel gepredigt werden, dass ein anderes Leben als jenes, welches das Bundesverfassungsgericht uns mit dem "informationellen Selbstbestimmungsrecht" zusichert, nicht duldbar sei: Die Wirklichkeit ist erfahrungsgemäß der größte Übertreter menschgemachter Gesetze, den es je gab. Und auch, dass es Gegenbewegungen gibt, reicht mir nicht als Gegenbeweis: Die von Violandra verlinkte jugendliche Strategie des Facebook-Superlogoff ist ein kühler Hack, und natürlich stürzt sich nicht gleich jeder willig in den völligen Daten-Exhibitionismus. Aber wenn wir die Weite der über die Menschen zirkulierenden Datenmenge an einem Zeitstrahl messen, von was wenn nicht von einem exponentiellen Anstieg lässt sich dann im Informationszeitalter sprechen? Kein neues Datenschutzgesetz und kein massenhaftes Gelöbnis zum Facebook-Boykott konnte in dieser Kurve bisher auch nur eine Delle erzeugen.

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2010-12-09:

"da steht also jemand in meiner Tür, zwängt den Fuß rein und rüttelt und zetert", "mir eine neue Ethik aufzwängen"; Allgemein habe ich den Eindruck, da wird einigen Berliner Bloggern eine Militanz in der praktischen Durchsetzung ihrer Thesen vorgeworfen (mitsamt auf sie ausgesetzten Kopfgeldern), als würden sie mit fasces durch die Stadt laufen und jeden totschlagen, der es wagt, im derzeitigen Winter angezogen statt nackt nach draußen zu gehen. Oder reicht das heute tatsächlich schon zur Militanz, einen Fotoband mit den schönsten Berliner Hausfassaden herauszugeben und ein paar hyperbolische Rants in sein Blog zu schreiben? Da würde die 70er-Jahre-Stadtguerilla sich aber im Grabe umdrehen, wenn sie das hörte :-) Ich kann's ehrlich gesagt besser verstehen, wenn man sich über die Post-Privacy-Reden von Mark Zuckerberg und Eric Schmidt echauffiert. Schließlich sitzen die tatsächlich an Hebeln normativen Drucks. Zitieren aber eher selten Hannah Arendt.

ad ThorHa: 1) Daten sind ein Hebel, um vorher Unbekanntes freizulegen. Stichwort Datamining, Amazon-Empfehlungen, SleepingTime.org. Je mehr datierte Geo-Koordinaten, Einkaufs-Erfassungen, Tages-Rhythmen usw. usf. ich über die Menschen habe, mit desto größerer Sicherheit kann ich Aussagen über Teile ihres Privatlebens treffen, die sie direkt gar nicht offen legen. Dass ein anwachsendes Meer an zirkulierenden Daten selbst harmlos anmutender Natur über das Leben von Menschen ihre Privatsphäre unter Druck setze, halte ich also für eine durchaus plausible Einschätzung.
2) Ich bestreite ja nicht, dass sich immer wieder kleine oder große Ausweich-Hacks auftun. Ich bestreite nur, dass sie einen messbaren Druck gegen den Gesamt-Trend aufbauen. Ohne konkrete Anzeichen auf den einen großen Datenskandal zu hoffen, der endlich ein zivilisatorisches Umdenken bewirke, erscheint mir zumindest nicht weniger spekulativ und apokalyptisch als meine Post-Privacy-Thesen.
3) "Die Menschheitsgeschichte kann ohne grosses Verbiegen auch gelesen werden als den fortdauernden Versuch des Individuums, die grösstmögliche Kontrolle über sein eigenes Leben und dessen Umstände zu gewinnen. Gegen Autoritäten, gegen die Natur, gegen wohlstandsverhindernde wirtschaftliche Systeme." Das klingt mir alles ein bisschen zu sehr nach bürgerlichem Subjekt, Psychologie und Freiheitsbegriff der Moderne. Und die können wir bis zum Anbeginn der Menschheit nachweisen? Ich möchte auch mal mit auf so einen Zeitmaschinen-Trip ins Neolithikum!

ad loco: Danke für die Beispiele Laterankonzil und Hippokratischer Eid. Die schwebten mir noch nicht so recht durch meine Gedanken. Werd ich mich mal näher mit beschäftigen müssen! Aber wie ja selbst angebracht: Das klingt in erster Linie nach einem Interesse, Informationen zu entlocken; nicht, sie zu schützen. (Auch Mark Zuckerberg predigte am Anfang noch, Facebook lege wert auf reichhaltige Privatsphären-Geheimhaltungs-Möglichkeiten seiner Nutzer, gerade damit die Menschen sich sicher genug fühlten, im Facebooks eigenem geschützten Garten ihre Informationen reichhaltig zu teilen.) Das mag die Reaktion auf eine gewisse Grunderwartung von Privatsphäre sein. Wie genau diese Vorstellungswelt aber beschaffen gewesen sein mag, darüber wüsste ich gern noch mehr.

ad Robert: "So recht mögen die angesprochenen übrigens nicht antworten, wenn man ihnen den „Zwang zur Offenheit“ vor Augen führt – gleichgültig ob bei Carta oder direkt im Blog des Herrn Seemann." Ich gehöre zu den Angesprochenen, und ich antworte gerade, aus der Tiefe meines "privaten Rückzugsraums" heraus! :-) Davon abgesehen, hat natürlich jeder von uns nur ein begrenztes Zeitkontingent, um auf das gesamte Internet zu antworten. Und vermutlich ermüdet es auch, milde re-phrasiert den selben Einwurf zum tausendsten Mal vorgesetzt zu bekommen, auf den man schon zigmal geantwortet hat. Die grundsätzliche Aufgabe, eine Antwort auf Gegenargumente parat zu haben oder zu entwickeln, eliminiert das freilich nicht. Vielleicht müssen wir, gegen die Redundanz, das ganze argumentative Hin und Her mitsamt den Standard-Punkten mal referenzierbar und übersichtlich irgendwo zusammenführen?

ad Hochverehrter Gast: Die negative Porträtierung des höherentwickelten Hive Mind "Borg" in "Star Trek" ist übrigens nur Propaganda der Föderation -- ihrerseits ein militaristisches Kollektiv aus dem 23. Jahrhundert, das sich oft genug als gewaltbereiter Feind alternativer Lebenskonzepte erwiesen hat. Q wusste schon, warum er die Menschen für gefährlich hielt!

P.S.: Irgendwie hat FAZ.net nicht das tollste Kommentar-Markup, oder?

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2010-12-10:

Zum Thema anwesende Post-Privacy-Befürworter: Ich habe irgendwann aufgehört, dem hiesigen Kommentar-Diskurs zu folgen, als es nur noch darum ging, wer oder was denn nun Faschist oder Totalitarist sei; weder wie ethisches Überlegen oder selbst Polemisieren, noch wie das Abfotografieren von Häuserfassaden einen bereits zu einem davon machen sollen, ist mir bisher eingegangen :-) Ansonsten bin ich aber noch immer hier. (Also, mit "hier sein" meine ich, ich habe diesen Thread in einem Tab in meinem Browser offen und re-loade ihn regelmäßig.)

Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass die Aufregung vor allem sich auf das "filtersouveräne" "Recht des Anderen" an den individuellen Informationen stürzt. (Die man vielleicht wirklich lesen könnte als eine *moralische Verpflichtung* zum Exhibitionismus.) Meine Thesen gehen ja eher in die Richtung, dass wir den Verlust der Geheimhaltungssicherheit über unsere Daten hinzunehmen lernen und unser Leben so einrichten müssen, dass es unter diesem Druck nicht kollabiert; und dass wir dabei versuchen sollten, diverse Chancen der Post-Privacy für uns fruchtbar zu machen; dass im Ergebnis eine post-privatere Welt die bessere sein kann; dass eine Form von Exhibitionismus durchaus auch eine Selbsthilfe-Strategie sein kann.

Den Schluss zu einem filtersouveränen, bedingungslos zu erfüllenden Recht des Anderen auf alle nur denkbaren von mir auch nur *erzeugbaren* Informationen halte ich dabei noch nicht für zwangsläufig; habe mich mit dem in diese Richtung ausgelegten Ast der Seemannschen Schule aber wohl auch noch nicht hinreichend auseinandergesetzt, um sein volles zwecks Verteidigung notwendiges Verständnis zu beanspruchen. Für letzteres wäre ich also im Augenblick vermutlich ein ungeeigneter Vertreter.

Sucht ihr also einen Advokat für das im unmittelbar letzten Absatz Beschriebene, kann ich nicht dienen. Für das davor vielleicht schon.

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2010-12-11:

Hochverehrter Gast! Meine Kritik am Datenschutz hat nicht das alleinige Ziel, ihn zu disqualifizieren. Soweit ich ihn in seiner "Ideologisierung" kritisiere, stört mich sein gelegentlicher Auftritt als Dogma, als moralische Daten-Metaphysik, aus sich heraus wahr und richtig, in ihrem Durchsetzungsrecht nicht in Frage zu stellen -- so mein Eindruck etwa von der 26c3-Eröffnungsrede, auf die ich am Anfang meines Carta-Artikels verweise. Ein solcherart verabsolutierter Datenschutz führt als Problemlösungs-Ansatz meines Erachtens in die Irre: Er verspricht falsche Sicherheiten, konzentriert Arbeit auf Symptome statt Ursachen und lässt sich zu leicht anti-emanzipatorisch missbrauchen. Wer sich darauf versteift, verbaut sich alternative Lösungswege und geht Nibelungentreuen ein, über die er an späterer Stelle noch stolpern wird -- zum Beispiel, wenn Datenschutz mal eben Informationsfreiheit, Redefreiheit, Transparenz aussticht.

Andererseits gestehe ich gerne ein, dass Datenschutz im bisherigen und auch noch derzeitigen Kontext vielen Menschen nutzt, viel Schaden verhütet; und daher fordere ich auch keineswegs seine völlige Abschaffung von heute auf morgen. Ich glaube nur, dass unter den derzeitigen Trends seine positive Wirkung langfristig ab- und seine negative zunimmt. Bis wir im fehlerfrei-jenseitigen Himmelreich der totalen Post-Privacy (höhö) angekommen sind, gönne ich ihm aber gerne noch ein Recht als pragmatische *Option* neben anderen. Nur sollte man halt wachsam sein, dass man sich mit dieser in einer bestimmten Situation nicht mehr Schaden als Nutzen ins Haus holt. Ich fordere, ihn nicht um seiner selbst Willen als gut zu betrachten.

Was an so einer Post-Privacy-Welt *besser* sein könnte (anstatt einfach nur "auch erträglich")? Ich werd mal etwas rum-utopisieren. Die utopische Alternative zum dystopischen "jede Normabweichung wird erfasst und bestraft" wäre: "die Normen müssen lässiger werden, damit die Gesellschaft nicht auseinanderbricht". Eine Welt, in der vieles Anderssein nicht mehr schamvoll versteckt werden muss, wäre IMHO eine bessere; und Post-Privacy könnte hierzu den Druck liefern. Eine Post-Privacy-Welt könnte auch eine informiertere sein, also eine aufgeklärtere und eine, die ihre Lösungsfindungs-Algorithmen mit sehr viel mehr, sehr viel ehrlicheren Daten füttern kann. Sie könnte transparenter sein, was (auch wenn Transparenz sicher nicht die Auflösung aller Machtverhältnisse ist) viele Erpressungs-Wege der Stärkeren gegen die Schwächeren verbauen würde. Und außerdem, und jetzt trage ich den futuristisch-theologischen Pathos mal besonders dick auf, würde sie die Verschaltung unser aller Erfahrungen und Intelligenzen in den großen integrierten Weltgeist, der mit der menschlichen Kultur seit Jahrtausenden wächst und im Internet dieser Tage eine neue Stufe erreicht, enorm vorantreiben -- für mich durchaus ein positives Bild. (Drin vor: Alles in diesem Absatz bis auf den letzten Satz ist naiv. Der letzte Satz schließlich ist wahnhaft und gefährlich!)


ThorHa, mir scheint, unsere Einschätzungen der Plausibilität einer Post-Privacy-Entwicklung gehen an den folgenden Prämissen auseinander:

Sie (Entschuldigung, ich finde das sehr gewöhnungsbedürftig, in Internet-Kommunikation jenseits von Mail-Verkehr mit Behörden zu siezen) scheinen mir als Faktor der Entwicklung sehr auf den erklärten Willen zu setzen, die Meinungen, die Intentionen der einzelnen Menschen: Kaum jemand außer einigen Sonderfällen bekennt sich zum Exhibitionismus, also warum sollte er auf dem Vormarsch sein? Stattdessen weiß doch jeder lautstark seine Privatsphäre zu schätzen, werden Google Street View und die Datensammeleien von Facebook mit Argwohn betrachtet. Was gegen diesen Willen steht, hat der Volksvertreter folgerichtig illegalisiert. Die Menschen wollen sie nicht, das Recht verbietet sie, also wird der Post-Privacy Einheilt geboten; wo noch nicht hinreichend, da steht es zwangsläufig bevor, es fehlt nur das konkrete, aber unvermeidliche katastrophale Erweckungserlebnis für die "passive und wenig informierte Masse von Datenquellen (Menschen)", "die sich mangels passender Aufreger mehr an ihrer kurzfristigen Bequemlichkeit als an anderen Überlegungen orientieren".

Für mich dagegen zählt als Indiz erstmal nicht so sehr, was der Einzelne als seinen Willen erklärt, als was er denn konkret tut und in welche Situation ihn sein sozial-technologisches Eingebundensein setzen. Bald ein Zehntel der Menschheit (eine halbe Milliarde) vertraut dem (inzwischen kann man ihn wohl so nennen) Post-Privacy-Dienst Facebook seine Daten an, und ich finde es leicht arrogant (nicht im moralisch verächtlichen, sondern im Erkenntnis-verbauenden Sinne), das auf die Naivität und Kurzsichtigkeit der Massen zu schieben -- die meisten dieser Menschen haben ja konkreten Nutzen, den sie für sich aus Facebook ziehen, sei es Sozialität, sei es Spiel und Spaß, sei es Selbstbestätigung, sei es "Convenience", und den gewichten sie halt praktisch höher. Insofern halte ich es für gewagt, anzunehmen, sie müssten nur mal die Wahrheit erkennen und ihre Interessen besser reflektieren, dann würde diesem Zustand schon Einhalt geboten. Dass sich trotzdem viele lauthals über Facebooks lockere Datenmoral beschweren, ist nicht mehr als eine leere Geste, ein Lippenbekenntnis, so lange dem keine tatsächlichen Handlungen folgen.

Auch dass die Privatsphäre erst da bedroht werde, wo Gesetzesverstöße geschehen, halte ich einerseits für zu kurz gedacht, andererseits für irrelevant gegenüber der Frage, ob ein Trend zur Post-Privacy stattfinde. Einerseits kann niemand abgrenzen, in welcher verdrehten und auch von Gesetzen nicht vorhersehbaren Weise Daten, die er selbst von sich freigibt, noch zum Hebel gegen seine Privatsphäre werden können. Andererseits kommen die Gesetzgebungen aus der Welt von Nationalstaat und Aktenschrank der digitalen Wirklichkeit eh kaum hinterher, stehen zu den relevanten Fragen quer, greifen entweder gar nicht oder verbieten genaugenommen gleich jeden digitalen Atemzug; werden folgerichtig von der digitalen Zivilisation schlichtweg ignoriert. Dass eine Bedrängung der Privatsphäre durchs Daten-Zeitalter gegen irgendein Gesetz verstoße, ist also kein wirksames Hindernis. Die Daten-Vorgänge wildern unaufhaltsam herum, ob die Parlamente nun zustimmen oder nicht.

Kurzum, in meinem Weltbild ist der antreibende Faktor die technologisch-kulturelle Eigendynamik, nicht der erklärte individuelle menschliche Wille. Letzterer ist eher Folge statt Ursache (und seine Autonomie nur eingeredet). Meines Erachtens zeigt diese Dynamik einen Trend zur Post-Privacy. Mag sein, dass dieser Trend nicht perfekt "linear und ungebremst" (Hochverehrter Gast) verläuft, bisher sieht es mir aber im big picture ziemlich danach aus. Nehmen wir diesen Trend an, können wir uns natürlich berechtigt Sorgen darüber machen, inwieweit er Werte bedroht, die uns wichtig sind. Mein Ansatz ist: diese Werte unter den gegenwärtigen Umständen hinterfragen, auf ihren Fortbestandswert abklopfen und das, was übrig bleibt, in einer Weise verändern / neu erfinden, die unter der Gewalt dieser neuen Richtung nicht zerbricht, vielleicht sie sich sogar zu eigen machen kann.

Was ich übrigens für einen sehr guten Kritikpunkt halte: das "Dogma" der Anonymität. Eine elegante Lösung für dessen Kompatibilisierung mit Post-Privacy-Utopien sehe ich noch nicht, obwohl ich selbst ein großer Fan der Dynamik bin, die die Anonymität im Netz entfaltet. Mein noch nicht hinreichend entwickelter Arbeits-Ansatz zur Erhaltung dieser Dynamik unter Post-Privacy: die Bedeutung für die individuelle, persönliche Identität als Autoren-Ballast von Text kulturell schmälern. Euch als Post-Privacy-Kritikern kann ich nur empfehlen, auf diesem wunden Punkt stärker rumzureiten :-)

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2010-12-14:

Ich glaube zwar, dass wir uns Richtung Post-Privacy bewegen, aber ich glaube nicht, dass diese Bewegung *in jedem Fall* positiv, emanzipativ, gerechtigkeitsfördernd usw. ausfällt. Für realistisch halte ich, dass Gutes und Schlechtes dabei abfällt. Für ein politisches Projekt halte ich, das Gute zu maximieren und das Schlechte zu minimieren. Eine Perspektive, die sich in einem Verhinderer Datenschutz als Lösungsansatz verrennt, halte ich für dieses politische Projekt kontraproduktiv; für aussichtsreicher halte ich einen Ansatz, der die Durchsetzungsgewalten der Post-Privacy in ihrem Betrag anerkennt, ihre Durchsetzungsrichtungen aber ins Verdauliche bis Erstrebenswerte lenkt.

So gilt es auch, informationelle Machtverhältnisse zu konfrontieren wie die Nacktheit der Schwächeren gegenüber dem Deckmantel der Stärkeren: Dass die Deklassierten keine Privatsphäre haben, die Wohlhabenden aber schon, ist nicht wünschenswert. In der Theorie würde der Lösungsansatz Datenschutz die Privatsphäre auf die Deklassierten ausweiten müssen, in der Praxis schützt er aber eher das Bankgeheimnis der Wohlhabenden als das von Hartz-IV-Empfängern. Deshalb erwarte ich vom Datenschutz in dieser Frage keine Hilfe. Der gegenstehende Post-Privacy-Ansatz würde danach streben, dass die Stärkeren mindestens genauso nackt werden wie die Schwächeren. Nichts, was sich durch bloßes Wünschen durchsetzen ließe; aber politische Forderungen hatten schon immer Machtverhältnisse zu konfrontieren, insofern sehe ich das auch nicht als ein paradoxes Projekt an. Und Ereignisse der Manier Wikileaks zeigen, dass Machtbesitz keineswegs unangreifbaren Datenschutz bedeutet.

Können die Menschen lernen, zivilisiert mit Post-Privacy umzugehen? Ich bin da keineswegs so pessimistisch. Mag sein, dass wir auch heute noch gern Säue durchs Dorf treiben; aber zumindest in unseren Breitengraden leben wir heute sicher mit (in relativen Zahlen) weniger Mord und Totschlag als vor tausend Jahren und pflegen größere Toleranz gegenüber einem breiteren Spektrum von Lebensweisen und Hintergründen. (Drin vor: Aber Auschwitz geschah mitten im zivilisiertesten Kulturkreis der Erde!) Ein Zivilisierungsprozess findet also statt, und warum sollte er unter einem Trend zur Post-Privacy stoppen? Viel mehr, glaube ich, wird der Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft sie zu größerer Toleranz nötigen -- man kann sich nur eine begrenzte Zahl von Gliedmaßen abschneiden (also: die eigenen Mitglieder rauswerfen), eh man zum Selbsterhalt unfähig wird. Letztlich ist das aber vermutlich die alte Frage nach der Stärke oder Schwäche offener Gesellschaften.

ThorHa: Der Vergleich mit dem Diebstahl greift meines Erachtens fehl. Dass es weltweit Gesetze gegen Diebstahl gibt, sagt für sich erstmal nicht viel mehr aus, als dass die Durchsetzung von Eigentumsrechten halt eine der Hauptlegitimationen staatlicher Gewalt ist. Spannender ist die Frage, inwieweit die staatlichen Gewalten diesem Versprechen gerecht werden. Soweit es um Diebstahl in der materiellen Welt geht, erweisen sich die meisten Staaten darin als einigermaßen erfolgreich: Schließlich unterliegt der Gegenstand direkt ihrer Verfügungsgewalt. Sobald wir den "Diebstahl"-Begriff aber ausweiten auf die Welt der globalen digitalen Informationsflüsse im Internet -- wo sich ja heute auch der Datenschutz beweisen muss --, wird schnell deutlich, wie sehr die Gesetze der alten Welt hier schwächeln. Hier stoßen sie auf grundlegende Probleme der Durchsetzbarkeit von Recht alter Art im neuen Raum. Wie sollen die überwunden werden? Ehe diese Frage nicht geklärt ist, sieht die Zukunft für den Datenschutz meiner Meinung nach düster aus.

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