Michel Foucault: "Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen", Buch 1976.
Lektüre-Notizen:
- "Vorwort zur deutschen Ausgabe":
- Eigentlich will Foucault ein offenes, lernendes, mehrjähriges Blog zum Thema schreiben, und das ist nur der erste Eintrag.
- Das Thema ist nicht die Sexualität selbst, sondern das Wissen, der Diskurs von ihr; wie und wo er entsteht und wirkt; und zwar nur als Beispiel für das abendländische Spiel von "Diskursen" bzw. "Wissen"/"Wahrheit" überhaupt.
- Emanzipateure werfen F. vor, er denke nicht genug von der Repression aus. Repression ist für ihn aber nur ein Faktor, eine mögliche Perspektive unter vielen.
- "Wir Viktorianer":
- Behandlung der These, ein freier Sex sei ab dem 17. Jahrhundert mehr und mehr unterdrückt worden, gipfelnd im Viktorianismus; das Wilde und Unproduktive eingeschlossen in Unterdrückung, Leugnung, Diskussionsverbot; beschränkt aufs Produktive: die Kinderzeugung im Familienbett; und das Profitable: die Psychotherapie und das Bordell.
- Diese These begreift, definiert, ermächtigt Sex über seine Unterdrückung: Offenbar soll da eine befreiende Magie kleingehalten werden, von deren Entfaltung wir die Revolution und das Morgenrot erwarten können. Als Gesellschaft sind wir besessen von der Schuld, die wir uns aufgeladen haben sollen, indem wir den Sex mit Schuld beluden.
- F. klingt da leicht skeptisch. Er möchte auf jeden Fall einige Schritte zurück gehen, auf die Meta-Ebene. Er sieht die Unterdrückungs-These als einen Abschnitt im historischen Diskurs über Sex und ein vermutlich zu einfaches Bild. Ihn interessiert, wie der Diskurs an sich, das Wissen über Sex entsteht, wo, und wie sich die Macht daraus, daran entfaltet.
- "Die Repressionshypothese":
- "Die Anreizung zu Diskursen":
- Ab dem 17. Jh. wird der Sex-Diskurs nicht etwa unterdrückt, sondern viel mehr geregelt, gelenkt, organisiert und in dieser Weise vielfach qualifiziert, entfaltet, ausgeweitet. Es gibt Rede-Verbote und Sprach-Reformen, aber es geht mehr um die Festlegung, wer wo was über Sex sagen darf (und oft: soll), und nicht um ein absolutes Nichts-Sagen-Dürfen.
- Die Kirche will zur Beichte nun kein Gerede mehr über die Fleisches-Lust in ihren konkreten Handlungen, sondern verlagert das Gespräch (und erweitert so den Sex-Diskurs) an die Ränder und die Tiefen des Empfindens. Nicht Stöpselei, sondern Blicke, Träume, Neigungen müssen nun in ansteigendem Maße beschrieben werden. (Alte Verinnerlichungs-Leier?)
- Im 18. Jh. weitet sich dieses analytische Interesse auf die Institutionen des Staates, der Psychiatrie, der Erziehung, der Polizei aus, die den Sex nicht einfach verdammen, sondern mehr und mehr für ihre Projekte der Formung des Menschen, der Bevölkerung, der Gesellschaft rationalisieren, optimieren wollen, sei es durch Verbot oder Förderung.
- "Sex" wird gesucht und er-funden, wird zum Thema, öffentlicher Frage (auch gerade dort, wo man die Rede von ihm Unqualifizierten vorenthält), seine Aufarbeitung grundlegende Queste. Kirche, Staat und auch die Emanzipations-Prediger der Repressions-Hypothese sind sich einig: Das "Geheimnis" Sex muss aus dem Dunkeln geholt, aufgedeckt werden.
- "Die Einpflanzung von Perversionen":
- Zuvor gab es einen richtigen Sex: die regelkonforme, Kinder-zeugende Ehe. Aufmerksamkeit, studierender Blick der Macht, Prüfung durch die Umstehenden galten ihrer Korrektheit. Abweichendes, ob Ehebruch oder Sodomie, Tochterraub oder Inzest, war verboten durch seine Abweichung, verlangte darüber hinaus kein weiteres Studium oder Differenzieren.
- Nun Umkehrung: Die Ehe wird als Norm zum Schutzwall der Liebenden vor fremden Blicken. Prüfung, kontrollierende Ausleuchtung durch die Macht verlagert sich auf die Abweichung; und zwar die der Perversion, im Widerspruch zu einer Natürlichkeit und Gesundheit des Begehrens; bloßer Regelverstoß (Ehebruch) dagegen wird immer nachlässiger behandelt.
- Damit einher verliert die Kirche (mit ihrer genauen Kenntnis der Aufgaben des Ehe-Sakraments?) an Bedeutung als Instanz der Bewertung des Sexual-Lebens, gibt darin ab an die Medizin, die Psychologie, die Natur-Forschung, die Kriminalistik, die Gesundheit und Krankheit, Veranlagung, Charakter, Gefährlichkeit erforschen, bestimmen, behaupten.
- Es geht ihnen weniger um die Verfolgung einzelner verzeihlicher Handlungen als um die Festnagelung, Verkörperung ganzer sexueller Pathologien in den Betroffenen. Statt dem Akt der Sodomie beispielsweise steht nun die Homosexualität als Identität, die sich durch die ganze Lebensgeschichte, jedes Verhaltens-Detail des "Homosexuellen" zieht.
- Die Offenlegung, Bekämpfung des Perversen verlangt so die Durchfurchung des ganzen Lebens des Verdächtigten. So aussichtslos das Projekt, die Masturbation des Kindes auszumerzen, so wirksam ist es in seiner "Durchdringung" von dessen ganzem Sein und Tun entlang Achsen vermeintlicher sexueller Gefahren, auszuweiten bis in die letzten Ritzen.
- Die viktorianische Welt ist zutiefst erfüllt von Perversion: Sie richtet ihre Räume, Mauern, Personen-Konstellationen, Regeln aus entlang der allgegenwärtigen Unterstellung, Vermeidung, Erfassung, Unterdrückung von Norm-abweichender Sexualität. So sehr sie den normalen Sex ausblendet, so besessen ist sie vom abnormalen.
- Das Verhältnis der Macht zur Perversion ist nicht so sehr ein ausmerzendes als eines der Verstärkung, Vertiefung, Einschreibung durch konzentrierende Isolation, Identitätsstiftung, Hervorhebung. Jagd und Bekämpfung der Perversion und Perversion selbst (vorher unbestimmt, unformuliert, ohne Bewusstsein) schaukeln sich aneinander auf.
- "Scientia sexualis":
- "Sexualität" wird erzeugt von einer Sexual-Wissenschaft, die etwas Anderes ist als sowohl die ars erotica nicht-christlicher Kulturen (ein Geheimwissen vom Pfad bis zur Ekstase als Höchstem, von einem wissenden Lehrmeister dem Schüler vorsichtig, pädagogisch dosiert offenbart), als auch die nüchterne Wissenschaft von der tierischen Fortpflanzung.
- Seit dem Laterankonzil 1215 erwächst bei uns das Geständnis als Subjektivierungs-Technik. Die Menschen sollen sich offenbaren und verstehen als ein wahres Selbst, das nach Ausdruck ruft, einem inneren Urgrund ihres Handelns und Seins. Eine Macht-Technik, die den Gestehenden als Untertan definiert gegenüber dem, der zuhört, straft, verzeiht, hilft.
- Das Geständnis verlangt nach Geheimnissen zum Gestehen. Was mir vorher zustieß, habe nun als Grund etwas tief in mir, dem nachgespürt werden muss. Das Verborgene wird zum Bedeutsamen, Bestimmenden. Das Geständnis erfindet sich Geheimnisse, die in sich die Wurzeln und Wahrheiten ihres Trägers bereit halten, die er noch nicht einmal selbst ergründen kann.
- Die scientia sexualis ergründet, erschafft den Sex über das Geständnis, das sie zur wissenschaftlichen Methode und Medizin erhebt durch standardisierte Fragebögen, expertische Interpretation (der Doktor versteht aus seinem Text mehr als der Gestehende) und die totale Kausalisierung jedes Details zu Ursache, Wirkung, Symptom einer sexuellen Pathologie.
- Die "Sexualität" verweist in ihrem ganzen Wesen auf die Macht-Formen, Subjektivierungs-Logiken, Zergliederungs-Methoden einer scientia sexualis, die das Geständnis in Wissenschaft zu verwandeln versucht. Sie ist ein alles bestimmendes Geheimnis im Menschen, das Zergliederung, Kausalisierung, Katalogisierung bis ins Bodenlose verlangt.
- "Das Dispositiv der Sexualität":
- Wie/wieso wird der Sex, oder besser: eine Lehre der Bedeutung des Begehrens (as opposed to: eine Lehre biologischer Prozesse) zu dieser Kernfrage unseres Selbstverständnisses, dass wir darum diese gewaltige Anordnung aus Geheimnis-Behauptung, Geständnis-Einforderung, notwendiger wissenschaftlich-forscherischer Mühe konstruieren?
- "Motiv":
- Jahrhunderte-lang haben wir gelernt, Macht als Recht zu denken, als Regel des Erlaubten und Unerlaubten, als das explizite Untersagen und Zensieren, als das Gesetz des Souveräns, dem das Subjekt unterwürfig folgt. Dabei funktioniert und gestaltet sich Macht auch in vielen anderen Formen, und der Diskurs zum Sex ist ein prima Untersuchungsfall hierfür.
- Einer der Gründe, weshalb wir diese Vorstellung von Macht als Gesetz der Verbote, der Einengungen so lieben: Sie lässt uns eine Illusion von Freiheit und Selbstbestimmung, indem sie klar sagt, das wird vom Gesetz unterdrückt, und das nicht. Es schärft uns den Glauben daran ein, dass es Bereiche gibt, die unberührt sind von der Fremdbestimmung, frei mangels Gesetz.
- "Methode":
- Nach der negativen nun der Versuch einer positiven Definition des Machtbegriffs: Macht beschreibt die kleinen und großen fraktalen Anordnungen von Kräfte-Verhältnissen und ihren Strategien zur Stabilisierung und Destabilisierung. Sie ist ein dezentrales Netzwerk mit unendlich vielen Knoten und Wirkungsrichtungen, ohne Herr oder Mittelpunkt.
- Das Gesetz, die Institutionen, die Hierarchien gehen aus diesem Gewusel immer wieder neu hervor, begründen es aber nicht, stabilisieren sich höchstens mal zwischenzeitlich zu einem Faktor, der in das Gewusel zurückwirkt.
- Untersuchen wir, wie sich Kräfte-Verhältnisse verkehren oder transzendieren, wie die Strategie die Taktik macht und zugleich die Taktik die Strategie, wie das Unterdrückte zugleich erst durch das Unterdrückende sich findet, wie Macht-Systeme immer auch aus Komplexität und ganz verschieden sich ausrichtenden Einzel-Teilen bestehen und sich über diese verändern.
- (So, denke ich mir, muss dieser Poststrukturalismus klingen. Erst die einfache Struktur wegsäbeln und dann eine hyperkomplexe non-lineare Netzwerk-Struktur an seine Stelle setzen, in der es kein sicheres Oben und Unten, keine klare Subjekt-Objekt-Richtung gibt.)
- "Bereich":
- Der Sex zieht sich als Angriffs- oder AusgangsPunkt für Macht als kraftvolle Linie durch eine Vielzahl von möglichen sozialen und institutionellen Beziehungen, in denen Trieb und Erotik und Körperlichkeit, Unterschiede zwischen Geschlecht und Alter, "Liebe" usw. Rollen spielen.
- Dementsprechend ist auch die Familie in allen ihren Beziehungsformen stark bestimmt durch den Sex als Faktor der in ihr enthaltenen Beziehungen. Die Inangriffnahme durch Fragen der Sexualität erfüllt und lenkt die Rollen von Vater und Ehemann, Mutter und Ehefrau, und natürlich auch die in ihrer Sexualität zu überwachenden Kinder.
- Die Sexualität ist als MachtAnordnung in die Institution Familie hineingewachsen unter Schaffung von erwünschten wie unerwünschten SpannungsVerhältnissen. Sie lädt alle Beziehungen mit sexueller Energie auf, zum Teil aber in tabuisierter, zum Beispiel inzestuöser Weise. Genau mit dem Problem hat Sigmund Freud sein Geld verdient.
- Die Familie startete nicht derart sexuell aufgeladen, sondern als verrechtlichte Form, die nun nach und nach mit Affekten und sexueller Spannung befüllt wurde, als der Sex-Diskurs sich an ihren Rändern einpflanzte, erfand. Heute ist er sehr viel machtvoller als der Familien-Diskurs an sich, legitimiert ihn aber fort (Psychoanalyse: aller Sex verweist auf FamilienVerhältnisse).
- "Periodisierung":
- Klassische Periodisierung kompatibel der Repressions-Hypothese: Sexualität wird im 17. Jahrhundert als Problem erkannt und bis ins 19. Jahrhundert diszipliniert; als dieses sich dem Ende zuwendet, lockert sich auch das Regime der Repression. Aber für Foucault deckt die Repressions-Hypothese das Interessante ja gar nicht auf ...
- Stattdessen Periodisierung der Technologien des Sexualitäts-Wissens: von spätem Mittelalter und Renaissance an religiös motivierte, kirchliche Erforschung des Begehrens über den Blick nach Innen, das Bekenntnis; ab Ende 18. Jahrhunderts Medizinisierung, Gesundheit und Normalität, Eugenik; hundert Jahre später GegenEntwurf PsychoAnalyse, Psyche statt Genetik/Rasse.
- Die Bourgeoisie erfindet die Sexualität zuallererst für sich selbst, und zwar nicht als Askese, sondern als SelbstBehauptung einer kontrollierten und daher potenten Körperlichkeit; Fitness als biologisches Recht noch vor dem Blut des Adels; das Begehren als neue innere Tiefe und Begründung; ordentliche Gesundheit als rassisches, biologisches Kapital.
- Die Bourgeoisie verfeinert zuerst ihre eigene Sexualität zur subtilen Qualifikation ihrer Klasse, ehe sie sie in vergröberter Form als Steuerungs-, Moralisierungs-, Desinfektions-Instrument der Unterschicht aufzunötigen versucht. Die misstraut den bürgerlichen Erzählungen und wird eher über die Gewalt der Gesetze als die der Neurosen gebändigt.
- Die Psychoanalyse erlaubt der Bourgeoisie (nicht: den Proletariern), das vom Sexualitäts-Dispositiv zugleich Aufgepeitschte wie Verbotene in Selbstfindungs-Diskurs zu sublimieren. Leitet eine sexuelle BefreiungsTheologie ein, die später in Wilhelm Reich mündet -- ohne dass ihre Verwirklichung, wie versprochen, gesellschaftliche MachtVerhältnisse grundlegend auf den Kopf stellt.
- "Recht über den Tod und Macht zum Leben":
- Die alte Macht des Rechts, des TodesUrteils als letzter Drohung, des Absaugens und Einschränkens und Verbietens von Handlungen weicht der "Bio-Politik", die nicht danach trachtet, die Untertanen zu knechten und befehlen, sondern die Körper und Bevölkerungen zu optimieren, zu brüten, taktisch zu stärken und zu normalisieren. Medizin zum Leben statt Gesetz zum Tod.
- Die Macht-Anordnungen um die Sexualität sind ein großer Faktor in der Bio-Politik. Sie begründen die Erfassung noch der letzten Ritze von Psyche und Körper und binden diesen Mikrokosmos zugleich an den Makrokosmos der Bevölkerungs-Regulierung und -Hygiene. An ihren Linien wirken die Instrumente der Macht genauso wie die Versuche des Widerstandes gegen sie.
- (Diesen Punkt verstand ich nicht ganz.) Die Nazis verschalten diese Macht des Lebens mit der Macht des Todes, vermengen das Produktive der Medizin mit dem Destruktiven des Gesetzes und richten so ein BlutBad an. De Sade macht dasselbe in seinen Spekulationen. Die Psychoanalyse versucht mit der Macht des Gesetzes der Macht der Medizin Einhalt zu gebieten. Allesamt hinken sie hinterher.
- Der "Sex" existiert nicht als autonome Kraft frei von den Einschreibungen und Behauptungen des Diskurses "Sexualität". Letzterer verknotet Organe, Triebe, Psychologien, Krankheiten, Fortpflanzung und vieles mehr zu einer Gottheit, um die als Kern herum sich alles zu organisieren scheint und in deren Tiefe das zentrale Geheimnis liegt.
- Es ist keine Subversion, den Sex "befreien" zu wollen. Subversion wäre es, aufzuhören, an "den Sex" zu glauben -- denn die Vorstellung von ihm und seiner Bedeutung ist Brückenkopf der Macht, den sie über die letzten Jahrhunderte immer weiter ausbaute, sei es unterm Mantel der Repression oder dem der Liberalisierung. Subversiv wäre es, den Knoten zu zerschlagen; auseinanderzunehmen, was zusammengeschweißt wurde.