Buch, Peter Schaar, "Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft", 2007.
Lektüre-Notizen:
- "Das Ende der Privatsphäre":
- Kassandra-Komplex. Schaut, was uns droht, erwacht, bevor es zu spät ist, ändert euer Verhalten! Die Legende vom "boiling frog", der sein Verderben nicht merkt, weil das Wasser nur graduell heißer wird. Uns drohen mit Überwachung, Erfassung, Verrechnung die zunehmende Kontrolle und Manipulation unseres Verhaltens durch Staat und Unternehmen, die falsche Beschuldigung, ungünstige Schufa-Ratings und Identitäts-Diebstahl.
- Kleine saubere Geschichte der Privatsphäre: oikos vs agora = privatus vs res publica = Eigen und Heim und Unbeobachtetsein vs Politik und öffentliche Sichtbarkeit. In Abgrenzung zum mittelalterlichen Gruppengeist führt das Bürgertum die Privatsphäre ein als Produzent von Eigensinn durch Entkoppelung von der Öffentlichkeit, in die dieser Eigensinn dann aber als gereifte Meinung oder Marktteilnehmer eintreten kann. Fragwürdige Bezugnahme hierfür auf Sennett.
- Direkte Linie von Warren/Brandeis 1890 zum "Recht auf informationelle Selbstbestimmung". Aber europäische, vor allem deutsche Vorreiterrolle im 20. Jahrhundert. Die Amerikaner zögern, der Privatwirtschaft Datenschutzkontrolle aufzupfropfen, wir hier dagegen nicht. BRD erstes DatenschutzGesetz, in den 70ern. Datenschutz als staatliche Aufgabe, InformationsKontrollRechte des Bürgers durchzusetzen, als Schutz für seinen Individualismus, seine SelbstBestimmung.
- Die vermeintlichen (wie oft werden sie wohl tatsächlich dort in den Mund genommen?) Stammtisch-Parolen "Datenschutz ist Täterschutz" und "Ich hab nichts zu verbergen". Nicht ganz unberechtigte Infragestellung diverser Sicherheit-durch-Überwachung-Parolen. Dabei müssten die Behörden einfach nur die gegebenen Rechte besser, effizienter ausschöpfen, fleißiger arbeiten, mehr Leute dafür abordnen, dann kämen sie auch im Rahmen der jetzigen Datenschutz-Gesetze zum Ergebnis!
- Unterdrücker-Staat und Unrechts-Staat ist Überwachungs-Staat, Nazi-Reich (Geheimpolizei) und DDR (Stasi).
- Im Fall der Stasi-Akten ist Erhalt durch BRD statt Vernichtung der Datensätze über die Bürger gut und befreiend, denn eine Behörde korrekter statt falscher Ideologie entscheidet darüber, wer wo reinschauen darf und wo nicht, öffnet sich den Opfern und verschließt sich den Tätern, entlarvt sie. So wird aus "Herrschaftswissen" (S.32) Demokratie-Manna. Hätte man die Aufzeichnungen vernichtet, wer weiß, die Bösen hätten vielleicht Abzüge behalten und so das Wissen zu ihrem üblen Zwecke monopolisiert.
- "Technologie und Datenschutz":
- Worin Schaar über neuntausend Beispiele gibt für neue Alltags- und Herrschafts-Technologien, die im Erfassen, Sammeln und Korrelieren von Daten münden (könnten), mitsamt jeweils anhängiger Debatten. Unsicherheit, Hackbarkeit, Abhörkeit aller Kommunikationsflüsse. Ansteigende Billigkeit, Kopierbarkeit, Beständigkeit der DatenSpeicherMengen. Unabschätzbarkeit künftiger Verwendungen, und Otto Normalnutzer hat davon eh keine Ahnung, macht sich keinen Kopf, ist gegenüber Gefahren ignorant.
- Klage über eine Technologie-Geschichte, die der Besinnung auf Datenschutz, Privatsphäre und den damit verbundenen RechtsKonstrukten vorauseilt. Anerkennung der Absurdität mancher Vorgaben in Anbetracht einer Gegenwart, in der Rechen-Anlagen nicht mehr nur in schützbaren Sicherheitsräumen, sondern in jeder Hosentasche stecken. Gleichzeitig viel AnMahnen konservativerer Zurückhaltung -- braucht ihr all das FunkelZeugs wirklich, wollt ihr nicht lieber das Handy ohne GPS-Ortung?
- Im Zweifel für die DatenSparsamkeit. ZweckBindung wird leicht zur slippery slope, bei der nächsten KindesEntführung aufgeweicht und endet in einer vorsorglichen SuperDatenbank weil-man-es-kann. Bezweifeln diverser Überwachungs- / Erfassungs-SicherheitsNützlichkeiten -- Positiv-Beispiele seien nur EinzelFälle, insgesamt Datenschutz-Gesellschaften aber nicht unsicherer als die Überwachungs-Gesellschaften.
- Zugeständnis an die Geschichte, der Aufstieg der Daten habe auch wissenschaftlich-technische Fortschritte begünstigt und den Übergang von einer Gemeinschaft enger persönlicher Vertrauter hin zu einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen einander fremd sind -- und trotzdem Berechnungsgrundlagen für ihr Zusammenleben brauchen. Dann aber werden die Möglichkeiten ab Hollerith, mit Computern und Digitalisierung, schwindelerregend, und schwuppdiwupps sortiert IBM den Holocaust.
- "Big Brother? Der Bürger im Blickfeld des Staates":
- Worin Schaar sichtlich in seinem Element in der Ausbreitung zahlloser aktueller rechtlicher Kontroversen von Vorratsdatenspeicherung bis SWIFT und Abhörbefugnissen. Er argumentiert auch größtenteils abstrakt mit dem Recht -- etwas ist schlimm, weil es gegen dieses oder jenes Grundrecht vestößt, oder gegen den Menschenwürde-Begriff des Grundgesetzes. Armut an Beispielen für konkretere Gefahren-Potentiale.
- In Österreich und der Schweiz gibt es ein Bankgeheimnis, aber nicht in Deutschland -- jedenfalls nicht explizit als Bürgerrecht gegen den Staat, höchstens als Klausel in der AGB des Kredit-Instituts, bei dem ich mir ein Konto eröffne. So kann ich zivilrechtlich gegen sie vorgehen, wenn sie meine Daten an andere Unternehmen weiterreichen. Der Staat dagegen wird in seinen Schnüffel-Bedürfnissen hier eher an der langen Leine gehalten.
- Auch für Schaar ist Orwell in erster Linie ein Roman über den ÜberwachungsStaat und insofern zentraler DebattenBeitrag des PrivacyDiskurses. Anerkennt Verschiedenheit freiheitlicher Demokratie zu stalinistischer Diktatur, ganz so schlimm sei es sicher nicht, nichtsdestotrotz: Viel mehr, viel bessere Überwachungs-Technologie heute verfügbar. (Anerkennt man Verschiedenheit der Bedingungen, stellt sich aber IMHO auch die Frage nach veränderter Bedeutung / Wirkung von Überwachungs-Systemen darin.)
- Der Erfolg der Anti-Volkszählungs-Bewegung überraschte diese selbst. Nachträglich betrachtet ja doch eine große Harmlosigkeit. Erklärbar nicht nur durch die Nazi-Story, sondern auch durch die autoritären Erfahrungen der 70er Jahre, als der Staat auf die RAF mit MaschinenGewehrPolizei und RasterFahndung reagierte, gemischt mit einem Unbehagen vor dem großen Unbekannten Informatik.
- Ein Unbehagen vor der Maschine, der Automatik, dem Unmenschlichen zieht Schaar auch heran als Begründung für das Verbot automatisierter Einzelfall-Entscheidungen bei Behörden. Nie darf nur ein Algorithmus entscheiden, es muss immer auch ein Mensch drüberschauen. (Und warum sollte ich einem Beamten mehr vertrauen als einem Algorithmus?)
- Netter Punkt: Die erhöhten DatenVerarbeitungsKapazitäten helfen der Erhaltung unnötiger bürokratischer Komplexitäten, die andernfalls nicht mehr zu managen wären und deshalb zugunsten einfacherer Alternativen weggesäbelt würden. Wenn auch der Bürger den Durchblick nicht behält, die Maschine behält ihn. So wird auch das Argument pro Grundeinkommen, es verringere des Sozialstaates Komplexität, entkräftet: Der Staat im SozialStaat hat kein Problem mit der Komplexität, er hat dafür ja Computer.
- Schaar erwähnt sehr wohl die Marginalisierten. Letztlich anerkennt er Hartz-IV-DatenStripTease aber als alternativlos in Anbetracht der gesetzlich vorgeschriebenen Anspruch-Prüfungs-und-Verrechnungs-Regeln (vielleicht sollte man das anders lösen?), und im Falle ausufernder Ausländer-Protokollierung sieht er als möglichen Angriffspunkt auch nur einige Unnötigkeiten derselben im Falle von EU-Bürgern. Der Rest hat Pech.
- Große Sorge bereitet ihm die Ausweitung der Verdächtigungs-Zone. Erfährt bald jeder rechtschaffene deutsche Bürger die gleiche Aufmerksamkeit der Prüfer wie zuvor nur erkennbar zwielichtige Gestalten? Stürzen wir in eine Präventions-, eine MenschenFilter-Gesellschaft? (Als hätten wir nicht schon vorher in so einer gelebt.)
- Pyrrhus-Sieg Verrechtlichung des Datenschutzes. Wer Gesetze macht, kann auch Ausnahmen und Sonderfälle formulieren, um seinen Willen letztlich doch durchzubekommen. Am Ende steht das Paragraphen-Ungeheuer, potent bespielt von den Juristen, dem gemeinen Bürger für Durchsetzung seiner Ansprüche aber kaum noch durchsichtig. Immerhin, mit dem VolksZählungsUrteil hat man viele staatsferne Alt-68er zur Anerkennung des Systems, in einen bürgerlichen Konsens integriert bekommen.
- Bekenntnis zur Verdatungs-Not des modernen Staates. Letztlich lässt er sich ganz ohne nicht machen.
- "Ungehobene Schätze: Daten als Wirtschaftsfaktor":
- "Marktversagen", dass sich Datenschutz nicht hinreichend als verkaufsträchtiges Feature durchsetzt, also muss der Staat wohl Druck machen.
- PrivatWirtschafts-DatenGefahr Scoring: Für Betroffene das Versagen von Krediten, Leistung (Bestellung, Strom, Wasser) nur nach Vorkasse. Ungenauigkeit, Statistik-Gläubigkeit der Bewertungen. Wer nach Stadtteilen bewertet, befördert Ghetto-Bildung, verslumt. (Und ich dachte, wir fürchten gerade alle eher die Aufwertungs-Gentrifizierung?) Intransparenz der Scoring-Methoden, der Zins-Bestimmungs-Algorithmen. Wer nach seinem Score oder Konditionen fragt, kriegt Score-Abzug.
- PrivatWirtschafts-DatenGefahr Werbung: Ist lästig, führt zu CallCenter-Anrufen. "[P]ervers" nennt Schaar es, dass die aus Datenschutz-Ideen geborene Rufnummern-Unterdrückung jetzt auch von den letzteren beansprucht wird. So hatte man sich das nicht gedacht!
- PrivatWirtschafts-DatenGefahr Arbeitnehmer-Überwachung: Kontrolle durch E-Mail-Mitlesen und Tasten-Anschlag-Zählen.
- PrivatWirtschafts-DatenGefahr Raubkopierer-Verfolgung: Schaar wünscht sich ein DRM und Trusted Computing, das offline und ohne Benutzer-Verhaltens-Erfassung funktioniert. Höhö!
- Warnung vor "public private partnerships", gegenseitige Hilfsherifferei. Die Privatwirtschaft ziert sich gegenüber den Ansprüchen des Staates teilweise, trommelt aber auch gerne Lobby für Zusammenarbeit, wo es ihren Eigentums-Anspruchs-Sicherungen entgegenkommt.
- "Ist die Privatsphäre noch zu retten?":
- Die Institution Privatsphäre scheint empfindlichst bedroht. Schaar versteht nicht, wieso sich sich auf den InformationsGesellschaftsGipfeln alle so eifrig mit dem "Digital Divide" zwischen Angeschlossenen und Abgehangenen beschäftigen, aber sich kaum einer für den Datenschutz des bürgerlichen Subjekts interessiert. Als nur global zu lösendes Problem möchte er den Schutz der Privatsphäre via Datenschutz bitte genauso auf der Agenda der Vereinten Nationen wissen wie den Schutz der Umwelt.
- Recht und Technologie sollen hierin zusammengehen. Technik soll Datenschutz nicht nur als Nachgedanken, sondern qua Architektur implementieren und lernen, mit weniger Daten und weniger DatenSpielFreiheit auszukommen. Das Recht muss sich auf den gegenwärtigen Stand der technologischen Kultur modernisieren und Visionen entwickeln, die länger als nur bis zum nächsten System-Update reichen; außerdem: härtere und konsequentere Strafen statt "Vollzugsdefizit"; mehr Einheitlichkeit und Allgemeinheit.
- Auch die Forderung nach einer globalen Internet-Ethik darf natürlich nicht fehlen. "Der Mensch ist Subjekt, nicht Objekt der Information." (S. 228)