Buch: "A History of Private Life. From the Fires of Revolution to the Great War" (Hsrg. Michelle Perrot, Übersetzung Arthur Goldhammer)
Lektüre-Notizen:
- Einführung (Michelle Perrot):
- "The Curtain Rises":
- Einführung (Michelle Perrot):
- "The Unstable Boundaries of the French Revolution" (Lynn Hunt)
- Die Revolution ist zugleich der Versuch der totalen NeuGestaltung von allem und Beschleunigung des Verstaatlichungs-Trends des Absolutismus. Alle Institutionen und Verhaltensweisen sollen nun durch die Nation neu gedacht und politisiert werden, und keine Nische des Lebens darf hiervon verschont bleiben.
- Kurzweiliger Triumph des Rousseau'schen Transparenz-Ideals. Die Öffentlichkeit ist alles und das Heil, das Private und Partikulare und Eigenständige und Verborgene ist das Übel, verschwörerisch, reaktionär. Verdacht auf Konterrevolutionäres sticht vor bis ins Innerste der Person. Wer für sich ist, ist gegen uns.
- Mit der einen Hand bevormundet die Revolution das Individuum, mit der anderen peitscht es seine Emanzipation voran, zerschneidet traditionelle Bindungen und Unterwerfungen, schüttelt die Bevormundung durch Adel und Kirche ab, schafft ein ausgesprochen progressives Scheidungsrecht (das später unter Napoleon abgewürgt wird).
- Nicht nur arm und reich, auch Bürger und Beamter sollen die gleiche Uniform tragen, als Bekenntnis zur Gleichheit und Nation. Die Nation soll auch im Privatesten durchwirken und sich sichtbar machen, beziehungsweise die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit als PrivilegienPimmel ganz und gar eingerissen werden.
- Nur Frauen sollen weiter die Kluft des Privaten tragen. Die Revolution bekommt Angst vor ihrem eigenen Mut, die Emanzipation könnte auf die Frauen übergreifen. Umso stärker müssen diese nun als apolitische Wesen, unsouverän, weich, privat definiert werden. Wie in Selbsthass erhöht die Revolution die Mysogynie. Feindbild Nummer Eins: Marie Antoinette.
- Über die Einsperrung der Frau stärkt die Revolutionen einen Begriff des Privaten gezielt, und über ihre totalitären Ansprüche provoziert sie ungezielt das Private als Schutzraum vorm Despotismus der Öffentlichkeit, verdrängt die Gläubigen in Untergrund und Heim für ihre Rituale, stärkt für die Angefeindeten den Wert der Mauer gegen die Gesellschaft.
- (Scheiternder) Versuch, das brüderliche Duzen statt das distanzierende Siezen breit durchzusetzen.
- "The Sweet Delights of Home" (Catherine Hall)
- Schockiert von der Französischen Revolution, reifen in England Reform- und Erweckungs-Bewegungen. Die Evangelikalen fordern die moralische Re-Christianisierung des Lebens, zu vollenden in der kontrollierbaren Häuslichkeit und familiären Innerlichkeit, frei von der Korruption der Straße.
- Für die Evangelikalen ist die Frau qua Natur dem Häuslich-Mütterlichen zugeordnet und nur der Mann für die Stürme und Kämpfe des Berufs, der Politik, der Öffentlichkeit gewappnet. Seine Moral-Energie soll er auftanken können, wenn er heimkommt, und Aufgabe der Frau ist es darum, das Heim heil und besinnlich und sortiert und lieblich zu halten.
- Die Werte-Revolution ist eine der Mittelschicht, definiert sich gegen die ausschweifende Upper Class (die sich aber schnell genug anpasst) und träumt von der Erziehung der Unterschicht. Evangelikale verbünden sich mit Utilitaristen bei der Einrichtung von Erziehungs-Programmen und -Häusern. Produktivität, Rationalität und Moral!
- Die Arbeiter-Bewegung kommt nicht umhin, die sich ausbreitenden Werte mal direkt, mal indirekt zu verinnerlichen. Selbst-Erziehungs-Programme schlagen bald dieselben Töne an wie die Moralisten-von-Oben. Die Bekämpfung der Minen-Arbeit von Frauen und Kindern befriedigt viktorianische Familien-Sitten und bessert proletarische Verhandlungsbedingungen.
- Teilten sich vorher Mann und Frau die Arbeiten und Räume, wird nun eine scharfe Differenzierung gezogen und über wirtschaftliche Umwälzungen umgesetzt. Es entwickeln sich klare Vorstellungen, welche Arbeiten für Mann oder Frau jeweils ehrend bzw. entwürdigend sind. Wohn- und Arbeits-Räume, -Häuser werden getrennt. Die neu geschaffene bürgerliche Öffentlichkeit ist exklusiv männlich.
- Es gilt die Maxime: Ein Mann (ein Vater, eine Familie), ein Haus. Nur in den eigenen vier Wänden gelingt das häusliche Glück, und es müssen schon dicke und hohe Wände auf dem eigenen Anwesen sein, damit die Privatsphäre gesichert ist, in deren Schutz und Kontrolliertheit das Familien-Glück sprießen kann.
- "The Actors":
- Einführung (Michelle Perrot):
- "The Family Triumphant" (Michelle Perrot):
- Der Kater der Revolution. Ihr Scheitern erklärt man sich mit ihren totalitären Ansprüchen, das Oberflächlich-Künstliche des Politischen Institutionen aufzuzwängen, deren tiefverwurzelte Natürlichkeit man gerade neu erfindet (Familie, Geschlechterrollen).
- Synchron mit deutschen Idealisten (Kant, Hegel) entwerfen Benjamin Constant & Co. infolge ein politisches System der Trennung vom Privaten und Politischen, das beides gegeneinander zügelt, aufbrausende BasisDemokratie durch mäßigende Repräsentation ersetzt und das Gefährliche unter die moralischen Zwänge der Familie bannt.
- Nicht so sehr das Individuum als die patriarchale Kleinfamilie wird zu Atom und Leitform der Gesellschaft, zur "unsichtbaren Hand" und dem "versteckten Gott" ihres Funktionierens. In ihr sollen sich die Sitten reproduzieren, sie ist Schlüssel des Wirtschaftens, sie sorgt für Stabilität und Verlässlichkeit, ist Gegen-Ideal zum revolutionären Mob.
- In Frankreich werden Familien wie Unternehmen geführt und Unternehmen wie Familien. Bankrott ist eine Schande für den Namen, und der Chef sieht sich als Vater seiner Arbeiter wie der Vater als Chef seiner betont abhängig gehaltenen Kinder, Ehefrau oder verwitweten Mutter. Paternalistische Überwachung und Kontrolle des Lebens in beidem.
- Als moralische Institution in einem Markt des Ansehens ist die Familie zutiefst um ihren Ruf bedacht. Jeder Korruption eines guten Namens muss verhindert werden, und deshalb wird viel Wert auf den internen, geheimen, privaten Charakter aller inneren Fragen geworfen. Es gilt, eine würdevolle, vorbildliche Fassade zu wahren.
- Das Familien-Diktat clasht mit ansteigenden Individualismus-Ansprüchen ihrer Mitglieder. Als Wächterin der Sitten und Unterdrückerin des Aufbrausens fordert sie Bestrafung und Einsperrung ihrer Devianten. Was von ihren Normen abweicht wird mit Unterstützung der Behörden zur Krankheit und Kriminalität erklärt. Ab mit den Schwarzen Schafen in Irrenhaus und Reformschule!
- Die Wertvorstellungen um die Familie werden von der Bourgeoisie als moralisches Projekt ausgeführt und in die sozialreformerischen Projekte implementiert, die abweichendes Leben der Unterschicht zunehmend zwecks Umgestaltung durchleuchten. Die Unterschicht indes adaptiert jenseits des Zwanges pragmatisch, was in ihre Wirtschafts- und Klassenkampf-Projekte passt.
- "Roles and Characters" (Michelle Perrot):
- Die Super-Patriarchalität der Familie des 19. Jh. kann man gerade auch an so außergewöhnlichen Figuren wie Victor Hugo, Karl Marx oder Pierre-Joseph Proudhon nachvollziehen, deren Familien-Praxis diktatorisch und sexistisch war.
- Doppelnatur der sexistischen privat-öffentlichen Rollenverteilung: Nur der Mann hat den Zutritt zur Öffentlichkeit und in dieser eine aktive Rolle, die Frau dagegen ist aufs private Heim beschränkt. Dort wiederum ist der Mann aber uneingeschränkter Herrscher und letzte Instanz in allen Fragen, auch der häuslichen Einrichtung.
- Die Hierarchie gilt als eine natürliche: Der Mann ist fähig zur Selbstkontrolle und überlegen im Verstand und so prädestiniert für die Herrschaft, die Frau dagegen bestimmt von ihrer Empfindsamkeit und Unterwürfigkeit. Versuche, aus dem behaupteten spezifischen Weiblichen des Häuslich-Empfindsamen weibliche Einfluss-, Behauptungs-Bereiche zu schmieden.
- Jagte man die Kinder früher eilig fort und in ihr eigenes Leben, gelten sie nun als Teil der familiären/väterlichen bourgeoisen Identität, werden mit großer Innigkeit und Intimität zugleich einer totalen Kontrolle und strengen Bindung unterworfen, spät bis nie in ein eigenständiges Leben entlassen.
- Betonung der vertikalen Intimität. Eltern sollen ihre Kinder duzen, damit sie sie im richtigen Moment zwecks Härte siezen können.
- In den promisken, engen, transparenten Nachbarschaften der Dörfer und Mietskasernen fällt es schwer, sich eine eigene Privatsphäre zu behaupten. Geschnatter und Schnüffelei kontrollieren. In der Stadt zumindest sind diese räumlichen Gemeinschaften sehr schnell-lebig, wandelig: Es gibt nicht die eine Nachbarschaft, die mein ganzes Leben bestimmt.
- Fort mit den Bediensteten. Der Beruf "proletarisiert": verliert an Würde und wird nur noch an Frauen gegeben. Die neue Familien-Intimität macht sie zur Belästigung neu gefundener Privatsphäre. Zunehmend drohen sie als Individuen wahrgenommen zu werden, gegen diese Gefahr hilft nur Entlassung oder umso betontere Ausblendung ihrer menschlichen Präsenz.
- In Freiheit von den Familien stehen die Studenten, Bohemians und Dandies. Erstere sind eher die linke Avantgarde, letztere eher reaktionär-snobistisch. Allesamt lehnen sie bürgerliche Verantwortlichkeiten ab und gefallen sich im leichten Leben. Der Dandy verachtet die Familie so sehr, dass er die Frauen verabscheut, die Homosexualität preist.
- Außerhalb der Familien stehen auch die absolut Mittellosen, Alten, die unfreiwillig Zölibatären. Sie elenden vor sich hin und sterben bald, oder sie werden Gegenstand kontrollierender staatlicher Eingriffe.
- Eine unverheiratete Frau bleibt der strengen Kontrolle des Elternhauses unterworfen, kennt keine jugendliche Freiheitszeit wie der Student. Endet sie alt unverheiratet, endet sie elend und einsam. Wird sie verstoßen, endet sie wie Effi Briest. Sich in eine Selbständigkeit durch Nicht-Verheiratung emanzipierende Frauen sind eine Ausnahme.
- "Bourgeois Rituals" (Anne Martin-Fugier):
- Die Bourgeoisie gliedert ihre Leiden, Freuden, bedeutenden Momente in sittlich so streng wie sentimental geachtete Zyklen und Regelmäßigkeiten. Man weiß schon als Kleinkind, was man bis zum Lebens-Ende an relevanten Etappen-Punkten zu erwarten hat. Möglichst viel Gegenwart wird in Souvenirs und Fotos als Teil immerwährender Vergangenheit objektifiziert.
- Das Leben der Bourgeoisie ist nicht nur bittere Strenge. Aber auch die Zeiten der Entspannung und der Freude sind zumindest in ihren äußeren Rahmenbedingungen streng festgelegt, einem Zeitplan des Ordentlichen unterworfen, der privat von öffentlich und Freizeit von Beruf trennt. Alles gehört an seinen Platz, auch die Leidenschaft.
- Diese Ordentlichkeit, Vorhersehbarkeit, und das Versprechen einer daraus resultierenden Ruhe und Ewigkeit, ist vielleicht Kern der bourgeoisen Familien-Ideologie?
- Das von den Frauen organisierte häusliche Sozialleben in Empfängen und Besuchen hält das Netz der Kontakte und Familien-Verzweigungen aktiv, hat aber ebenso klar seine streng begrenzte Nische zugewiesen, ist detailliert durchformalisiert und kennt einen schmalen Toleranz-Bereich des Zuviel und Zuwenig in allen Dingen.
- Die religiösen Feste werden Feste der Familien-Intimität. Allem voran Weihnachten säkularisiert sich ins Wohnzimmer.
- "Scenes and Places" (Michelle Perrot, Roger-Henri Guerrand):
- "At Home" (Michelle Perrot)
- Kant sagt, wer sich kein Heim schafft im Schutz des Privaten, der eigenen vier Wände, der findet nie die innere Ruhe, die ihn zum guten Staatsbürger macht, der gehört den Revoluzzern an, den unsteten Geistern.
- Die Bourgeoisie beansprucht die eigenen vier Wände, um sich abzuschotten von der Unterschicht.
- Schockiert von proletarischer Promiskuität wollen bürgerliche Reformer schon bald auch die Unterschicht mit bürgerlichen Wohnverhältnissen, Privaträumlichkeit, Räume-Trennung beglücken. Den Proletariern dagegen ist aber Zugang und Nutzbarkeit einer offenen Stadt und die Bewegung in dieser erstmal wichtiger. Kaufen sich eher neuen Anzug für öffentlichen Raum statt mehr EigenRaum.
- Aber auch proletarische Reformer votieren bald für bürgerlichere Wohnkultur, um die Respektabilität der eigenen Klasse zu steigern, und als Gegen-Entwurf zur Fremdbestimmtheit der Sozialwohn-Projekte, in die man sie zunehmend zu zwingen beginnt. Wichtiger als ein Garten ist ihnen aber die freie Wahl ihres Wohn-Ortes. Demgegenüber zunehmende Verbannung an den StadtRand.
- "Private Spaces" (Roger-Henri Guerrand):
- So repräsentativ luxuriös die Wohnungen der Bourgeoisie auch gestaltet sind, so unbedacht, nachlässig, altmodisch sind sie doch oft eingerichtet in Fragen der Hygiene. Körperfunktionen, Küche und Dienstboten werden aufgrund ihrer Unschicklichkeit in ungepflegte Brutstätten nicht so sehr außer VirenÜbertragungs- als außer Blick-Reichweite gekehrt.
- Baron Haussmanns großzügige Neugestaltung von Paris befreit die Innenstadt von ungesunder Enge und Muffigkeit auf Kosten von Wohnraum, der Armen erschwinglich wäre. Die Gutgestellten leben jetzt in ihren sauberen großräumigen Häusern, der Rest wird in sauber entfernte Elendsviertel, Shantytowns verjagt.
- Die Bauern auf dem Lande gehören zu den Elenden, leben immer noch in mittelalterlichen Dung-Verhältnissen.
- Die Bourgeoisie sieht die Unterschicht als eine ganz andere, abgekoppelte, minderwertige Untermenschen-Spezies.
- In Frankreich ist die Revolution immer um die Ecke, also haben die Eliten gut Grund, sich um die Erträglichkeit der Unterschichten-Wohnverhältnisse zu sorgen. Sorge bereitet, ganz humanitär, die Lebens-Qualität in den Elends-Quartieren, aber auch das Zusammengerottet-Sein, die Promiskuität und daraus vermutete Unmoral und Mob-Fähigkeit.
- Die "Fourieristen" schlagen zur Lösung große kommunale Wohnprojekte vor, veritable Arbeiter-Städte, in denen durch Gemeinschafts-Räume und -Einrichtungen moderne Fakultäten und Luxusse erschwinglich möglichst vielen Geringverdienern zugänglich gemacht und diese solidarisch einander in ihren Lebens-Projekten bestärken können.
- Den "Liberalen" sind diese Vorstellungen ein Graus, klingen nach Kommunismus und Zusammen-Ballung gefährlicher Kräfte. Es finden sich auch nur wenige willige GeldGeber, das Meiste verläuft als Entwurf im Sande. Zola besucht eine solche Institution und findet sie gleichschaltend, einengend, auf anti-individualistische Weise Freiheits-hemmend.
- Auf mehr liberale Gegen-Liebe und Finanzierungs-Willen stoßen Projekte erschwinglicher ReihenHäuser. Mit bescheidenem, eingezäuntem Wohn-Eigentum soll der Arbeiter in die Moral des Besitzes erzogen und sein Fokus auf seine Familie isoliert werden. Das eigene Haus wird als natürliches französisches Bedürfnis und LehrMeister bürgerlicher Werte propagiert.
- "Backstage" (Alain Corbin):
- "Introduction" (Michelle Perrot):
- "The Secret of the Individual":
- Das Individuum erkennt, umgrenzt, erfindet sich neu über eine Explosion vor allem visueller Medien. Spiegel breiten sich aus und wachsen, so dass viele Menschen sich zum ersten Mal durch ihre eigenen Augen und nicht nur die des Umfeldes sehen. Fotografie hält Persönlichkeit fest und setzt neue Normen des Äußerlichen und des selbstbewussten Posierens.
- Statt der zyklischen Neu-Vergabe der immer selben Namen in der engen Dorfgemeinschaft in der anonymen Masse nun Namen als eindeutige objektive Identifikation. Herabsteigende Individualisierung, Suche nach Methoden des informationellen Festhaltens der immer mobileren und austauschbareren Einzelnen. Biometrische Vermessung und Fotografie für systematische Feststellung.
- Herabsteigende Individualisierung, das heißt auch: Die Techniken der Selbst-Individualisierung erreichen die breite Masse, demokratisieren, proletarisieren. Die Postkarte mit Grußformel erlaubt auch den Ungebildeten einen Brief-Austausch verbalisierter Intimitäten. Die Kosten für Porträt-Fotos sinken, in der Stadt hat auch die ärmste Familie welche.
- Über die neuen medialen Techniken der Erfassung wird der Einzelne vertikal erfasst und Kontroll-Strukturen geöffnet, er nutzt sie aber auch vermehrt selbst fürs Begreifen und Behaupten seines Ichs. Mein Personal-Ausweis sagt nicht nur dem Staat, wie alt ich bin, sondern auch mir selbst. Neue Selbst-Verortungen.
- Sennett hatte schon recht: Die Viktorianer hatten große Panik, ihre Körperlichkeit könnte sich irgendwie ausdrücken oder ihr Intimes sich offenlegen, und die Frauen mieden das Draußen aus Angst vor den Blicken der Fremden. Es ist das Jahrhundert der Scham, der "modesty".
- Obsession mit Masturbation und nächtlichen Emissionen. Anti-Onanie-Hosen, nächtliche kalte Duschen, kühle Betten, Schlaf-Überwachung. Thesen: Männer werden durch Masturbation schlaff und früh senil, Frauen dagegen neurotisch, hysterisch. Die Klitoris ist übel und wird am Besten weg-operiert.
- Auch die medizinischen und psychologischen Theorien steigen nun hinab aufs Individuum und versuchen aus ihm den Kern für alles Mögliche zu deduzieren. Konflikt mit Traditionen und Volks-Weisheiten, die das Leben eher holistisch mit der Welt verbunden sehen.
- Sammler-Leidenschaft, materialistischer Narzissmus.
- Tagebücher werden zur Bekenntnis-Technik, zur ständigen Selbst-Rechtfertigung, Suche nach den eigenen Fehlern, Abquälen mit dem Ich und dem Inneren als Erklär-Vorlage für die Fragen der Welt.
- "Intimate Relations":
- Die Intimität und moralische DeutungsHoheit der kirchlichen Beichte gilt bald als Konkurrenz, Angriff gegen die Intimität und moralische DeutungsHoheit der Familie. Was geht den Pfaffen unser EheLeben an? Was für Flausen setzt er unseren Kindern in den Kopf?
- Hoch steht die Intimität zwischen bürgerlichen Individuen als selbstbestimmten Subjekten: Lang lebe die innige Freundschaft zwischen Internats-KommilitonInnen, und zwischen Bruder und Schwester, und schließlich die romantische Liebe. Sie idealisiert das Mädchen zum Engel und das Begehren nach ihm zur Trieb-überwindenden Transzendenz-Pforte.
- Die SittenStrenge ist umso internalisierter, je mehr man in die Bourgeoisie gerät, aber vor allem für die Frauen. Der Knabe darf sexuelle Initiation durchs DienstPersonal erwarten, am Besten durch das sowieso schon seit je seinen Bedürfnissen nachkommende Kindermädchen, und später vor der Heirat hält er sich niedriger gestellte Geliebte und besucht das Bordell.
- Ein rationaler Grund dafür, das InnerFamiliäre geheimzuhalten, gerade da, wo es um Körperlichkeit, um Sexualität geht: die Verheiratungs-Strategien der Bourgeoisie treffen zunehmend auf Ängste vor GeschlechtsKrankheiten und erblichem SchwachSinn. Fälle davon in der Familie hält man besser geheim, will man die Kinder gut verkuppeln.
- Bis in die 1860er hat die Frau kein sexuelles Begehren zu kennen. Sie gibt sich dem männlichen Verlangen duldsam hin, so jedenfalls sind Gesten des Vorgangs gestrickt: Keuschheit, die ihre Beine nur aufgrund männlichen Zwanges öffnet. Die Medizin ignoriert die weibliche Libido beziehungsweise erklärt ihr Auftreten zur Pathologie. Der Sex der Frau ist nur Gefäß.
- Danach wächst nicht nur das männliche, sondern auch das weibliche bourgeoise Bewusstsein für weibliches Begehren. VerhütungsMittel und Abtreibung werden im wahrsten Sinne des Wortes Salon-fähig. Eheleben wird auch für die Frau zur Erotik-Frage, der Seitensprung legitimiert durch Unvermögen des Gatten.
- Viele bürgerliche Ehemänner haben Affären. Oft halten sie niedriger gestellte Damen in einer ZweitWohnung aus; SkandalGefahr seitens derer droht bei BeziehungsEnde. Ungefährlicher sind EheFrauen des eigenen Milieus, denn die wollen selber keinen Skandal. Manche Gattin duldet ihres Gatten Affäre mit der Bediensteten, denn so bleibt es zumindest irgendwie in der Familie.
- Erstmal sind Bordelle lizensiert, die Polizei sagt sich: Sie befriedigen gewisse Bedürfnisse besser in kontrollierter Weise unter unseren Augen. Als reine FickHäuser fallen sie aber mit der Erotischen Revolution aus der Mode. Später im 19. Jahrhundert werden sie extravagante Fetisch-Häuser, wenn sie noch Kundschaft locken wollen.
- "Cries and Whispers":
- Verlust der alten IdentitätsRessourcen. Das Individuum wird auf sich selbst geworfen und sucht verzweifelt nach neuen Auskünften für seine Orientierung, in der Psychologisierung, Medizinisierung, der Orthopädie, den Rasse- und Neurosen-Theorien, schließlich in der Sexualität und einem neuen Körper-Bewusstsein, der Subjektivierung seines Körpers.
- Die männliche Homosexualität schafft, wie Foucault beschreibt ("Der Wille zum Wissen"), eine eigene Spezies. Die Abnormalität wird ins zeitgenössische GeschlechterSchema gegossen und so der Homosexuelle als verweiblicht definiert. Je näher man zeitlich zurück ans Ancien Regime geht, umso stärker wird in der OberSchicht zumindest homosexuelles Verhalten toleriert.
- Die weibliche Homosexualität wird idealisiert, romantisiert. "Lesbos" klingt doch edel antik! Umso stärker die Faszination für die weibliche Libido in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Erträglich wird das lesbische Begehren, soweit es in seiner Leidenschaft als unbefriedigbar vorgestellt wird -- wo kein Mann, da keine Befriedigung.
- Die zahlreichen psychologischen Pathologien, die so gerne aufs Sexuelle pathologisiert werden. Die Hysterikerinnen aus der Salpetriere, bei denen man nicht weiß, wie sehr sie ihre Anfälle als SelbstBehauptung vorspielen (jedenfalls pflanzen sie ihre Tics an BühnenDarstellerinnen fort).
- Das WegSperren angeknackster oder auch nur devianter FamilienAngehöriger in die IrrenHäuser. Sie schaden sonst dem Ansehen, dem MarktWert der Familie. Einmal fort, werden sie vergessen. Aber auch die Tuberkulösen schickt man lieber fort aus dem Schoß der Familie, in die KurBäder, jetzt, wo man doch weiß von den Bazillen und der Übertragbarkeit.
- Konklusion (Michelle Perrot):