Buch: "A History of Private Life. Revelations of the Medieval World" (Hsrg. Georges Duby, Übersetzung Arthur Goldhammer)
Lektüre-Notizen:
- Vorwort (Georges Duby):
- Anvisierter Zeitraum: ab 1000AD, in der Theorie. In der Praxis seien die Quellen aber spärlich, geben erst ab dem 12. Jh. Auskunft und verdichten sich sinnvoll ab dem 14.; hier werde der contemptus mundi abgestreift, die profane Welt wird plötzlich zum würdigen Analyse- und Darstellungs-Gegenstand, und die Pest wirbelt die Gesellschaft grundlegend auf; ab da auch wird der Staat daran arbeiten, seine Bevölkerung zu sezieren und hilfreiche Akten hinterlassen.
- Dieselben Vorbemerkungen wie bei Band #1: Gewagtes Unterfangen, in dieser fernen Vergangenheit nach Privatsphäre zu bohren, aber man sei guten Mutes, irgendwas in die Richtung schon zu finden; nur, ach, die Quellen seien leider spärlich, man könne nur Inseln herauspicken, und das sei alles mehr Forschungs-Versuch als Monographie.
- Alles ein Gemeinschaftswerk, die Autoren-Zuordnungen sind mehr so ungefähr, jeder hat an allem ein bisschen gewurstelt.
- Einführung (Georges Duby):
- Lexikalische / linguistische Beweisführung, dass das Gegensatzpaar "privat" / "publik" von heute bis zurück zu Cicero immer grob dasselbe bezeichnet habe, nämlich Einzel- vs. Gemeinschafts-Eigentum, mein Haus vs. Staat, das was nur dieses Haus was angeht vs. was alle was angeht. Das letzte Paar als informationstechnische Anordnung von Geheimnis vs. Allgemeinswissen kommt dabei allerdings am Schwächsten weg, die Eigentumsfrage scheint umso mehr im Vordergrund zu stehen, je weiter man zurückgeht.
- Im Mittelalter drängt das Private die res publica immer weiter zurück. Ließ sich der Kaiser noch als Diener statt Eigentümer der res publica lesen, pervertiert der König sie schon merklich zu seinem Privatbesitz; lateinische Gelehrte versuchen, es sich schönzureden, diesen Privatbesitz mit einem Staat und einem öffentlichen Wohl gleichzusetzen, aber das trägt bald auch nicht mehr sehr weit.
- Ganz bricht das Bild zusammen, als die Aufteilung des königlichen Privatbesitzes auf Vasallen-Verwalter zum Feudalismus umstürzt: Je weniger der König seinen Besitz-Anspruch aufs Gesamt-Territorium durchzusetzen weiß, umso mehr zersplittert letzteres zu einem Nebeneinander gegeneinander abgezäunter Privatbesitztümer mit immer spärlicheren "öffentlichen" Zwischen- oder Vermittlungs-Räumen (wie z.B. Straßen); man macht Dinge zwischen Nachbarn aus, nicht über den Umweg höherer Institutionen.
- Raum als Privatbesitz wird ein immer mächtigeres Konzept gegen die res publica: Hier gelten die Gesetze des Eigentümers, des örtlichen dominus, der verfahren kann wie es ihm beliebt. Ausnahmen für bestimmte Fälle oder Gruppen müssen extra vermerkt und durchgesetzt werden. Bedeutender, härter als alle Gesetze über die Vorgänge im öffentlichen oder im privaten Raum sind die über die Missachtung oder Korruption von (den markant physischen) Grenzziehungen zwischen diesen Räumen.
- Der dominus ist bemüht, alles Leben auf seinem "Hof" der Familienpyramide zu unterwerfen, deren paterfamilias er ist. Die Karolinger noch machten ihre Sklaven zu Bauern; der Feudal-Adel zwingt alle Bauern zu seinen Sklaven. Entweder man ist ein Herr oder man gehört einem; die Grenzen zwischen Freien und Unfreien fallen, erstere verlieren nach und nach ihre Privilegien gegenüber letzteren; sie gehören dem Herrn bald mit Haut und Haar, können ihm gegenüber auch nicht die eigenen Kinder beanspruchen.
- So führt die Verabsolutierung der einen Seite des Privaten -- der Ansprüche des Privat-Eigentums -- zur Erniedrigung der anderen: der Privatsphäre. Denn je mehr Europa in Privat-Eigentümer zerfällt, umso mehr sind die Menschen auch selbst Privat-Eigentum und büßen damit jede Privatsphäre gegenüber ihren Herren ein, die ihre Hütte auf- und durchsuchen und Frau und Kind und Tier und Nippes und Zeit und Arbeitskraft begutachten, vereinnahmen und enteignen können, wie es ihnen beliebt.
- Mit Zerfall der Königs-Macht steht fürstlichem Lokalismus und seinen Fehden nur noch die Kirche als Kraft gegenüber, die aufs Gesamt-Territorium Einfluss hat. Das Netz ihrer Inseln -- bis zum Grund der Dorfkirchen -- verteidigt sie mit dem selben Eifer wie jeder Fürst seinen Privatbesitz, aber ihre Perspektive ist weitreichender: In diesem Privatbesitz formt sie eine neue res publica, vereint Dörfer in neuen Gemeinschaftsformen und setzt den "Gottesfrieden" gegen die Fürsten durch.
- "Portraits":
- "The Aristocratic Households of Feudal France":
- "Communal Living" (Georges Duby):
- Der Haushalt hat nichts mit Blutverwandtschaft zu tun. Er ist Dach für die familia der Mönche genauso wie die des Schlosses/Hofes.
- Die Klostergemeinschaft setzt auf Autarkie und umgibt sich mit einer Mauer mit nur einem kontrollierten Durchgang. Tatsächlich versorgt sie sich aber auch über äußere Filialen und Außenkontakte. Ihre Aufgaben schließen Tätigkeiten in der Welt ein. Sie beherbergt und versorgt adelige Gäste, Reisende/Pilger, Arme. Innerhalb ihrer Mauern ein räumlicher Verlauf zwischen Räumen Richtung dem geschützt-reinen Heiligen, den Mönchen vorbehalten, und Räumen Richtung Schmutz und Weltlichkeit, Besuchern offen.
- Vorbei das individualistische Eremiten-Idyll: Die Betonung im Klosterleben liegt jetzt auf Gemeinschaft, Gemeinschaftsräumen und -tätigkeiten. Hier begehrt der Novize Eintritt, hier wird der Kranke/Sündige ausgegrenzt. Gemeinsam beim geteilten Mahl schweigen, während einer allen vorliest. Nur das Bett sollen die Mönche nicht teilen: Angst vor Homosexualität. Die Isolation ist ein Spezialfall, Exil für Büßer und drei Tage lang die Zäsur und Selbstreflektion des Novizen, ihm Tod und Wiedergeburt.
- Der feudale Haushalt ist weltlicher. Auch er schottet sich architektonisch ab: Graben um Schloss-Hügel, Durchgang nur über Brücke. Aber statt sich autark zu geben, thront sein Turm symbolisch übers Umland. Reger Verkehr rein wie raus von hinaus-reisenden oder -verheirateten Familienmitgliedern, Zulieferern, Assoziierten anderer Haushalte.
- So ein feudaler Haushalt kann unterm paterfamilias schonmal hundert bis zweihundert Menschen sammeln: eigene Stäbe für Mahl, Stall, Kapelle; Ritter, Blutsverwandtschaft; alle muss der Vater mit Nahrung, Kleidung, Bett versorgen. Reichtümer hortet man nicht um ihrer selbst Willen, sondern legt man an in derartige Bindung von Menschen ans eigene Haus.
- Das Ehepaar aus paterfamilias & Frau bildet den Haushalts-Kern, um den sich alles definiert. Kein Haushalt ohne Ehefrau, es braucht biologische Kinder für Erbe & Verheiratung. Auch kann sie administrative Aufgaben übernehmen. Als Mensch war sie austauschbar, vor allem, wenn unfruchtbar; Ehebetrug ist weniger sentimentales Problem, sondern entehrt die Familie; zuweilen willkommener Anlass zur Scheidung. Der paterfamilias duldet sie als Köder für höfisches Liebeswerben, denn es zivilisiert den Hof.
- Die Räume des Hofs erfüllen vor allem öffentliche Funktion, es gibt aber spezielle Frauenräume mit strengen Zutritts-Beschränkungen. Die sind den Männern Natur-mystisch: Hier geht man hin zum Gebären, zum Vögeln, zum Sterben (die Frauen pflegen die Kranken). Hier sollen die Frauen beten und häkeln, dem Treiben dort gelten aber auch viele Fantasien und Unterstellungen des Unsittlichen, vor allem der Sexualität der Frauen untereinander oder mit den hier umhegten Kindern.
- Auch die "privaten" Räume (zum Beispiel zm Schlafen) sind keine Räume des Individualismus. Wie bei den Mönchen werden nicht Individuen von der Außenwelt abgeschottet, sondern Gemeinschaften, wenn auch vielleicht hierarchisch um ein Individuum gruppert. Die mittelalterlichen Romanzen zeigen die Hofdame sehnsuchtsvoll am Fenster, denn der Raum des Geheimtreffens mit dem Liebhaber ist sicher nicht der Innenraum, sondern das Draußen, vielleicht ein Versteck im Wald oder Obstgarten.
- Der mittelalterliche Mensch, das betont Duby, strebt nach Draußen, erstickt im übervölkerten Innen. Wenn es einen Raum für selbstbestimmtes Leben des Einzelnen gibt, dann nicht in der Kammer, sondern in der Natur.
- Das Sterben ist fürs Kloster- wie Feudalherren-Leben ein ausgesprochen sozialer Akt, der viel Interaktion mit und Umhegtsein durch die Gemeinschaft einschließt; eine letzte, nun öffentliche Beichte für den Mönch; das Verteilen aller Güter und Verantwortlichkeiten für den paterfamilias.
- "Kinship" (Dominique Barthelemy):
- Der in sich vergleichsweise geschlossenen Zweck-Gemeinschaft des Haushalts stehen die Blutsbande gegenüber, die sich wie ein großes, unübersichtliches und verworrenes Netz über Land und Adel spannen. Hier ist man weniger gleichgeschalteter Teil als individueller Knoten: Statt mit allen Verwandten unterm selben Dach aufzugehen, hat hier jeder seine eigene Anordnung von Verwandtschaftsgraden und Vorfahren, die ihn in die Pflicht nehmen oder ihm Privilegien verschaffen.
- Die Blutlinie ist ein Macht-Spiel der Aristokratie. Der Bauer schert sich nicht groß drum, wer sein Ur-Onkel 11. Grades ist: Vielleicht bringt ihm eine Heirat Land ein, das er angliedert, wenn es benachbart ist, oder verkauft, wenn es sonst wo liegt; weiter reicht sein Blick nicht. Im Adel bedeutet Verwandtschaft aber ein komplexes System aus Abhängigkeiten und Ansprüchen, das ein Interesse fürs ausführliches Führen vorteilhafter Stammbäume weckt. Ausblendung unvorteilhafter Familien-Ränder.
- Die Kirche über-interpretiert ein biblisches Inzestverbot und verbietet die Heirat bis zum Cousin 7. Grades. In der dicht verbandelten Aristokratie heißt das: Du musst weit reisen, wenn du heiraten willst. Bzw. ein willkommener Anlass für Scheidungen, irgendeine vergessene Blutlinie lässt sich bei Bedarf immer aufdecken. Umso weitreichender wird das Sippen-Netz: Man muss viele Generationen warten, bis man eine bestimmte Blutlinie durch Endogamie erneuern/stärken kann.
- Die Kirche setzt ihr Inzest-Verbot durch, ihr (leicht seitens des Mannes auszuhebelndes) Scheidungsverbot und einen Zwang zum zumindest lippenbekennerischen Heirats-Konsens der Frau. Aber nur langsam rückt kirchlicher Anteil am Ritual der Ehe-Schließung in den Vordergrund. Die Kirche drückt eine zumindest symbolische Gleichstellung der Frau durch gegen ihre Herabwürdigung zum biopolitischen Werkzeug seitens der Barbaren; Geistliche fröhnen aber weiter gern dem Bild der Frau als satanischer Verführerin.
- Die Gewalt der langen Blutlinie im Individuum wird gern als politisches Kalkül angerufen, und findet auch rege Mystifizierung in den Texten der Zeit. In der wirren Vielfalt der Blutlinien, denen jeder Einzelne unterliegt, darf aber als einziges sentimentales Band doch nur die nuklearfamiliäre Nähe vermutet werden. Es gibt nach später hin wachsende Hinweise auf emotionale Nähe zwischen Eltern und Kind und Ehemann und Ehefrau.
- "Tuscan Notables on the Eve of the Renaissance" (Charles de La Ronciere):
- Uff, ein größerer Kontrast zum letzten Kapitel ist schwerlich vorstellbar als der zur Renaissance des 14./15. Jahrhunderts in den italienischen Städten. Ein irritierender Fremdkörper, auf den das bisherige Narrativ überhaupt nicht vorbereitet hat; liest sich manchmal so, als sei aus dem Nichts kommend die Moderne schon ausformuliert, die Aries und Rybczynski für die nördlicheren Gegenden Europas erst ein paar Jahrhunderte später verorten.
- Viel mehr aber ist es ein anachronistisches Nebeneinander aus diskontinuierlich erscheinendem Neuen und sich auf den ersten Blick dazu widersprüchlich verhaltendem Alten. Neuzeitliche Familien-Sentimentalität neben dem Fortbestand der römischen patria potestas. Zusammenschrumpfen der Haushalte auf ein Minimum an Dienerschaft, darin aber immer noch Haltung von Sklaven, noch immer frei vom Eigentümer vögelbar. Ausgefeilte Haus- und Komfort-Technologie zur Zeit der Pest.
- Contra Rybczynski: Die noblen Familien zerteilen schon jetzt ihre Häuser in viele Räume, funktional und auf einer Skala von privat und öffentlich ausdifferenziert. Zu seiner Verteidigung angemerkt, dass Verwendung, Belegschaft, Möblierung der Räume trotzdem fluide gewesen zu sein, und dass trotzdem ein großes Kommen und Gehen von Gästen, Klienten, Freunden, Händlern geherrscht zu haben scheint. Noch immer teilt man das überdimensionierte Bett oft mit Vielen, noch immer die Truhe beliebtestes Möbelstück.
- Die relative Obsession der Gemälde mit Innenräumen und profanem Leben scheint markant. Abgestreift der contemptus mundi, Feiern des weltlichen Individuums und seiner Sphäre. Physiognomische und architektonische Detailverliebtheit.
- Individualismus heißt auch: In der sozialen Komplexität der Stadt gibt es so viele Wege und Gemeinschaften, denen ich mich zuwenden kann, weit über feudale oder monastische oder genetische Bindungen hinaus. De La Ronciere nennt vieles "privat", was vor allem einen Eigenkörper gegen andere Inanspruchnahmen bildet, oftmals aber auch nur durch die Einbindung in ein anderes Kollektiv: Nachbarschaften, Freundschaftsbünde, Jugendgangs, Räuberbanden.
- Wer es sich leisten kann, vervielfältigt persönliche Privaträume, vor allem das Bettzimmer; hier wird nicht nur geschlafen, hier ist ein individueller Allzweck-Rückzugsraum. Der Renaissance-Mann hat auch seine Bücher-, Lese-, Schreib-Ecke. Die Ehefrau richtet sich ihre Kammer als Ort der Sentimentalität und der Spiritualität ein, als Privatkapelle, in der sie nach Kleriker-Meinung am Besten ihre gesamte freie Zeit der Andacht widmet. Beide üben sich rege im Briefe-Schreiben.
- Die Kirche rät zum Rückzug ins heimische Private, frei von Verführungen und Ablenkungen der sündigen Außenwelt, Raum der Ordnung und Stille und Innerlichkeit. Der Humanist, ganz civitas, predigt dagegen den Mann als urbanes, öffentliches Wesen. Beide gehen aber damit OK, die Frau von der Straße fern zu halten.
- Wird das Mädchen zwölf, wird es zur Sicherung seiner Reinheit eingeschlossen, verlässt es das Haus am Besten gar nicht mehr. Die Frauen werden sogar dafür gescholten, dass sie aus dem Fenster blicken. Hier gieren die Blicke auf die Jünglinge der Straße, und die wissen aus der Ferne zu verführen.
- Verglichen zum Studium der Barbaren im letzten Kapitel erfährt die Kirche kaum eine Erwähnung. Die italienische Stadt ist schon Zivilisation, vermutlich braucht sie die Hilfe der Kirche nicht so sehr. Sogar die Eheschließung findet ohne Priester statt.
- "Imagining the Self / Exploring Literature" (Danielle Regnier-Bohler):
- Die Literatur rund ums 13. Jahrhundert obsessiert über die Grenzen von Gemeinschaftsräumen, das Dazu-oder-Nicht-Dazu-Gehören, das Drinnen und Draußen. Der Held ist derjenige, der solche Grenzen überschreitet; große Bedeutung hat sein Gang hinein oder hinaus, das Eindringen-in oder Aufgenommen-Werden-von oder das Verbannt-Werden aus einer Gemeinschaft.
- Das Mittelalter misstraut der Vereinzelung. Sucht der Held Einzelne, Autarke auf, so beschreibt die Erzählung vorher ausführlich die Ferne, Wildnis, Öde jenseits jeder Zivillisation, die er als Weg dorthin zurücklegen musste. Wer für sich lebt, der lebt draußen, nackt (Kleidung ist Gruppenzugehörigkeit), wurde vermutlich von Wölfen oder Bären großgezogen. Werwölfe sind ein Bild für Asoziale, die einmal Soziale waren oder wieder werden.
- Gewichtig ist die Identität durch Gruppenzugehörigkeit, vor allem qua Abstammung. Blut ist in den Erzählungen stärker als Sozialisation, die Enthüllung einer anderen als der von mir vermuteten Herkunft kann mich zu einem anderen Menschen machen, meine Solidaritäten und Neigungen spontan auf den Kopf stellen. Die Geschichte der Mutter, die ihr kleines Kind die fremde Milch der Hebamme erbrechen ließ, damit es nur die Milch des eigenen Blutes trinke.
- Und zugleich: Häusliche Räume jenseits der Halle scheinen nun oft auch als private Rückzugsräume, vielleicht sogar nur für einen Einzelnen, verstanden zu werden. Oft teilt man noch das Bett, aber ein Ritter, der sich wohlverdient auskuriert, der seinen Schlaf braucht, den soll man allein schlafen lassen. Bestrebungen, der Promiskuität zu fliehen. Die Ehefrau schläft allein, und die Kirche rät ihr, soviel Zeit wie möglich mit sich und ihrer christlichen Innerlichkeit in ihrer Kammer zuzubringen.
- Und zugleich: Scham. Die Frau möge nicht zuviel nackte Haut zeigen, das regt nur unsittliche Gedanken bei den Männern an. Geschichten von Spannern, die beim Baden beobachten.
- Und zugleich: Die höfischen Liebesromane sind voll von geheimer Kommunikation, geheimen Treffen, und geheimen Beobachtern derselben. Der Obstgarten, ein wundervoller Ort der Sinnlichkeit und der Intimität geheimer Liebender, ist zugleich sehr durchlässig für Spionage.
- Und zugleich: Geheime Sprachen und Codes von Gruppen. Die Frauenvereinigungen, intime, klandestine Gruppen-Identitäten; und anderswo, der Ritter, der seine Identität geheimhält.
- Und zugleich: Literarische Verinnerlichung. Langsam wechseln die Autoren von einem universalen "Ich" zu einem personalen; ich erzähle meine eigene Geschichte, mit meinen eigenen Empfindungen.
- "The Use of Private Space":
- "Civilizing the Fortress: Eleventh to Thirteenth Century" (Dominique Barthelemy)":
- Klassisches Bild des Donjon / Wehrturms: In diesen kargen Räumen kauern sich die Schlossbewohner ungemütlich zusammen, in den kriegerischen Zeiten des 11./12. Jahrhunderts.
- Ursprünglich ist der Donjon nur ein Rückzugs-Ort für den militärisch Notfall, dementsprechend vernachlässigt scheint er als Wohnbereich; eigentlich wohnt man in einem anderen Gebäude inmitten desselben Gartenzauns. Dann kommt man immer mehr auf die Idee, Wohn- und Wehrbereich zusammenzutun, weil es sich zentralisiert besser und sicherer lebe; das Gesamtergebnis ist sowohl militärisch fitter als auch wohnlicher.
- Das Bild von der inneren Kargheit ist auch fragwürdig. Man vergisst zu leicht den flexiblen Charakter der feudalen Innen-Einrichtung: räumliche Unterteilungen durch Vorhänge (oder inzwischen verrottetes Holz), mobile Möblierung, die von Festung zu Festung weitergetragen wird.
- Verwirrung der Begriffe. Kammer, Halle, austauschbar benutzt, bezeichnet oft nur Größenunterschiede. Man benutzt Räume flexibel, wie es gerade passt, statt sie auf Dauer einem bestimmten Zweck zu weihen.
- Wie ich mein Haus baue, das ist verzahnt mit meiner Stellung in der Feudalpyramide; Fassade wie Inneneinrichtung haben einen stark repräsentativen Charakter, weshalb mancher Turmbau auch durch Einspruch des Nächsthöheren unterbunden wird, der nicht von der Ambition seiner Treuen überflügelt werden möchte.
- Die Raum-Anordnung orientiert sich, wie auch alles Andere im feudalen Haushalt, an der Zentralität des hier herrschenden Ehepaars; um ihr Schlafzimmer herum Bereiche/Ringe verschiedener Zugänglichkeitsstufen, und damit gewissermaßen auch verschiedener Privatsphärengrade.
- "Peasant Hearth to Papal Palace: The Fourteenth and Fifteenth Centuries" (Philippe Contamine):
- Besteuert wird nicht nach Individuen, sondern nach Feuerstellen, gleichgesetzt einem Haushalt bzw. einer Blutsfamilie. Statistiker rechnen mit vier bis sechs Köpfen pro Haushalt, umso mehr je höher die Kindersterblichkeit.
- Die Bauern hausen mit ihren Tieren unter einem Dach, in eher improvisierten statt dauerhaften Hütten von oftmals nur ein, zwei Räumen. Mit der Zeit geht der Trend aber zum Absondern der Tiere und zu stabileren Häusern mit mehr Räumen; wer wohlhabend ist, baut sich bald ein kleines Herrenhaus.
- Die Städte sind eng, dichtgepackt; wer ein Grundstück bebaut, opfert der Straße keinen Zentimeter Vorraum. Öffentlicher Raum, breite Straßen, jedermann zugängliche Plätze sind rar und erhalten Sonderlob, wenn man auf sie stößt; dafür haben die Häuser oft hinten einen Privatgarten.
- Die Bürgerhäuser entsprechen Rybczynski, soweit sie Arbeits- und Ladenräume enthalten und hier zur Straße offen sind; sie widersprechen ihm in der Fortgeschrittenheit der räumlichen Fragmentierung und Trennung zwischen öffentlichen und privaten Räumen.
- In den Klostern gerät das Gruppen-Dormitorium aus der Mode. Das Ideal von Kartäusern & Co. ist nun der Mönch allein in seiner Zelle, die er nur mit gutem Anlass verlassen soll; je mehr er allein kontemplierend in ihr Zeit verbringe, desto mehr werde er sich darin wohlfühlen. Nicht verwechseln mit Freiheit: Ein Überwacher kontrolliert den Korridor und schaut regelmäßig in jede Kammer.
- Es gibt immer schickere Betten, und zumindest in der Oberschicht einen Trend zum Alleinschlafen und Dabei-Aussperren des sozialen Gewusels; noch schläft der Großteil der Menschen aber auf wenig Besserem als belegtem Stroh, und zu mehrt. Medizinische Warnung, in den Krankenhäusern, zwölf Kinder im selben Bett, das sei für Kranken-Isolation und Hygiene durchaus problematisch.
- Fazit schließt pro Rybczynski und Aries (wenn auch vielleicht ein zwei Jahrhunderte vorverlegt): Von einem Vorher des Draußen, Gewusels, flexibler Multifunktions-Großräume hin zu einem Nachher des Drinnen, der Individualisierung, der Isolation, räumlich-funktionaler Festlegung und Fragmentierung; Wandel vom 13. bis 16. Jahrhundert. Die Diener hält man übrigens noch nah, nicht nur, um sie leichter herbeizurufen, sondern auch, um sie besser zu kontrollieren.
- "The Emergence of the Individual":
- "Solitude: Eleventh to Thirteenth Century" (Georges Duby):
- Am Anfang gibt es kein Alleinsein. Privatheit ist nie individuelle, immer nur kollektive. Es gibt Geheimnisse, aber das sind nie die des Einzelnen, sondern der Sippe, der Bande, der Gruppe. Wer allein geht, der muss wahnsinnig sein, ein Selbstmörder, der lädt Vergewaltigung und Raub und Mord ein, und vor allem: die Korruption durch den Teufel. Held ist nur, wer sich dem Alleinsein als Prüfung aussetzt und dann gestärkt von der Herausforderung in die Gemeinschaft zurückkehrt.
- Im 12. Jahrhundert ändern sich die Verhältnisse so langsam. Mehr Privat-Initiative, mehr Unabhängigkeit des Einzelnen durch mehr Geld-Fluss. Der Traum, sich aus der Gemeinschaft zu lösen, wird für viele realistischer; die höfische Literatur fokussiert nun mehr den einzelnen Ritter und macht ihn zu einem Held durch eigene Leistung. Gleichzeitig interpretieren neue Mönchsorden Benedikt von Nursia individualistisch (statt wie Cluny kollektivistisch). Einzel- statt Gruppen-Gebet!
- Der höfische Liebesroman ist ein Gegen-Entwurf zur gemeinschaftlichen Promiskuität im dichtgedrängten Feudal-Haushalt, wo wild und respektlos untereinander rumgevögelt wird. Die höfische Liebe zivilisiert, indem sie die Werber um die Frau des Herren zu Heimlichkeit und monogamistischem Konkurrenzkampf erzieht. Liebe kann nur gedeihen, wenn sie das Geheimnis der beiden Beteiligten bleibt: die Intimität zwischen zwei Individuen wird zum Liebes-Ideal erhoben.
- Der höchste Teil des Menschen ist seine Seele, der Körper ist der Schutzwall darum; draußen ist die Korruption. Verhülle dein Innerstes, indem du deinen Körper bedeckst. Frauen sind besonders schutzbedürftig -- warum sonst sind bei ihnen die Geschlechtsorgane des Mannes nach Innen gekehrt? Sie sollten nur mit bedecktem Haar das Haus verlassen, und am Besten gar nicht; es ist die Aufgabe des Mannes, einen beide Seiten schützenden Keil zwischen sie und die Welt zu treiben.
- Im 11. Jh. noch waren die Mönche fürs Seelenheil Aller verantwortlich, der Laie auf Suche nach persönlichem Draht zu Gott ein Ketzer. Im 12. Jh. muss sich die Kirche aber langsam mit dem anwachsendem Trend zu letzterem auseinandersetzen. Wenn schon, dann bitte reguliert! Kirchliche Basis-Arbeit sagt den Schäfchen, wie sie die Religion korrekt in ihr Privatleben integrieren, Erziehung, Kontrolle, Rituale. Jedes Dorf bekommt seinen Pfarrer, niemand soll mehr außerhalb einer Kirchen-Gemeinde leben.
- Das 4. Laterankonzil führt schließlich im 13. Jahrhundert die persönliche Beichte ein. Inzwischen wird dem Laien also zugetraut, seine eigenen Sünden zu reflektieren und im Geheimen zwischen sich, einem Priester und Gott auszumachen; vorher waren Beichte und Reue ein öffentlicher, aber auch seltener Akt. Nun wird sie zu einer verpflichtenden jährlichen Institution. Verinnerlichung, Kontemplation, Selbstreflektion wird nun von jedem Christen verlangt, nicht nur von der spirituellen Kloster-Elite.
- "Toward Intimacy: The Fourteenth and Fifteenth Century" (Philippe Braunstein):
- Zurück in die Stadt der Früh-Renaissance: Hier wird viel von zivilen Werten, von der res publica geredet, der ein stolzer Mann sich zu widmen habe, anstatt sich ins Private zurückzuziehen. Abwertung einer bestimmten Vorstellung vom Für-sich-Sein, zugunsten einer aktiven, gestalterischen Teilnahme an einer bestimmten Form vom Gemeinschaft; der Gegensatz ist aber schon ein ganz anderer als der vom mittelalterlichen Kollektiv zum unmöglichen Individuum. "Nicht privat" != "nicht Individuum".
- Am Potentesten bildet sich der aufkommende Humanismus-Individualismus-"Realismus" in der bildenden Kunst ab: Der mittelalterliche Symbol-Desktop wird zur naturalistisch-analytischen Zentralperspektive, und die Eigenheit und Vielfalt menschlicher Gesichter wird mit vollem Mut zur Hässlichkeit zelebriert. Porträts sind zugleich Rätselbilder, Geischtsausdruck, Blickrichtung und kleine dekorative Details behaupten Geheimnisse zu Hintergrund und Innerem der Person.
- "Realismus" in Anführungsstrichen, denn diese neue Abbildungsform wirkt vielleicht auf uns näher an der Welterfahrung, aber nicht unbedingt für den kurzsichtigen Bauern ohne Brille, oder für jemanden, dem die Welt ganz früherem mittelalterlichen Geiste entsprechend in Symbole einer transzendenten Ordnung zerfällt; viele spätmittelalterliche Bilder, die unserer realistischen Ästhetik nahe scheinen, sind auch nach wie vor einfach Symbol-Konfigurationen, alles Andere als Photographie.
- Wackeliger die humanistische Selbstfindung in der Schrift. Viel vermeintliche Subjektivität ist einfach ein Nachäffen des Stils antiker Autoren, z.B. Augustinus. Andere Autobiografien und Tagebücher versprechen tiefe persönliche Einsichten und machen dann einfach nur eine trockene Finanz- oder Möbel-Inventur, oder eine Tabelle des beruflichen Werdegangs. Introspektive und Ich-Begriff kommen nicht einfach so, müssen scheinbar erst mühselig als literarische Form erarbeitet, erfunden, adoptiert werden.
- Familien-Memoiren, Familien-Porträts, Totenmasken nach etruskischer Tradition. Autobiografische / tagebücherige Texte werden als genetisches Gedächtnis der Blutlinie geführt, verzeichnen Finanzen ebenso wie besondere Ereignisse, Geburtsdaten und Kindstode ebenso wie lehrreiche Erfahrungen für den Familiennamen. Hier tritt das Individuum immer noch hinter den größeren Körper zurück. Weitergabe des Textes nur an den Erben, vor der Welt dagegen geheim halten. (Oft z.B. ein Steuerbetrugs-Ratgeber.)
- Kleidung macht den Mann, und bald auch das Individuum. Die Geschichte vom Pelzträger, der in einer Masse der Nackten seinen Pelz verlor und sich nun vernichtet glaubt. Der strengen mittelalterlichen Kleider-Ordnung, die für klare soziale Rollen steht, droht die Auflösung durch exzentrisch-individualistische Kleider-Moden; viele Gesetze dagegen. Neue, freiwillige soziale Körperschaften pflegen ihre eigenen, vielleicht geheimen Dress-Codes. Neue Gruppen-Identitäts-Konzepte.
- Erstarkendes Bewusstsein für den eigenen Körper, dessen Analyse, Pflege, Gestaltung. Wie Poggio Baden besucht und dort, im hohen Norden, in der antiken Schamlosigkeit der Körper-Gemeinschaft eifersüchtig Platos Politeia zu erkennen meint.
- Wir sind jetzt auf jeden Fall bei der Kammer als privatem Rückzugsraum zumindest des gutgestellten Renaissance-Individuums angekommen. Hier reift nun wahrlich eine Kultur des privaten Intellektualismus, des stillen Lesens und Schreibens als individualistisches Vergnügen.
- Gleichzeitig nimmt das religiöse Privatleben des Individuums nun volle Form an, Formeln des Betens und Meditierens für jedermann, heilige Gegenstände im eigenen Haushalt, Reliquien, Heiligenbilder, Rosenkranz/Gebetsketten. Für Rückzug von der Welt, Verinnerlichung, Erleuchtung, Visionen, Ekstase brauch ich nun nicht mehr ins Kloster oder in die Wüste, sondern nur noch auf mein Zimmer gehen.