Buch: "A History of Private Life. From Pagan Rome to Byzantium" (Hsrg. Paul Veyne, Übersetzung Arthur Goldhammer)
Lektüre-Notizen
- Vorwort (Georges Duby):
- Philippe Aries ist zwar tot, aber hat diese Buch-Reihe angeregt und vorbereitet. Ist ja schließlich eines seiner Hauptthemen gewesen!
- Mehr Recherche als Monographie. Der Historiker glaubt zuerst, es gäbe ganz viel Material zu seiner Frage, und stellt dann fest, dass der brauchbare, zugängliche Dokumenten-Wust doch recht klein ist, die Rekonstruktionsversuche fragmentarisch bleiben müssen.
- In der untersuchten Langzeit Privatheit einerseits eine recht neue Erfindung, andererseits die Grenzziehung Privat-Öffentlich recht weit zurückreichend konstruierbar, nur halt mit verschobenen Parametern und Bedeutungen. Einerseits Privatsphäre ein Schutz-, andererseits ein Problemkonzentrationsraum.
- Datenschutz-Duby: "There is, I think, an urgent need to protect the essence of individuality from headlong technological progress. For unless we are careful, individual men and women may soon be reduced to little more than numbers in some immense and terrifying data bank." (p. ix)
- Einführung (Paul Veyne):
- Die Quellenlage ist dürr. Wir haben uns auf die Bereiche beschränkt, zu denen wir genug Fragmente finden konnten.
- "History is a journey into otherness." Und das Alte Rom ist sehr anders. Es soll uns verdeutlichen, welche Entfernung die Entwicklung zurücklegte.
- Warum Rom, warum nicht die alten Griechen? Weil das Privatleben im Römischen Reich das der Bergspitze des Hellenismus ist, selbst wenn die Eigenarten Italiens und der Etrusker auf andere Bereiche mehr formenden Einfluss gehabt haben mögen.
- "The Roman Empire" (Paul Veyne):
- Einführung: (puh, wieviele VorwortEinleitungEinführungen kommen denn noch?)
- Interpretation des Titelbildes. Erst die Versuchung, in diese Gesichter humanistische Universalität reinzuinterpretieren. Dann der brutale Bruch: diese Augen, diese Gesten sind nicht das, was ihr Romantiker glaubt; sie sind nicht naturalistisch und nach einem uns völlig fremden Referenzsystem konventionalisiert.
- Franzosen schwallern selbst in englischer Übersetzung unglaublich rum: "If friendship and grief have claims on us, let me dedicate the pages that follow to the memory of Michel Foucault, so towering a man that with him I felt the pleasure of living beside a mountain." (p.7) Gefühlt die Hälfte des bisherigen Textvolumens bestand aus hyperbolischen Hymnen auf verstorbene Vorbilder/Kollegen.
- "From Mother's Womb to Last Will and Testament":
- Frau wirft Leben, Vater entscheidet dann, ob er es als Kind annimmt oder öffentlich aussetzt. Man ist da picky und entscheidet sich nicht nur gegen Missgebildete, sondern gegen alles, was im eigenen Familien- und Finanz- und Erbverteilungsplan nicht vorgesehen ist. Vielleicht will man mit der Aussetzung auch nur symbolisch was beweisen. Halt postnatale Abtreibung: Mann hat ein Kind nur, wenn er es für sinnvoll erachtet. Verhütung, Abtreibung, Sterilisierung sind normal im römischen Sexualleben.
- Hat man ein Kind angenommen, kümmert man sich nicht etwa persönlich drum, sondern stellt's unter die Obhut von Aufziehpersonal, vielleicht im Haus ferner Verwandter. Affektiv näher als die Eltern, die es selten sieht, werden dem Kind diese Personen im Gedächtnis bleiben.
- Identitätsstiftend und zu fördern ist nicht so sehr die Blutsverwandtschaft als der Familienname. Kinder kann man hin und her schieben, je nachdem, wie es dieses Projekt voranbringt; Adoption auch ins Alter hinein ist sehr verbreitet, die Aufnahme unter den eigenen Familiennamen. Stirbt ein Sohn, trauert man um ihm, soweit es das Projekt der Ruhmes-Mehrung für den eigenen Familiennamen stört (man hatte vielleicht noch große Pläne für ihn), nicht weil sich die Flucht der eigenen Lenden verlor.
- Kurzum, der psychologische Familiensinn, dessen Entwicklung Aries in der "Geschichte der Kindheit" für die westliche Neuzeit beschreibt, ist hier noch Jahrtausende entfernt. (Auch ansonsten liest sich das Kapitel zuweilen so, als sei es mit Aries im Hinterkopf geschrieben.)
- Schule besucht man nicht, um aufgezogen zu werden, sondern fürs Prestige klassischer Bildung (also der Autoren, die von den Schulmeistern besonders gern als Klassiker gelehrt werden). Hier lernt man die Texte und Mythen zum Angeben auf der Cocktail-Party, und für dieselbe die respektabelsten Schaukünste, d.h. die sprachlich-performative Eloquenz und die Rhetorik. Die praktischen Lebensdinge dagegen lernt man während ihrer Ausübung. Wie in Aries' Mittelalter beginnt schon früh die Lehre des Berufslebens.
- In Griechenland ist das Gymnasium eine öffentliche Institution. Vor allem betreibt man hier aber Sport, die geistigen Künste sind Bonus.
- Ein Mädchen lernt nicht die Klassiker, sondern SingenTanzenMusizieren. Mit zwölf gilt sie als "nubile" und heiratsfähig, einschließlich Erfüllung ehelichen Bettdienstes. Ehe erfordert Konsens beider Seiten, wobei der Wille der weiblichen Seite aber dem ihres Vaters entspricht, solange der noch lebt. Klingt sexistisch, aber ...
- Die patria potestas, das totale Bestimmungsrecht des Vaters über seine Kinder, erstreckte sich genauso auf die Söhne. Solange der Vater lebte, hatte er in all ihren Lebensfragen das letzte Wort und war rechtlich alleiniger Eigentümer all ihren Besitzes. Das Recht zur Tötung der eigenen Kinder soll allerdings zum letzten Mal unter Augustus beansprucht worden sein. Vatermord muss man sich wie Selbstermächtigung durch Staats- oder Chefetagen-Coup vorstellen.
- Erreicht der römische Knabe die Pubertät, wird es Zeit für die sexuelle Initiation des z.B. 12jährigen in den Bordellen der Suburra oder durch eine gute Dame von Stand. Im 2. Jh. hält man es für hygienischer, das Sexualleben auf die Ehe einzuschränken; nicht so sehr aufgrund moralischer Bedenken, sondern weil es die Physis schone.
- Wie bei Aries fürs Mittelalter und andere Kulturen vermutet, gibt es institutionalisierte Altersklassen-Verbände, Korporationen, denen man sich anschließt, mit unklar definierten gesellschaftlichen Funktionen. Nebenher ziehen Jugendgangs durch die Straßen und verbreiten Unheil, und zwar nicht nur Prolls, sondern gerade auch die Kinder aus feinem Hause, gegen die ein Opfer selten Handhabe weiß.
- Das Testament ist eine herausragende soziale Institution. Hierin bestätigt oder erschüttert man das ganze soziale Umfeld, verteilt oder befreit Sklaven, befriedigt oder demütigt Klienten und Familienmitglieder, teilt das Firmenimperium auf, begünstigt die Lieblingsautoren; und vor allem sagt man der ganzen Welt mal ohne Sorge um Strafe, was man von ihr hält, wen man schätzt und wen man verachtet (z.B. den Kaiser); eine große Geste, denn das Testament wurde öffentlich verlesen.
- "Marriage":
- Absurde Idee, Sklaven könnten heiraten! Sklaven sind ja keine Bürger, und die Ehe ist eine Institution bürgerlichen Lebens.
- Es gibt keine formale Registratur für Ehen. Wenn Mann und Frau sagen, sie sind verheiratet, dann sind sie das; wenn nicht, dann nicht. Ist es rechtlich strittig, ruft man Zeugen dafür auf; die Zeremonie der Heirat entsteht, um einem gegenseitigen Ehe-Bekenntnis möglichst viele Zeugen zuzuführen.
- Im 1. Jh.-vor nimmt der freie Bürger sich eine Ehefrau als Mittel, die res publica mit Bürger-Nachwuchs zu unterstützen und den eigenen Familien-Namen zu mehren, seinen Stand als paterfamilias zu bessern, eine weitere Position in der eigenen Klientelpyramide auszufüllen, den Familienwohlstand durch eine Mitgift zu nähren (ein Grund, die Frau gut zu behandeln; geht sie, nimmt sie die Mitgift wieder mit), dem Haushalt eine Oberdienerin hinzuzufügen.
- Untreue der Frau ist unschicklich, so wie sich-schlecht-betragende Kinder unschicklich sind. Es ist weniger ein tiefes affektives Band, was hier verletzt wird, als eine Sittennorm, eine Gehorsamspflicht; es ist ein Angriff nicht auf das Herz, sondern die Autorität des Mannes. Anstatt Versöhnung, wird er also die öffentliche Bestrafung seiner Frau suchen, um seine Position als paterfamilias zu bestätigen.
- Die Ehefrau passt als Legostein hinzu wie ein neuer Sklave oder ein neuer Adoptivsohn, genauso kann man sie auch auswechseln und hin und her schieben. Neuverheiratung und Scheidung sind üblich, man wiederholte eine vergangene Ehe mit derselben Person auch schonmal oder reicht die Frau (Livia) guten Gewissens zur Heirat an den Kaiser Augustus weiter. Dementsprechend üblich sind Kinder fremder Elternteile im eigenen Haushalt. Fern die spätere Idee tiefer gegenseitiger moralischer Inbesitznahme.
- Im 1. Jh.-nach bahnt die sich dann aber langsam den Weg. Die menschliche Beziehung zur Ehefrau erhält gegenüber den anderen Beziehungen z.B. zu Sklaven oder Klienten eine moralisch privilegierte Stellung. Langsam mausert sie sich zum natürlichen Freund, Kumpan des Mannes; er soll sie nun an seiner Seite haben, statt nur im Haus; erfüllt er mehrjährig eine Funktion in fernen Gegenden, nimmt er sie nun evtl. sogar dorthin mit, anstatt sie als Haushalterin in Rom zu lassen. Idealerweise ist er ihr sogar treu.
- Veyne betont die Annäherung der spät-heidnischen, stoischen und früh-christlichen Werte. Er macht allen gleichermaßen hinterstehende Trends dafür verantwortlich und mahnt, nicht allzu in-sich-geschlossene damalige Systeme unter den Labels zu suchen. Die späten Stoiker z.B. hätten recht bereitwillig ihre Predigten der gesellschaftlichen Mode angepasst, teils weit entfernt von den Urformen der Stoa, genauso wie christliche Schreiber sich munter bei den Stoikern bedienten.
- In der spät-stoischen Predigt ist Ehe das rationale Lebens-Arrangement mit einer kompatiblen Person, das gegenseitige Stütze und Kinder-Produktion ermöglicht; für non-reproduktiven Sex sieht sie in ihr aber keinen Raum. Das ist weniger christliche Sündenmeidung, als der Säbel des stoischen Rationalismus: Warum denn Sex? Sicherlich ist die Hingabe an die Unkontrolliertheit niederer Triebe dafür keine ausreichende Begründung! (Wir erinnern uns ans römische Ideal vollends selbstkontrollierter Bürger.)
- "Slavery":
- Die Sklaven tragen nicht die Wirtschaft des Römischen Reiches. Das Land wird größtenteils von bezahlten oder teilhabenden Landarbeitern bestellt; mit Sklaven füllt man vielleicht Vakanzen auf. Sklaven sind vor allem im Haushalt tätig, oder in städtischen privaten Unternehmen.
- Sklaverei war eine sehr vielfältige Institution. Sie reichte von harscher Landarbeit bis zum Dienst im feinen Haus oder der kaiserlichen Bürokratie, dort teils hoch hinauf. Man fiel in die Sklaverei qua Geburt als Sklavenkind oder Kindes-Aussetzung oder Raubzug, oder die Eltern hatten einen verkauft (teils direkt aus dem Mutterleib), oder man verkaufte sich selbst, aus materiellem Mangel oder gar als aussichtsreiche Karriere-Option.
- Der Sklave ist Eigentum, aber nicht Ding. Er ist vielleicht eine Art Untermensch, man behandelt ihn wie wir heute ein Kind behandeln, und hat sich ganz seinem Herren unterzuordnen, aber man beurteilt ihn durchaus nach menschlichen Kategorien, unterstellt ihm menschliche Tugenden und Schwächen.
- Als Gegenbild zum autonomen und dadurch herrschaftsfähigen römischen Bürger gilt der Sklave als leicht beeinflussbar, bedarf äußerer Disziplinierung da unfähig zu innerer. Der Gedanke, es könne zwischen diesen Welten Grauzonen, gar Vermischung geben, ist obszön. Unschicklich, von der freien Geburt eines Sklaven zu reden. Deshalb auch, nicht aus Zweifel an der Institution selbst, dulden Gerichte keine Unklarheit bei testamentarischer Sklavenfreisetzung und votieren im Zweifel für die Freiheit.
- Das Band zwischen Herr und Sklaven ist in all seiner Einseitigkeit doch ein personales, oft affektives. Oft verfügt ein Herr im Testmanent aus Zuneigung zu seinen Sklaven deren Freilassung. Der Sklave, irgendwo zwischen Stockholm-Syndrom und Internalisierung der Ideologie Roms, identifiziert sich mit seinem Herren, liebt ihn; umso zorniger kann er sich manchmal von ihm betrogen fühlen. Ein Sklave beschimpft den anderen, er diene nicht treu genug. Sklaven wetteifern miteinander um die Liebe des Herrn.
- Der Sklave ist dem Herrn ein Wert. Mein Eigentum pflege ich, anstatt es zu zerstören. Einem Sklaven konnte es so weitaus besser gehen als manchem Freien.
- Die späten, vermeintlich unter Einfluss des Christentums das Sklaventum abschwächenden Gesetze zur Regulierung der Sklaverei bestärken diese eigentlich nur rechtspositivistisch: Sklaverei bleibt unangetastet, aber die Menschen-Verkaufs-Bedingungen sollen eingehalten werden (dieser Sklave wird nur verkauft mit dieser und jener Einschränkung), und nur die Impuls-Tötung des Sklaven wird bestraft, nicht seine formalrechtlich vorbereitete (zu der man sich einen Henker bestellen konnte).
- Als später Sklaven auch heiraten dürfen, liegt das daran, dass sich (siehe vorheriges Kapitel) das Ehe-Modell vom staatsbürgerlichen Begriff hin zu einem moralischen gewandelt hat. Sklaven können keine Bürger-Akte begehen, aber Ehe ist jetzt ein psychologisch-moralisches Treue-Verhältnis. Die Mensch-Moral wird universalistischer: Ob Edelmann oder Sklave, beiden wird jetzt ein gemeinsamer Kern zugeschrieben. (Auch belässt man jetzt eher Sklaven-Familienzusammenhänge, statt getrennt weiterzuverkaufen.)
- Überhaupt, schlimm ist nicht die Härte meines Umgangs mit den Sklaven, sondern seine Impulsivität; Reflektion, Selbstkontrolle, das stoische römische Ideal. Strafe einen Sklaven nicht unmittelbar im Zorn, sondern schiebe es auf; und am Besten du bestrafst ihn nicht selbst. (In diesem Licht erscheint auch die testamentarische Befreiung neu: Die Zuneigung zu deinem Sklaven, zögere ihre größtmögliche Manifestation auf die Zeit nach deinem Tod hinaus.)
- Der Sklave hofft vielleicht auf seine persönliche Freiheit, durch einen gnädigen Herrn beispielsweise; und es gilt als edel, Sklaven frei zu setzen, ein Akt großer Gnade; und schon vor Spartakus gibt es Sklavenaufstände; in alledem blitzt aber nirgends eine grundlegende politische Forderung nach einer sklavenfreien Gesellschaft auf. Sklaverei ist die natürlichste Institution der Welt (so wie heute der Kapitalismus), man mag nur ihre dunkleren Auswüchse nicht, steht persönlich lieber oben statt unten.
- "The Household and Its Freed Slaves":
- Das komplizierte Gestrüpp der Abhängigkeiten und Gesellschaftsränge zwischen Vater, Ehefrau, legitimen und illegitimen Kindern, Sklaven, Freien, Bürgern, Patron und Klienten usw. usf. Es geht längst nicht alle Macht vom Titel des paterfamilias aus, es gibt dutzende Parallelstrukturen, teils verwoben, teils unabhängig.
- Die Frau konnte als Gattin Reichtum unabhängig der Verfügungsgewalt des paterfamilias besitzen, die sich vor allem auf dessen Kinder erstreckte. Als Konkubine war sie angesehen, solange die Beziehung eine Ehe-ähnliche, monogame war. Als Witwe oder nach Tod des Vaters war sie wohlhabend, selbstbestimmt, umworben und erweckte den Widerwillen der Kirchenväter; die missbilligten auch die Ehe, weil sie der Frau eine häusliche Autorität zuerkannte, die ihrer Minderwertigkeit widersprach.
- Die Fuchtel des paterfamilias erstreckte sich über die Kinder vor allem in Fragen der Finanzen, des Erbes; sie bedeutete keinen Bedarf nach kontrollierender Nähe, Söhne machten so schnell als möglich ihren eigenen Haushalt auf. Die Familien-Autorität war vertikal; gegenüber Brüdern etwa war man nicht verpflichtet, wenn der Vater tot war.
- Mit wem die Sklaven vögeln ist letztlich egal, und wenn sie schwanger sind, kann das Kind von jedem sein, vielleicht auch von ihrem Herrn. Der behält das Kind als Sklave oder befreit es, aber er kann es nicht als sein rechtmäßigen Kind verbürgern oder adoptieren; verworren die Regeln zur Status-Änderung von Sklaven zu Freien und Freigeborenen zu Bürgern. Dass eine Sklavin das Kind eines freien Herrn austragen könne, ist der römischen Ideologie ein Menschenklassen-Vermischungsgraus, rede nicht drüber.
- Trotzdem hielten sich römische Herren gerne Kinder im Haushalt, als grazile Dekoration, als Lustknabe, als Spielzeug oder Haustier.
- Nicht nur testamentarisch entlassen Herren ihre Sklaven, sondern auch wenn sie ihnen einen guten Lebensabend gönnen wollen, oder im Austausch für profitables Wirtschaften im Dienste ihres künftigen Patrons; sind sie spendabel, setzen sie sie mit Alimenten in die Freiheit. Vielleicht setzt der Sklave seinen alten Dienst auch einfach fort, nur mit höherem Status. Für städtische Sklaven oft höhere soziale Mobilität und Reichtumserwerb möglich als für arme Freie; oft erfahren sie dafür Argwohn.
- Von einem freigelassenen Sklaven wird Dankbarkeit und Loyalität gegenüber seinem ehemaligen Herrn erwartet; rechtlich einfordern lassen sie sich nicht. Doch Loyalität zwischen Männern galt als großer Wert, wer sie brach war rasch geächtet.
- Der Patron sammelt Klienten für sein Ansehen. Die Klienten suchen den Einfluss und die Gaben des Patrons.
- Herr und Dame Roms haben keine Privatsphäre nach modernem Verständnis: ihre Sklaven umgeben sie stets und überall. Andererseits zählen die Sklaven nicht; ein Horaz-Gedicht, ich bin allein, und später erwähnt der Autor beiläufig die Gegenwart seines Sklaven.
- "Where Public Life Was Private":
- Der ehrenwerte Römer benutzt öffentliche Ämter, um sein Privatvermögen zu vergrößern, und finanziert mit seinem Privatvermögen das öffentliche Leben. Heute nennen wir das Korruption, damals war es das Natürlichste der Welt. Heute haben wir Steuern, damals gab es Bestechung. Der eine Geldstrom gleicht den anderen aus, ermöglicht ihn überhaupt erst.
- Die römischen Städte finanzierten ihre Feste und Monumentalbauten aus den Taschen derer, die die Ehrenämter besetzten. Teils war das eine gesuchte Ehre, teils aber auch so kostspielig, dass es nicht zu viele, sondern zu wenige Bewerber gab, auf die dann Druck ausgeübt werden musste. Die begleichen die Kosten, indem sie die Bauern ausbeuten. So finanzierte sich der Prunk der römischen Städte indirekt, durch Nötigung der Aristokratie, über die Ausbeutung der Bauern und Kolonien.
- Öffentliche Ordnung der Manier Mafia erinnert an das römische System, erscheint der legalistischen Zivilisation abscheulich, aber eine gewisse Effizienz lässt sich ihr nicht abstreiten.
- "'Work' and Leisure"':
- Der antike Herr kennt unser Lob der Arbeit nicht. Wer im Schweiße seines Angesichts arbeiten muss, ist unselbständig, zur Tugend unfähig. Wer von Landbesitz und Erbe lebt, sich also seine Zeit und Tätigkeit frei aussuchen kann, der ist zumindest nach Veranlagung ein tugendhafter Mensch. Verwaltung des Landguts, liberale Künste, Philosophie und politisches Amt gelten dabei nicht als Makel; letztere frei gewählt, ersteres zu tief Grundform des Ehrenmannes an sich, den Landbesitz kennzeichnet.
- Wer Land/Erbe hatte, seinen Reichtum aber durch Handel noch vergrößerte, verlor dadurch nicht sein Ansehen; seine freie Wahl, nicht seine Not. Wer seinen Reichtum nur so erworben hatte, musste aber zumindest Landbesitzer werden, um den Respekt der feinen Gesellschaft zu gewinnen. In ihrer eigenen Klasse bewahrte sich mancher erfolgreicher Dienstleister oder Händler aber trotzdem einen gewissen Stolz für seine Fertigkeiten und Leistungen, auch ohne Anerkennung der Landbesitzerklasse.
- (Die römische Ideologie des tugendhaften Lebens durch totale Selbstbestimmtheit setzt voraus, dass ich durchs Glück der Geburt an die Spitze einer gigantischen Ausbeutungspyramide geboren worden bin. Wobei die Stoa tendenziell auch die Möglichkeit von Selbstbestimmtheit durch Verzicht / Verringerung von Ansprüchen predigt; der römischen Landherren-Noblesse passt das aber gerade mal als spielerische Tages-Übung oder für den mager ausgehaltenen griechischen Haus-Philosophen ins Bild.)
- Nur Platon kommt auf die Idee, Tätigkeit unterhalb der Landbesitzer-Klasse könnte einen eigenen moralischen Wert haben, jenseits der Ausstattung der Landbesitzer-Klasse mit Produkten, die jener ein nobles Leben ermöglichen; und er meint damit auch nur den Kaufmann. Der Handwerker, der Handarbeiter, derjenige der vom Schweiße seines Angesichts allein lebt, steht in der Antike als Untermensch irgendwo nahe dem Sklaven. Ihm bzw. seiner kaputten Gestalt gilt höchstens ästhetisches, pittoreskes Interesse.
- Die Stadt, die Zivilisation: der Ort, wo nicht der Landarbeiter, sondern die besitzende Schicht lebt. Die Stadt an sich ist ein Ort, der sich nicht selbst produziert, sondern durch die Ausbeutung des Landes.
- "Patrimony":
- Das Erbe ist die Profit-orientierte Vertikale durch die Generationen, die heute das Unternehmen ist. So unschicklich auch die Arbeit gilt, die profitable Verwaltung des Erbes durch den paterfamilias ist eine Tugend.
- Wesentliche Eigenschaft der tugendhaften Geschäftigkeit gegenüber der tugendlosen Arbeit: die Herrschaft. Wer verwaltet, herrscht, selbstbestimmt, der erfüllt die römische Ideologie. Der abhängig Angestellte, einem Höheren verantwortlich, ist ein Untermensch.
- Ein guter paterfamilias ruht sich nicht auf seinem Erbteil aus, sondern vergrößert ihn strebsam durch Handel, Investition, Erpressung, Plünderei, was auch immer. Die Römer sind hyperaktive Geschäftsleute, jeder wuchert und verzinst zwischen jedem und über alles, sogar übers Liebesleben: Liebhaber bezahlen Ehe-brüchige Frauen, und die Gerichte befinden, das sei nicht Prostitution, sondern angemesse Belohnung für den Liebesdienst.
- Man darf den römischen Legalismus nicht mit einem Gewaltmonopol im Alltag verwechseln. Auf den Straßen herrschte mangels Polizei das Recht des Stärkeren (bzw. des Patrons, dessen Handlanger mich schützen), und Gesetze waren nur in manchen Konflikten ein weiteres Mittel zur Stärke.
- Horaz nennt sich arm. Das heißt: Er besitzt nur einen Notgroschen von 6000 Hektar in Tivoli und Sabinien.
- Der paterfamilias delegiert viel Geschäftetreiben an seine Freien und Sklaven, weit verzweigte Unternehmungen, Landgutsverwaltungen usw. Da (wie wir aus einem vorherigen Kapitel wissen) man nur Sklaven (um sie im Bedarfsfall foltern zu können) bestimmte Finanz-/Buchhalter-Aufgaben zuerkannte, war für viele nach unserer heutigen Sichtweise hochstehende Geschäftszweige der Selbstverkauf in die Sklaverei ein naheliegendes und vielgesuchtes Karriere-Sprungbrett.
- Der Römer differenziert sehr genau zwischen dem Plündern der Landschaft und nachwachsenden Ressourcen. Im Notfall verkauft er lieber sein Weingut als seinen nachwachsenden Wald, und er passt genau auf, dass nachwachsenden Ressourcen nicht ihre Nachwachs-Grundlage entzogen wird. Langfristiger Profit zählt für das Erbgut, nicht kurzfristiger; Schulden und Abgaben werden unregelmäßig und nur nach langen Abständen eingesammelt: Was nutzt mir Cash? Besser viele Investments, Schuldner, Loyale.
- Vespasian vermeidet den Einsatz der neuesten Technologie beim Bau des Kolosseums, um die römischen Arbeiter nicht arbeitslos zu machen.
- "Public Opinion and Utopia":
- Das römische Recht ist keine Garantie, sondern der öffentliche Spielplatz für einen Disput, den man wählen oder vermeiden kann. Legalisten können hier mit ihrer juristischen sophistication prahlen. Es ist keine Alternative zur Stärke, denn nur der Starke kann seinen Gegner überhaupt physisch vors Gericht zwingen. Der Richterspruch verleiht einem Vorrecht öffentliches Ansehen, das letzten Endes immer noch die eigene Privatarmee durchzusetzen hat.
- "Privat" bedeutet einfach nur: außerhalb eines öffentlichen Amtes. Es definiert keinen Schutzraum per se, höchstens die Unabhängigkeit von bestimmten amtlichen Verpflichtungen.
- Öffentliche Meinung = egalitäre Autorität der Städte, der Plebs nimmt an ihr teil wie der Senator. Sie erachtet das persönliche, sittliche Leben des Einzelnen als ihr Interesse, kennt dabei keine Scham vor irgendeiner "Privatsphäre". Munter werden eheliche Verfehlungen diskutiert, wird aus Briefen zitiert. Die öffentliche Demütigung ist so respektabel wie das öffentliche Zeigen von Scham/Reue für Fehlverhalten. Kaiser Augustus wird seine Nachkommen für ihre Verfehlungen öffentlich vorführen.
- Konformistischer Druck des moralischen Urteils der Umwelt über privates Verhalten, machtvoll. Um öffentlicher Verdammung zu entgehen, holt man in vielen Fragen vorher die Meinung eines Rats von Freunden ein. Der war derart formalisiert, dass es z.B. Regeln der Zulassung oder des Ausstoßens gab.
- Die Herrenklasse als Monopolist der Tugend hat eine gewisse Leit-/Vorbildfunktion in ihren moralischen, philosophischen Texten, ihren öffentlichen Gesten. Insoweit sie diese Bürde auf ihrer Landvilla, im Kreis von Freunden, abstreifen kann, lässt sich vielleicht sowas wie eine Vorform von "Privatsphäre" hinein interpretieren.
- So wirksam die öffentliche Empörung, so flexibel ist doch das Sittengesetz. Jeder zweite Kaiser hat eine moralische Erleuchtung und diktiert sie als Order ans Volk, doch ebenso schnell wird sie wieder vergessen; erst Konstantin wird nachhaltigen Einfluss haben, wobei in seiner Moral-Order genuin christliche Ideen von der römischen Moral-Mode seiner Zeit schwer zu trennen sind. Sich auf römische Tradition berufen ist nur politische Taktik, zu jeder Tradition findet man auch eine Gegentradition.
- Moral, Lebensregeln, politische Deutung der Welt, persönliche Entscheidungen stützen sich auf ein Netz aus biegbaren Philosophien, Aberglaube, Moral-exemplarischen Geschichten, Traumdeutung und Astrologie. Veyne nennt es das Äquivalent zu Marxismus und Psychoanalyse der Moderne. Die römische Besessenheit mit den Krankheiten Weichheit und Exzess ist resignativ: das sind unvermeidliche Schwächen des Menschen, wir beschreiben sie und warnen vor ihnen, auslöschen können wir sie aber nicht.
- Römische Grabsteine! Sie sind nicht Respekt vorm Tod (und seine Asche tragen sie eh nicht), sondern öffentliches Statement. Man stellt sie an der Straße auf, und mancher spaziert, um in ihnen wie in der Zeitung zu lesen. Sie erzählen vom Leben des Verstorbenen und seinen Lehren, geben Ratschläge und denunzieren vor allem munter, verkünden stolz die Enterbung von Soundso, beschuldigen Soundso der Vergiftung.
- "Pleasues and Excesses":
- Im frühen Imperium pflegt die Herrenklasse einen betont lässigen Umgang miteinander: Man weiß sich auf Augenhöhe freier, selbstbestimmter Männer, die sich keinen Status beweisen müssen. Ziviler, erwachsener Tonfall der Zeit, den wir heute so bewundern. Ein guter Kaiser sieht sich ebenso, als erster Bürger unter gleichen; Vergöttlichung zelebriert er nur für den Pöbel. Nimmt er sich zu wichtig, verlangt Kniefall und Sonder-Respekt, entwürdigt er sich zum kindischen Herrscherkult der Barbaren.
- Der Herr schätzt die Stadt nicht als Ort der Masse, sondern der dicht gepackten Institutionen, Luxus-Gelegenheiten, conveniences. Die Natur gefällt ihm nur als Garten, und er verbaut sie gern mit nützlicher und/oder dekorativer Architektur.
- Das Bankett im eigenen Haus mit Freunden, Klienten, Philosophen ist der Herrenklasse Ort der Lebensverwirklichung. Man isst und trinkt (getrennt, hintereinander) und sucht den erhabenen Diskurs. Der Kaiser veranstaltet sie ebenso. Der Plebs in bescheidenerem Maße unter seinesgleichen, soweit er die Mittel dazu hat.
- Der Plebs besucht für ähnliche Zwecke auf niedrigerem Kulturniveau die Taverne; hier trifft man die Durchreisenden der Welt. Der Herrenklasse sind diese Orte zu würdelos. Ein anderer beliebter Ort für alle: die öffentlichen Bäder. Die besucht man nicht einfach fürs Baden, sondern für ein Rundherum-Luxus-Erlebnis; vor allem auch sind sie geheizt! Den Tag im Bad abhängen, den Abend in der Taverne; wenn man Geld hatte, konnte man es sich auch so recht gut gehen lassen.
- Sklaven und Freie basteln sich ihre eigenen sozialen Körper, mit ihren eigenen internen Privilegien: die collegia. Sie organisieren für ihre Mitglieder Bankette und würdige Begräbnisse, erfüllen Salon- und Sauf-Funktion. Mal fassen sie Berufsgruppen zusammen, mal die Dienerschaft eines großen Haushalts, mal Verehrer von Bacchus.
- Die heidnischen Riten koinzidieren mit allem, was Spaß macht und den Magen füllt. Weit entfernt von der christlichen Vergrämung des Lebens, dient man hier den Göttern, indem man gut frisst ("opfert") und feiert und vögelt. Regelmäßig.
- Christen und Moderne verachten den Gladiatorenkampf als Sadismus; kritische Zeitgenossen verachteten ihn höchstens als banal. Die Spektakel waren nicht nur öffentliche Hinrichtung der Kämpfer, sondern deren Zelebrierung; in Griechenland galt ein Tod in der Arena als besonders ehrenvoll.
- Im Liebesleben wieder die römische Ideologie: Herrschaftlichkeit beim Vögeln zeigen, gut; sich in romantischer Hingabe verlieren, schlecht. Es ist sehr viel ehrenwerter, einen Sklavenjungen zu penetrieren, als sich in der entwürdigenden Schwärmerei für eine Frau zu verlieren; die römischen Dichter stellen letzteres nur unterm Mantel der Satire dar.
- "Tranquilizers":
- Wer an die Götter glaubt, glaubt nicht ans Überkosmische, sondern gerade mal an eine Klasse unsterblicher Übermenschen, über den Menschen so wie die Menschen über den Tieren, aber doch im selben Ordnungssystem. Sie sind menschenähnlich, und man verhält sich zu ihnen wie zu Menschen, bittet, feilscht, beschimpft, lobt, verachtet. Sich ihnen zu unterwerfen, ist orientalischer Primitivismus. Wie freie Männer untereinander, hält der freie Mann zu ihnen eine respektvolle, freundschaftliche Distanz.
- So erklärt sich auch die religiöse Toleranz der Römer: Götter sind eine eigene Klasse mit einer Vielfalt wie zwischen menschlichen Individuen, es kann ihrer also unendlich viele geben. Sie neigen allerdings dazu, fremde Götter als Varianten der eigenen zu lesen, sie ein-zu-ähneln, oder sich über nicht-menschlich geformte Götter wie bei den Ägyptern lustig zu machen. Aber jeder darf opfern, wem er will, so lange einige öffentliche Traditionen respektiert werden.
- Dermaßen geschrumpft, ist es dann auch nicht mehr so absurd, dem Kaiser eine göttliche Qualität zuzuschreiben, oder einem Dichter. Den Kosmos göttlich zu nennen, sagt einfach nur: der Kosmos hat eine übermenschliche Qualität; und das würde ja selbst heute jeder Atheist zugestehen.
- Die Senatorenklasse ist hellenistisch gebildet und deshalb tendenziell atheistisch. Bzw. sie glaubt eher an abstrakte Begriffe als an die Personifizierungen, die sie beim Plebs halb belächelt, halb als eine seinem Geist gerechtere Verbildlichung der Universalprinzipien akzeptiert.
- Dafür ist in der sich "kultiviert" (also überm Plebs stehend) nennenden Schicht die "Philosophie" sehr beliebt, vor allem Epikur und die Stoa. Das sind rationalistische Lebensratgeber, die den psychischen Haushalt zur Ruhe bringen und das Individuum selbst zum Übermenschen erziehen helfen sollen. Wie sehr man sich in sie begibt, ist Privat-Entscheidung; als Sekten werden sie allerdings dem Christentum viele Vorformen bieten, in die es sich legen kann.
- Die Tendenz zum Selbstmord erfüllt die römische Ideologie: Totale Selbstbestimmung heißt auch, selbst meinen Todeszeitpunkt zu bestimmen; und die Philosophen pflichten bei: die Qualität eines Lebens ist unabhängig seiner Quantität. Eine kohärente Idee vom Jenseits haben die Römer übrigens nicht; Philosophen spekulieren über die Seele, und die Moderne interpretiert gern viel rein in Sarkophag-Bilder, aber alles in allem scheinen die heidnischen Römer nicht viel in einen Jenseits-Glauben investiert zu haben.
- Es fehlt die subjektivistische Leidenschaft, wird erst Richtung Christentum aufkommen: das In-mich-Hineinhören und dem Ergebnis einen Wert beimessen. Der alte Römer sieht in den Leidenschaften der Psyche Dinge, die meiner Freiheit, meiner Selbstkontrolle entgegen stehen; seine Philosophien lehren gerade, sie zu neutralisieren.
- "Late Antiquity" (Peter Brown):
- Einführung:
- Thema: der kulturelle Wandel in den vier Jahrhunderten zwischen Marc Aurel und Justinian.
- "The 'Wellborn' Few":
- Die Oberschicht hebt sich vom Plebs vor allem durch eine bestimmte Kultur ab, durch einen bestimmten Habitus. Er wird unter Pädagoge und Schule eingeübt und im Umgang miteinander streng überwacht; jede Geste wird auf ihre Würdigkeit abgeklopft. Die Öffentlichkeit schaut genau aufs Leben der Bürger, auch auf vieles was wir heute privat halten würden, weil es die Angemessenheit ihrer Stellung bezeugt oder widerlegt. Gutes Betragen sichert den Stand der Oberschicht.
- Dazu gehört nicht nur die Selbstkontrolle, sondern auch die Ausgeglichenheit. Hier herrscht das Bild des Säfte-Gleichgewichts im Körper, und jedes Zuviel oder Zuwenig macht krank und zeugt von kaputtem Charakter, wird mit Übung und physisch-psychischer Hygiene angegangen.
- Ähnlich gelagert die Sexual-Ideologie: Der Mann hat im Mutterleib mehr Hitze abbekommen und ist dadurch energetischer als die fragile, unterkühlte Frau. Doch der sexuelle Akt entlädt diese Hitze, und jemand, der zuviel Sex hat, verliert also seine Energie. Der Römer war nicht prüde oder schamvoll; wenn er den sexuellen Trieben versagte, dann zur Schonung seiner Kräfte, seiner Machtposition, nicht wegen ihrer Sündhaftigkeit.
- Dass bestimmte Verhaltensweisen und Freuden vulgär sind, macht sie zu einem Distinktionsmerkmal, nicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Tabu. Der Edelmann kann deshalb die obszönsten Spektakel sponsern, ohne seinen Stand zu verlieren, solange sie dem Plebs gelten. Tabus sind abhängig von der sozialen Konfiguration: Niemand schämt sich vor einem Sklaven, denn man schämt sich ja auch nicht vor Tieren.
- Die Lebensphilosophen sind erstmal ein Oberschichten-Phänomen, zugeschnitten auf die Selbstbestätigung der römischen Herrscher-Ideologie, bringen langbärtigen Vorzeige-Intellektuellen ein erträgliches Einkommen. Der Plebs macht sich über sie lustig, und so ein bisschen haben sie ja auch was von New-Age-Fängern geldbörsenreicher Bürgerkinder.
- Ihr Universalismus ist erstmal wohlfeil. Das Christentum glänzt dann dadurch, ihre Elemente gekonnt zu einer Massen-Religion umzustiften.
- "Person and Group in Judaism and Early Christianity":
- Das Judentum sieht sich so desolat, es braucht den tiefsten Zusammenhalt der Gemeinschaft. Das aber geht nur, wenn jeder restlos sein Innerstes miteinstimmt. Das Herz als alles bestimmender Persönlichkeitskern, hier findet sich die Idee. Konstant in mich reinhorchen. Die Rettung kommt, wenn jedes jüdische Herz sich ganz Gott und der Gemeinschaft öffnet. (Vgl. Gegensatz die römisch-großbürgerliche Moral, die das Bestimmende vor allem im großbürgerlichen Betragen sieht, nicht in einem tiefsten Inneren.)
- Nicht die Niedersten sind die ersten christlichen Konvertiten, sondern mittel-reiche Vielreisende; sehr krude gedacht, die Bourgeoisie zwischen Unterschicht und Adel. Ihre schon mitgebrachte Moral wird als christliche in die Geschichte eingehen wird. Ihre Solidarität ist eine, die die Notwendigkeit gegenseitiger Unterstützung angesichts wackeliger sozialer und wirtschaftlicher Positionen erkennt, statt nach-unten-gleichgültiger Autarkie nachzuhängen, die sich nur römische Großgrundbesitzer leisten können.
- Der sie nicht vertretenden Großbürgerschaft stellt der Plebs mit dem Christentum eine wachsende Gemeinschaft entgegen, die ihre innere Verbundenheit und Andersartigkeit betont. In der sozialen Komplexität der römischen Stadt ist das aber gar nicht so einfach, muss man hier doch nach sehr vielen Kulturen, Gruppen, Sitten offen sein, um voranzukommen; korrumpiert so die christliche Identitätspolitik? Man wählt einen Bereich, um sich betont abzusetzen: die Sexualität bzw. ihre Verdammung.
- (Fairerweise muss man sagen, dass auch hier das Christentum sicher die schon herrschende Moral seiner Fan-Schicht adaptiert: Im Plebs gilt etwas wie die Familie -- und damit auch die Ehe -- sehr viel mehr als notwendig stabiler Solidarverband als im Großbürgertum, wo sie mit der Nüchternheit eines Unternehmens geführt und in ihren Bestandteilen ausgetauscht wie optimiert wird.)
- "Church and Leadership":
- Vom 3. ins 4. Jahrhundert fällt die alte Egalität innerhalb der Herrenklasse: Man ist jetzt umso mehr wert, je höher man in der imperialen Bürokratie steht, und man zeigt es auch. Das Imperium schiebt die Republik beiseite, bewart ihre Bauten und Bräuche vor allem als museale Dekoration. Die Herren laden auf die Bankette ihrer Villa nur noch ihresgleichen, also ihren imperialen Stand innerhalb der Bürgerschaft, und halten sich vom Forum fern.
- Einer absterbenden Herren-Gemeinschaft der Republik steht die immer mehr öffentlichen Raum einnehmende bzw. ihre eigene Gegen-Republik bauende Kirche entgegen. Bald kaiserlich gesponsort und privilegiert, versammelt sie in ihren monumentalen Basiliken eben nicht nur eine streng abgegrenzte Elite, sondern einen neuen Volkskörper; übernimmt versorgerische Aufgaben und, wie zuvor die collegia, Begräbnisse.
- Die neue klerikale Elite ist durch ihr Zölibat definiert. Es entspricht einer Entsagung des Privaten, um ganz öffentlicher Körper zu werden.
- Die Kirche entdeckt den Elenden als Maskottchen. Sie zeugt einen Kult der Almosen an die anonymen Armen, der gerade auch von seiner Gegensätzlichkeit zum alten Klientel-System lebt, wo beide Seiten einander gaben. Die Beziehung zwischen Spender und Empfänger dagegen ist genauso einseitig wie die zwischen Gott und Sünder. (So wird aus einem Rhizom eine Pyramide. Kirche und Imperium vs. Republik, passt scho.)
- Die neue Gemeinschaft predigt moralische Dogmen und wacht über deren Einhaltung. Wer lax ist, wird ausgeschlossen; kommt nur nach viel Demütigung und Entschädigung wieder rein. (Der Unterschied zu den Dogmen der römischen Herrenklasse dürfte liegen im moralisch universellen Anspruch und im Argwohn über das Innere bzw. das Gedankenverbrechen statt das falsche Betragen.) Gierige Gruppen-Identitäts-Zugehörigkeits-Spielchen.
- Die Kirche nutzt die Krisen des späten weströmischen Reiches, um sich gegenüber zerfallenden Institutionen immer stärker selbst als Öffentlichkeit in den Vordergrund zu schieben, bis schließlich nur noch sie übrig bleibt. Die Republik ist tot, sogar das Reich ist tot; doch die Kirche ist nun allumfassend.
- "The Challenge of the Desert":
- In den Wüsten Nordafrikas / Kleinasiens sammelt sich eine christliche Avantgarde: die Mönche. In den römischen Städten einen Alternativ-Raum aufzubauen, ist ihnen nicht genug; sie stehen für ein Leben, das der Stadt, also der Zivilisation, ganz entsagt. Die gilt nur noch als eitle Zwischenstufe vorm Gottesstaat, der alle Kategorien sprengen wird. Abwendung von der öffentlichen Sache, Hinwendung zum Privatverhältnis mit Gott.
- Ihre Verachtung der Stadt trägt auch in christliche Haushalte. Den Noblen, die es vorher ermöglichten, verliert das öffentliche, das klassische Leben an Wert. Die neuen identitären Bezugspunkte sind nun die Basilika, die Kirchenmänner, heilige Schriften und die weisen Männer der Wüste. Der Rest mag vergammeln.
- Das Ende der Stadt zu verkünden, fällt im späten Imperium auf fruchtbaren Boden: Ist sie nicht fragil geworden? Wurde Rom nicht von den Barbaren überrannt? Verelenden viele der Städte nicht zusehends?
- Klöster sind ein guter Ort, um überschüssige Familienmitglieder loszuwerden. Man braucht sie jetzt nicht mehr aussetzen, man weiht sie einfach Gott.
- Die Disziplin der Gottesfurcht, einmal anerzogen, sticht viel tiefer als die der Straße, d.h. der öffentlichen Prüfung des Betragens der Herrenklasse.
- Auch das Leben der Mönche ist keine ganz neue Erfindung des Christentums; alles prima Kyniker.
- "East and West: The New Martial Morality":
- Der arme Säulenheilige Simon (über den Luis Bunuel einen Film drehte): Er musste auf die Säule, weil seine Mutter ihren mönchischen Lebenstraum in ihm verwirklichte.
- Dem alten Römer war Sexualität bestenfalls eine Freude und schlimmstenfalls eine kräftezehrende Krankheit. Der christlichen Avantgarde nun ist sie -- negativ -- alles. Die Christen entwickeln eine Wissenschaft der Sexualität, und sie stellen sie in den Mittelpunkt ihrer Dogmen. Sie analysieren ihre Lustträume und Ejakulate, die Unkontrollierbarkeit des Triebes, die Erektion auf ihre theologischen Bedeutungen.
- Die Mönche des Nahen Ostens pflegen eine Verachtung des Sexuellen als eine der im Gottesstaat aufzulösenden Kategorien. Sie predigen totale Enthaltsamkeit und freuen sich auf die Auslöschung aller Geschlechter-Unterschiede. Sie sprechen Eheleuten den Eintritt ins Paradies ab (die Heiligung der Ehe ist weit entfernt), jede sexuelle Partnerschaft ist unwürdig. Verschrecken die Christen des oströmische Reiches.
- Augustinus von Hippo nimmt sich dagegen geradezu versöhnlich aus: Unsere Sexualität ist halt Erbsünde, können wir zwar zu zügeln versuchen, sollten wir nicht gut finden, aber müssen wir wohl als Nachkommen von Adam und Eva mit leben. (Gewagter Deutungsversuch meinerseits, ehrlich gesagt habe ich die Augustinus-Erörterung von Brown nicht so richtig verstanden.) Gewaltiger Einfluss im lateinischen Westen.
- "Private Life and Domestic Architecture in Roman Africa" (Yvon Thébert):
- Vorwort / "The Roman Home" (Paul Veyne)
- Hatten nur die privilegierten Wohnstätten: fließend Wasser, vielleicht Experimente mit einem Wärmesystem. Nur "braziers" ("Kohlenpfanne"? "Grill"? "Kohlenbecken") boten sonst eine kleine Wärmequelle unmittelbarer Nähe. Üblich, dick zugekleidet zu wohnen, mit dem Pelzmantel sogar ins Bett zu gehen. Schon deshalb ging man gerne in die Taverne und die Bäder, wo es warm.
- Auch Glas ist selten, Fenster hatte man also entweder offen und fror oder geschlossen; dann gab's Dunkelheit abgesehen der unmittelbaren Nähe von Öl-Lampen und Kandelabern.
- Toiletten? Gemeinschafts-Klos.
- Spärliche Möblierung. Bett, Tischchen, ein paar Schränken. "Roman furniture resembles our lawn furniture more than the furniture inside our homes." (p.316) Bei den Wohlhabenden stehen außerdem überall Statuen rum.
- Das domus der Wohlhabenden strahlt vor allem durch viel offenen Platz, in den man direkt eintritt, der protzt und von der Enge der Unterschicht distinguiert. Statt Korridoren war alles zu großen Gesamt-Räumen offen; an ihren Rändern dann waren winzige Kammern eingelassen für den Rückzug zum Lesen oder Schlafen.
- "Some Theoretical Considerations":
- Bei den Griechen angefangen, beginnt das Privatheim bescheiden, gehört die Pracht nur dem öffentlichen Raum; wächst dann, beansprucht immer mehr Pracht für sich, und scheint auch den öffentlichen Raum immer mehr in sich hinein zu holen. Im Übergang zum Imperium spielt sich ein großer Teil der Politik der Herrenklasse nicht an öffentlichen Orten, sondern in ihren Privathäusern ab.
- Die familia umfasst die Blutsverwandtschaft wie auch die Diener und Sklaven und dient als Modell genauso fürs Klientelsystem wie die gesamte gesellschaftliche Hierarchie.
- "It is particularly risky to take our current conception of private life as a starting point and to trace its genealogy by interpreting the past in the light of what we now believe. If we adopted such an approach, we would very likely find that 'private life' did not begin until quite recently. But this 'finding' would be anachronistic, the result of misapplying modern bourgeois notions to the past." (p.320)
- Ebenso naserümpft der Autor über einen psychologischen Ansatz des Individuellen, Internalen, der Identität des Einzelnen, und bezieht sich dabei auf Erving Goffman.
- "The Domestic Architecture of the Ruling Class":
- In der späten Republik beginnt man, zu protzen und das Privatheim offiziös-repräsentativ auszustatten, z.B. mit Marmor-Säulen. Der Zentralrat der Konservativen Senatoren ist empört! Private und öffentliche Häuser verwenden für viele Fragen die selbe Architektur, und vielleicht ist das auch ein politisches Bekenntnis. Dass sich dieselbe Ästhetik übern gesamten Mittelmeer-Raum erstreckt, ist natürlich ein Statement der Hausbesitzer: Wir gehören alle zur selben Elite.
- Besonderheiten Afrikas: Man vertieft das Heim mehrstöckig in den Keller, wo man in der Breite aufgrund rigider Stadtplanung nicht entkommen kann. Und man neigt zum Peristyl statt Atrium (Unterschied hab ich nicht ganz verstanden).
- Das Peristyl, also der zentrale Innenhof, Status-Symbol und auch sehr hübsch, leistete man sich gern so groß wie möglich; in kleinen Häusern schrumpft es auf einen geirngen Anteil der Gesamtfläche, offenbar lässt sich der Rest nicht beliebig zusammenstauchen; in großen Häusern dagegen nimmt es einen anwachsenden Prozentteil derselben ein.
- Fortwährender Konflikt zwischen Privathaus und öffentlicher Straßenplanung, die wenig Raum für monumentale Anwesen lässt. Lösung: Man verlangt Versetzung der Stadtmauer und neue Viertel mit großzügigeren Freiräumen. Oder man verdrängt den öffentlichen Raum, verringert Straßenbreiten vorm Haus, übernimmt das Nachtbarhaus und verbindet es unter Auslöschung der Straße dazwischen mit dem eigenen. Imperiale Bürokratie droht mit Abriss. (Vermutlich fließen viele Bestechungsgelder.)
- Unklare Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Gehört das Säulendach vorm Eingang zur Straße oder zum Haus? Oft ist dem Ausgraber unklar, ob er ein Gebäude als öffentlich oder privat einordnen soll. Eine christliche Basilika folgt den selben Raumprinzipien wie der private Empfangsbereich des Herrn für seine Klienten, die ihm den morgendlichen Demuts-Besuch abstatten.
- Die Armen improvisieren mit dem, was sie haben, und Größe wächst hier nur organisch. Rom hat alle Mittel, kann alles importieren und auf Befehl jede Arbeit mobiliseren: So lassen sich in den Kolonien ganze Städte am Reißbrett entwerfen, so kann der Herr sein domus nach Ideologie statt nach den Vor-Ort-Gegebenheiten planen. So eine Zivilisation kann sich imposante architektonische Theorie der Proportionen, Geraden, Licht- und Schattenwurf-Pläne leisten und umsetzen. (Siehe: Vitruvius.)
- Wir haben viele Grundrisse, wir wissen viel über die Mauern und Säulen und Bodenmosaike der römischen Heime. Aber wir wissen wenig über das Darüber, über die Fenster, über die Gestaltung der Fassaden.
- Statik und Wandel des römischen Heims: Manche Mauer überdauert Jahrhunderte, andererseits wird im selben Zeitraum auch immer wieder viel umgebaut, erweitert, neu proportioniert, ein neues Mosaik gelegt. Bewegliche Güter können sehr langlebig im Haushalt verbleiben, das heißt: über viele Generationen, über Jahrhunderte. (Aber Möbel waren ja auch wenige und dann oft steinern oder bronzen, sowas kauft man nicht alle zwölf Monate neu beim Aldi.)
- Der Römer lebt nicht auf seiner Land-Villa. Zivilisiertes Leben ist das im städtischen domus, und da profitiert das Gebäude ja auch von der umgebenden Infrastruktur, und in dieser politischen Landschaft formt der Bürger ja auch sein Sein. (Auf die Land-Villa flüchtet man aber gern, zieht sich in Zeiten des Terrors dorthin zurück, glaube ich mich zu erinnern.)
- "'Private' and 'Public' Spaces: The Components of the Domus":
- Das domus hat oft mehrere Eingangstüren unterschiedlicher Größe und Bedeutung nebeneinander angeordnet. Die größte öffnet man für offizielle Anlässe. Sie führt direkt ins Vestibül, den bereits innere Pracht ankündigenden Eintrittsraum, wo aber der ianitor-Sklave, vielleicht aus einem Nebenraum heraus, einen kritisch beäugt, ob man wirklich willkommen ist. Vielleicht liegen auch mehrere Vestibüle nebeneinander, ausdifferenziert nach den verschiedenen Eintritts-Türen.
- Das Vestibül führt weiter ins Peristyl, den Innenhof, der mit der Pracht von Kolonnaden und Mosaiken und Grün und Wasser repräsentiert, zu weiteren Räumen des Hauses und vielleicht auch einer kleinen Kapelle führt, und wo hindurcheilende Diener Wasser abschöpfen können. Hier lässt man es sich gut gehen, hier empfängt man aber auch Gäste, hält soziale Gelegenheiten ab.
- Im triclinium hält man das Bankett ab. Das hier ist der sozial komplexeste Raum. Wer hier nach welchen Verhaltens-Regeln und in welcher Sitz-Ordnung speist, definiert das ganze familiäre und politische Universum. Die Bedeutung des Banketts und seiner Details lässt sich kaum überschützen; die christliche Bedeutung des Abendmahls -- und dass man hier betet -- ist noch eine Spur dieser römischen Institution.
- Die exedra ist ein etwas unklarer definierter Raum offenbar höherer räumlicher Intimität, den Thebert irgendwo zwischen Büro, Arbeitszimmer und Besprechungsraum anordnet. Jedenfalls eher eine politische als eine familiäre Funktion.
- All diese Räume mindestens teil-gesellschaftlicher Funktionalität nehmen den Großteil der Fläche des domus ein; als explizit individualistische Rückzugsräume bieten sich nur die Schlafzimmer an, die aber klein und randständig verteilt sind. Hier steht halt das Bett, und der Literatur gelten sie auch schon als sexuell konnotiert, den christlichen Autoren als verrucht.
- Der Patron empfängt morgendlich seine Klienten im Vestibül oder, besonders protzig, einer privaten basilica. Man tauscht Gaben; es scheint explizite Lagerräume für sportulae zu geben, die dem Vestibül oft zugeordnet sind. Es gibt Andeutungen, dass auch die Gattin solche Aufgaben übernehmen kann.
- Das Gebäude des domus ist zum Teil auch an Dritte vermietet, man weiß nur nicht genau, in welchen Räumen die residieren. Eine am Rande des Vestibüls stehende Treppe lässt sich so lesen, in den oberen Etagen habe es Mieträume gegeben (aber von den oberen Etagen weiß man ja meist am Wenigsten). An der Außenseite des Hauses sind Räume, die als Ladengeschäfte benutzt werden, teils von ihren Besitzern bewohnt, teils ins Innere des domus offen und vielleicht von dessen Familie selbst betrieben.
- Und dann gibt es natürlich noch viele andere kleine Räume, von denen man nicht so genau weiß ... Wo beispielsweise ist die Küche? Vieles hält man für Gäste- oder Mieträume.
- Je später das Imperium, desto stärker der Trend zum Privat-Bad. Man verbindet mit dem eigenen Körper nun mehr Scham, und die soziale Vermengung im öffentlichen Bad will man auch nicht mehr so recht. Jetzt häufen sich auch die privaten Latrinen; früher nahm man einfach den Topf. Man nimmt immer mehr vom kommunalen in den privaten Raum hinein.
- Die Sklaven schliefen vielleicht in den oberen Etagen, oder hatten gar keinen festen eigenen Raum; es gibt viele Andeutungen, ihre Schlafgelegenheiten seien portabel gewesen, und oft sollen Sklaven ja auch vor der Tür der Schlafzimmer ihrer Herren campiert haben.
- "How the Domus Worked":
- Das domus ist ganz ausgerichtet auf die Gäste-Empfangs-Dramaturgie des Gangs zwischen vestibulum, peristylium und triclinium. Hierauf sind alle dekorativen und ordnenden Elemente angelegt, um ihn herum sind alle übrigen Räume angeordnet. Komplizierter, wenn es dieser Elemente mehrere gibt!
- Vom Autor nicht näher besprochen, aber in den Raumplänen doch auffällig: Baderäume sind in den spätrömischen Häusern offenbar sehr zahlreich, nehmen in großer Menge beträchtliche Teile der Gesamtfläche ein.
- Zwar gibt es einen Trend, Räume getrennt voneinander durch den zentralen Knoten eines Peristyls zugänglich zu machen statt untereinander durch Korridore; man muss das aber nicht gleich als Post-Privacy-Statement lesen, zwischen Peristyl und diesen Räumen liegen nämlich häufig Vorzimmerbereiche; auch gibt es häufig neben dem Hauptachsen-Peristyl ein kleines zweites, das etwas abseitigter liegt, und das eher die Wohnräume um sich zu sammeln scheint als das repräsentative erste.
- Je später das Imperium, desto mehr wird die Offenheit des domus durch Mauern und Vorhänge zwischen den Säulen zerteilt. (Vorhänge sollen viel symbolischen Wert gehabt haben; der Autor merkt an, einen Vorhang beiseite zu schieben sei ein schwerschwiegenderer Akt gewesen als eine Tür zu öffnen.) Das Peristyl weicht (ganz konkret, durch einschließendere Raumgestaltung) einem Trend zur abgeschlossenen Kammer, führt der Autor irgendwie zurück auf einen Trend zu Individualismus/Innerlichkeit/Christentum.
- Gewagte Innenraum-Mosaik-Interpretationen: Entgegen populärer Deutung, liest der Autor das Fortleben heidnischer Figuren als eine Ko-Existenz christlichen Glaubens mit heidnischen Vorstellung (anstatt pure Dekoration) noch bis ins späte Imperium. In Nordafrika sei die christliche Symbolik in den Privaträumen auch weniger ausgeprägt als in Italien; hier habe sich die Klassik vielleicht länger gehalten, am Rand des Imperiums, im Privatreich der hiesigen Edelmänner.
- Aus der Beliebtheit von Tierjagd-/Tierkampf-Szenen auf den privaten Mosaiken deutet der Autor ein Nachäffen oder gar Beanspruchen imperialer Symbolik. Wobei nur der Kaiser den Löwen jagen durfte, also gab man sich mit Niedrigerem zufrieden. Aber war nicht jeder Patron in seinem eigenen Reich Kaiser? (Sollte das alles ein spätrömischer Trend sein, kann man es vielleicht auch deuten mit dem Übergang zur postklassischen Krieger-statt-Zivilisierten-Noblesse?)
- "Conclusion":
- Das domus bezeichnet austauschbar das Haus und die Familie. Sie bilden eine Einheit. Hier stehen die Totenmasken der Vorfahren. Es bildet einen so gewaltigen identitären Nagel, dass der Autor es mit dem Begriff "Vaterland" gleichsetzt.
- Kleiner Schönheitsfehler in diesem Bild: Natürlich hatten die römischen Herren-Familien oft viele Häuser, weit verteilt. (Und wir erinnern uns: So früh als möglich baut man sich seinen eigenen Haushalt auf, anstatt die ganze Zeit unter der Fuchtel des paterfamilias zu hocken.) Und viele ausgegrabene Häuser scheinen über die Jahrhunderte oft den Besitzer gewechselt zu haben.
- Im domus herrscht eine komplexe Vermengung von "privat" und "öffentlich". Alles nicht so einfach.
- "The Early Middle Ages in the West" (Michel Rouche):
- "Introduction" (Paul Veyne) / "Historical Introduction" (Rouche)":
- Veyne: Nicht die Barbaren, nicht der Zusammenbruch der Systeme hat der römischen Kultur den Todesstoß versetzt, sondern die kulturelle Selbstaufgabe der Elite. Es gab nichts mehr zu distinguieren und keinen Glanz mehr in der Zivilisiertheit.
- Rouche: Der römische Lifestyle, das öffentliche Leben der Stadt als Zentrum, geht unter. Die Barbaren forcieren das Private, das eigene Schloss.
- "Private Life Conquers State and Society":
- Natürlich, Gregor von Tours ist mal wieder so gut wie die einzige Quelle.
- Barbaren können nicht inzu res publica, Legalismus, Abstraktion oder Feinsinn; ihr Geist ist besessen von Beute und Gold, Blutschwur und Nibelungentreue, Wut und Tosen. Sie fressen fünf Milliarden Kalorien pro Tag, vor allem Schweres und Fett, und trinken nur Wein und Bier. (Jetzt setzt sich übrigens das Sitzen am Tisch mit beidhändigem Verzehr gegen das einhändige Liege-Bankett durch.) Die gallo-römischen Stadt-Eliten rümpfen die Nase, und die Kirche versucht, zu zähmen, zu zivilisieren.
- Barbaren sind große Fans von Privatbesitz. Wer mich tötet, muss eine Geldstrafe zahlen, aber wer meinen Gartenzaun ("Zaun" kommt aus dieser Zeit, und ebenso das teutonische Gärtner-Hobby) auch nur beschädigt, muss sterben. Fremd ist ihnen die Idee eines Gemeinwohls, der Teilnahme an einem soziokulturellen Großprojekt, der Abstraktion vom Selbst, die in der römischen civilitas als Wert eingeschrieben war.
- Auch Politik begreifen sie als Privatbesitz. Statt "Staat" Land, das dem König gehört, der es erobert hat. Logisch, dass man sowas vererbt und je nach Söhne-Zahl aufteilt. Statt Steuern Tribut Unterworfener, und der wandert direkt in den Privatschatz. Die Namen der hohen Ämter -- Marschall, Seneschall, Konstabler, Vasall -- sind allesamt die von privaten Haushaltsbediensteten.
- Nichts sammeln die Barbaren lieber als Edelsteine, Prunk, protzige Ausstattung; umso reicher die Kunst besetzt ist mit teuren Metallen, umso kruder wird sie in der Gestaltung.
- Diverse eigene Welten riegeln sich vorm Außen ab: Die Gilden organisieren ihre eigenen Wirtschaftsgesetze, halten die Kenntnis ihrer Künste geheim, bilden eigene Solidargemeinschaften (liest sich alles etwas nach den römischen collegia). Die Juden werden zu hermetischen Gemeinschaften, die mit den Gojim nur noch über einen Mittelsmann verkehren. Abriegelungen des eigenen turf rationale Reaktion auf den Zusammenbruch der gemeinsamen Zivilisation?
- Auch Kirchenbesitz beansprucht Selbstbestimmung, Klöster werden zu autarken Lebensräumen. Letztere sperren aber eher ein, statt aus; Besuche hinein sind gestattet, nur will man von der Außenwelt nicht abhängig, fremdbestimmt werden. Es sind kirchliche, klosterliche Regeln (teils auch von Königen für gut befunden und breit bestätigt/verordnet), die gegen die Vertikale des barbarischen Privatbesitzes horizontal, Territorien-übergreifend Institutionen wie zum Beispiel das Armen-Asyl schaffen.
- Bei den Barbaren stark: Krieger-Ethos, Bruderschaft trinken, enge familiäre Bande als Assoziationsform, Treue bis in den Tod. Man gehört zur Familie nicht durch legale Bande wie im alten Rom, sondern durch körperliche, emotionale Nähe. Stärkung des Regionalismus, der Kleingärtnerei, der Selbstbezüglichkeit.
- Wohngelegenheiten: Die Landvillen werden rustikaler. Im Norden mehr Stein als Holz. Die kleinen Leute leben in improvisierten Dreckshütten mit ihren Tieren unter einem Dach.
- Im Wald / Hercynian Forest: Vagabunden und Eremiten (ägyptischer Art). Außerhalb der Gesellschaft.
- Den Frauen wird das Pilgern verboten, weil sie sich für Unterkunft zu oft prostituieren müssen.
- "Body and Heart":
- Ein merkwürdiges Gemisch aus christlichem und barbarisch-heidnischem Körper- und Sexual-Tabu-Kult entsteht. Z.B. tabuisieren die Barbaren Nacktheit, weil sie geheiligte Fruchtbarkeit/Sexualität ist; die Christen tabuisieren sie als Gegenreaktion als obszön.
- Der barbarischen Politik steht das Körperliche im Mittelpunkt: Blut, Hymen, Geburt statt Schrift, Gesetz, Stiftung. Körperliche Akte und Manifestationen sind Rechtsstatus. Der Wert von Menschen bemisst sich nach ihrem Alter und ihrer Reproduktionsfähigkeit. Eine nicht gebährfähige Frau zu töten ist ein Kavaliersdelikt, eine gebährfähige dagegen eine Schandtat sondergleichen. Die Zeit der Folter, der Kastration und der körperlichen Prüfungen bricht an.
- Das römische Recht behandelte Mann und Frau vergleichsweise gleich als potentiell freie und selbstbestimmte Menschen. Unter den Barbaren ist sie jetzt explizit etwas Anderes, irgendwo zwischen Gebährmaschine und Mondmagie-Funktion. Dass es jetzt, im Gegensatz zu Rom, Gesetze gegen Vergewaltigung gibt, ist kein Interesse fürs Leid der Frau, sondern für ihr Hymen und ihre Gebährmutter.
- Niedrige Lebenserwartung, hohe Kinder- und Jugendsterblichkeit. Kaum jemand wird älter als vierzig; dann aber leicht. Der Großteil der Bevölkerung besteht aus Frauen und Kindern.
- Polygamie ist weit verbreitet, nach barbarischer Blutlinien- und Familien-Logik rational. Gegen das kirchliche Verbot mogelt man sich mit Mehr-Heiraten verschiedener Ränge durch. Als die Kirche Scheidung verbietet, kommt die "karolingische Scheidung": der Frau die Kehle durchschneiden, die Geld-Strafe für ihre Ermordung ist eine verdauliche Gebühr für Wiederheirats-Möglichkeit. Erst 10. Jh. setzen sich Monogamie und Scheidungsverbot durch. Konkubinen / Sklavenmädchen hält man sich trotzdem noch.
- Die Zeit der Großfamilie / Sippe bricht an, mangels Öffentlichkeit und Institutionen bietet sie Schutz und sozialen Rückhalt. In einer Hütte leben acht, zehn Menschen, Blutsverwandte und Sklaven, allesamt familia. Endogamie ist verbreitet, deshalb sind auch Inzest-Gesetze notwendig.
- "Violence and Death":
- Der Barbar ist kein Humanist; die Grenzlinie zwischen seinem Körper und dem seiner Waffen oder dem der Tiere ist fließend. Ich, mein Schwert, mein Pferd/Tierfell, wir sind eins. Große emotionale Verbundenheit diesen Prothesen gegenüber, man wächst mit ihnen auf.
- Lieblingsbeschäftigung: die Jagd. Innigkeit zwischen Tier und Menschen im Überlebenskampf, keine klare speziezistische Seitenverteilung; viele tote Menschen durch Jagdunfälle, oder weil die Jagd der Übrigen sich plötzlich auf sie richtete. Ehre darin, mit der Natur zu ringen und sie zu bezwingen; Allianz mit der Natur: mein Jagdfalke.
- Tierische Geschlechterpolitik: Einigkeit mit dem Bär, der in seiner Aggression so männlich ist; mann trägt sein Fell und erbt so von ihm, kann so vielleicht sogar von ihm übernommen werden. Die Sau ist nicht mal der Jagd würdig, in ihrer Fluchtfreudigkeit und Hege für den Nachwuchs ist sie weiblich. Fischfang ist kein Männersport, Fische haben keine männlichen Eigenschaften.
- Hexenwahn. Während Männer Bären sind, sind Frauen magische Wesen, unheimlich. Eine Trennung wie zwischen zwei Spezies. Vermischung der Geschlechterbegriffe ist nun abscheulich: homosexuelle Neigungen zwischen Männern erfahren besondere Tabuisierung, der laxe Umgang der Römer mit der Knabenliebe wird unvorstellbar. Womit die Barbaren kein Problem hatten, was erst die Kirche tabuisiert: weibliche Homosexualität.
- Von Kindheit an trainiert der Mann seinen Körper, seine körperlichen Fähigkeiten, den Kampf, die Bewegung, die Jagd. Gewalt, physische Ausdauer und das Töten machen dich erwachsen.
- Alles, was mein Eigentum schmälert, verlangt allergrößte Vergeltung durch mich, bis zum Tod; sei es ein Diebstahl oder eine Beschädigung oder auch nur eine Beleidigung und damit Verletzung meiner Ehre. Vergeltungs-Metzeleien, Fehden. Die Geldstrafe fürs Morden oder Verstümmeln erklärt sich daraus, dem barbarischen Gewaltkreislauf durch den lockenden Glanz des Goldes Einhalt zu gewähren: Schwörst du ab vom Rache-Schwur, mehrst du deinen Reichtum.
- Der Barbar steht auf einfache Analogien, nicht auf Abstraktion. Das ist eins, was spürbar zusammen auftritt. Körper und Geist. So lange ihr Körper noch da ist, sind die Toten nicht tot, kehren wieder, bedürfen der Verpflegung, Kleidung. Ghule und Geister und Nekrophilie bestimmen die Vorstellungswelt. Nichts ist je richtig tot, alles ist gegenwärtig. Das Christentum muss erst die außerirdischen Räume von Himmel und Hölle erfinden, um die Toten aus der barbarischen Gegenwart zu entfernen.
- Die Barbaren leben in ewigen, immergleichen Kreisläufen, der Gleichzeitigkeit aller Phänomene. Das Christentum setzt dem lineare Geschichte, Entwicklung, Vorher-Nachher entgegen.
- Gegenüber der römischen Namensgebung setzt sich der vereinzelte Tiername durch, z.B. "Wolfgang".
- "Sacred and Secret":
- Das ora et labora der Benediktiner heiligt die Arbeitsmühe. Verachtung dem antiken otium, das dort gerade auch das Intellektuelle zum Müßiggang der Oberschicht abstempelte. Jetzt ist das otium Sünde; das Intellektuelle besteht jetzt als Anstrengung, als Geistes-Arbeit. Konzentration statt Müßiggang. Wer ein Leben der Vergeistigung und Verinnerlichung sucht gegenüber der tumben Roheit der Barbaren-Welt, für den ist das Kloster so oder so ein Paradies.
- Die Benediktiner predigen die Disziplin und Innerlichkeit der Stille. Advent des stillen Gebets. Das stille Lesen wird geübt, wieder gelernt. Die Bibliophilie der Mönche erklärt sich daraus, dass ihnen ja sonst keine Sinnesfreuden vergönnt waren als die Ästhetik der Buchgestaltung und der Sprache. Der codex ersetzt die Schriftrolle und gibt die Hand frei für Textvergleiche und Notizen.
- Die Kirche setzt dem sexistischen Biologismus und Recht des Stärkeren der Barbaren die prinzipielle seelische Gleichwertigkeit von Mann und Frau, Herr und Sklave entgegen. In ihren Sünden- und Buße-Registern erhalten alle die gleichen Strafen; und deren Rangfolge dreht die Barbaren-Welt auf den Kopf: Mord ist schlimm, Diebstahl harmlos. Segnungs-Ansprüche durch Kirchen-Sponsoring sind ein Zugeständnis an den barbarischen moralischen Materialismus.
- Die Kirche bemüht sich, abstrakte Theologie und innerliche Reflektion durchzusetzen, gegen ein Heidentum, das auf praktisch-physische Zauberei, die Macht des Körpers und äußeren Status setzt. Viele unreine Kompromisse entstehen, und die Christianisierung wird nie ganz fertig. Was die Kirche abstrakt und moralisch meint, das interpretieren die Barbaren als konkret und magisch.
- Soweit der Kirchenkult einen öffentlichen Raum beansprucht bzw. gerade schafft, werden die Riten, Traditionen des Heidentums entweder assimiliert oder ins Private verdrängt. (So erklärt sich vielleicht das Obskure, Geheime aber auch Intime vieler seltsamer Bräuche, die wir bis in die Völkerwanderung zurückverfolgen können?)
- Erfolg der Kirche: Innerlichkeit (und damit den profanen Unterschieden entgegengesetzter Universalismus der Seele) wird langsam eingebleut, über das stille Gebet als Privat-Dialog mit Gott, und die stille Beichte. Sie ersetzt das öffentliche Schuldbekenntnis im Büßergewand, einen sozialen Akt (die Gemeinschaft anerkennt und vergibt), durch einen privaten (nur der Priester horcht, Gott vergibt). Ein persönliches Gewissen und Schuldgefühl wird herangezogen, und zwar für neue, christliche Tabus und Sünden.
- "Conclusion":
- Das frühe Mittelalter, unser dreckiges Unterbewusstes. Der Kampf der Kirche, den Barbaren-Geist zu ziviliseren.
- Der Privat-Besitz der Barbaren (was mir gehört, als Privileg in der Welt) trifft auf den Privat-Geist der Kirche (der intime Dialog zwischen meinem Herzen und meinem Gott, jenseits der Welt). Privatisierung der Welt vs. Privatisierung des Ichs; für letzteres muss die Kirche dem weltlichen Privatismus eine eigene Öffentlichkeit gegenbauen.
- "Byzantium in the Tenth and Eleventh Centuries" (Evelyne Patlagean):
- "The Byzantine Empire"':
- Puh, eine ganz andere Welt, klingt das. Autor bemüht sich erst gar nicht um einen Anschluss ans Alte Rom und schildert das Reich wie aus sich heraus geboren.
- Angeblich eine Hochzeit des Reiches, eines gegenüber dem Westen viel Schrift- und Gelehrten-fixierteren, viel massiver organisiert, und dennoch viel spärlicher in den erhaltenen / verfügbaren Quellen?
- Autor muss betonen, was er mit "öffentlich" und "privat" meine; notwendig, da seine Grenzziehung der modernen nahe kommt, während im vorherigen Buch ja gezeigt wurde, wie sehr die antik-römische davon abweicht.
- "Private Space":
- Na das liest sich ja alles sehr schwammig / unsystematisch. Vor allem um den Bereich der säkulären Haushalte eiert der Autor ziemlich herum. Nur mit dem römischen domus im Hinterkopf und dessen möglicher Weiterentwicklung lässt sich überhaupt eine Vorstellung in die vielen Lücken reinskizzieren.
- Offenbar war es üblicher, Häuser zueinander in Nähe über familiäre/politische Verwandtschaften zu gruppieren. Mehrere Häuser desselben Klans teilten sich dann schonmal einen Hof.
- Frauen wurden hart segregiert, hatten ihre eigenen Quartiere im Haus, durften nur selten selbständig ihren Kopf in die Öffentlichkeit stecken oder an geschlechtsgemischten Anlässen teilnehmen.
- Mit sehr viel mehr Material und Eifer widmet sich der Autor dem Klosterleben. Das hat sich offenbar aus einer Randständigen-Avantgarde zum gesellschaftlichen Mainstream entwickelt, zu einem privilegierten Privatsektor und einem allgemeinen Lebensziel.
- Wer will nicht sein eigenes Kloster? Sie werden gestiftet wie wild, wer keines bauen will, erklärt einfach sein Privathaus dazu / bezahlt seinen Eintritt damit. Die Grenzziehung zum weltlichen Leben scheint teils fließend, man nimmt gern seine Diener mit und bleibt im eigenen Haus oder daneben, damit die Familie nicht plötzlich so allein dasteht.
- In der Klosterzelle ist man allein, soll man allein sein, und sich nur "privaten" Dingen widmen, und zwar in Stille.
- "Self and Others":
- Der Familien-Klan hat außerordentliche Bedeutung als weitreichendes, einflussreiches politisches Geflecht. Heiraten werden mit dem Bedacht barocker Adelshäuser arrangiert. (Vgl. den isolierten Charakter des domus unterm paterfamilias in Rom, wo auch Heiraten vor allem eine Frage der Erbverteilung waren.) Es gibt umfangreiche Gesetze, welche Heiraten in welchen Familienrelationen erlaubt sind; Furcht vor Inzest reicht über Blutfragen weit hinaus.
- Die Kirche propagiert Ehe inzwischen positiv als das Nächstbeste nach Keuschheit; für letzteres fällt dennoch oft die eigene oder die elterliche Entscheidung, weil man viel aufs Kloster schickt. Auch eine gewisse Romantik scheint inzwischen Einzug zu halten, aus Gerichtsprozessen lässt sich wohl ein gewisses Bedürfnis an Liebesheiraten herauslesen. Sich nebenbei eine Konkubine niederen Standen zu halten, scheint nach wie vor kein großes Problem.
- Das Kloster tendiert zur höchsten Lebensform, und mit ihm seine Beziehungsformen, die brüderliche Gemeinschaft und eine Vaterfigur an der Spitze. Die Beziehung zu einem Beichtvater gilt durch die ganze Gesellschaft, auch außerhalb der Klöster, als eine sehr innige.
- Von Beziehungen der Frauen untereinander weiß man so gut wie nichts. Man kann ja schon froh sein, wenn man aus einem Text ihren Vornamen erfährt, so randständig werden sie behandelt.
- Dann gibt's die "Freundschaft" zwischen Männern. Unklar, wie sehr Formel; ein anerkanntes Band, dessen zusätzliches Vorhandensein zu einer familiären Beziehung bspw. durchaus festgehalten wird. Phrasen von Freundes-Briefen verwenden, aber stark formelhaft, alle denkbaren antiken Begriffe der "Liebe" füreinander; hinzugedacht die anerkannten kirchlichen Segnungen bestimmter Männerbeziehungen / "Bruderschaften", klingt es alles leicht schwul.
- Eunuchen wurden nicht als verweiblicht betrachtet, sondern als Kultur-Geschlecht, erhaben über die biologische Sexualität.
- "The Inner Life":
- So brav das Christentum auch Prüderie predigte und der allgegenwärtige Mönch sie lebte: Wenn sie wollten, konnten die Byzantiner durchaus reichhaltige Sexualkunde vorweisen; nicht nur theologische Entschuldungen nächtlicher Ejakulation, auch weltliche Ratgeber zur weiblichen Sexualität mit ausgiebiger Anatomie. Auch sonst reden Byzantiner recht gelehrt von ihrem Körper in seiner Sexualität, Kränklichkeit und Fehlgestaltung.
- Byzantiner hatten ständig Visionen, was daran lag, dass sie ihre Träume, wie schon die alten Römer, sehr ernst nahmen, die Grenze zur Wachwelt sehr durchlässig zogen. Reichhaltige religiöse Traumdeutungsliteratur.
- Andere beliebte Lektüre: Heligengeschichten. So populär der Wüstenheilige als Klostergründer auch war, in der Wirklichkeit und Gegenwart wurde die byzantinische Gesellschaft gegenüber Einzel-Eremiten immer misstrauischer. Besser, man unterliegt der Gemeinschaftskontrolle einer Bruderschaft/Schwesterschaft.
- Andere beliebte Lektüre: Klassiker bis zurück ins Heidnische, Historiker.
- Ansonsten haben wir nur sehr wenige Spuren eines innerlichen Lebens der weltlichen Byzantiner.
- Indischer Exotismus: Heilige im indischen Orient, Träume von Elefanten, Beliebtheit der fremdländischen Exkursionen Alexander des Großen (zu dem eine reichhaltige, erfindungsreiche Literatur entsteht).
- "Private Belief":
- Elaborierter Staatskult. Beten für militärischen Erfolg. Detaillierte Vorgaben für alle Bereiche des Glaubenslebens.
- Gefährlicher Ikonenkult. Ikonen sind ein privater Draht zu Gott, man verehrt sie daheim, stellt sie sich selbst zusammen, schreibt ihnen magische Kräfte unabhängig vom Priester zu. (Darum ging der Bilderstreit.) Staat reguliert.
- Staatliche Heiligen-Standardisierung: Welche Geschichten darf man abbilden, wer kriegt einen Feiertag? Demgegenüber die Gefahr privater Kulte für unautorisierte Heilige, die ja sonstwas gepredigt haben konnten.
- Allgegenwärtig die Dämonen. Einerseits im dionysischen Karneval, der immer noch mit alter heidnischer Freude gefeiert wird, obwohl Dionysos doch ein Dämon. Andererseits neben klassischen Überresten auch die Vermutung slawischer Einflüsse durch den engen Kontakt mit den Russen. Christentum nimmt die Dämonenbrut durchaus ernst und überlegt sich Mittel dagegen.
- Oft Nebeneinander von Christentum und heidnischen Bräuchen wie Horoskopen oder Zauberei. Liest sich aber alles nach einem entspannteren Verhältnis als gegenüber den Barbaren im Westen.
- Die Furcht vor den Bogomilen. Diese Häretiker sprechen großen Teilen des kirchlichen Kults die Wahrhaftigkeit ab. Das Fiese: Anstatt alles in Brand zu setzen, machen sie trotzdem beim öffentlichen Kult mit, dem sie vor allem gleichgültig gegenüberstehen; im Inneren wissen sie, dass es nichts bringt, aber dieses Innere kann man ihnen von Außen nicht ablesen. Krypto-Häretiker, Paradefall für private Religion in defiance eines öffentlichen Kultes.
- "Conclusion":
- Gewagte Behauptung: Trotz der dünnen Beweislage müsse man natürlich davon ausgehen, dass es in Byzanz ein Gegeneinander von privatem und öffentlichem Leben gegeben habe, schließlich sei das ja in allen komplexen Gesellschaften so.
- Außerdem sei ein kultureller Wandel vom 10. zum 11. Jahrhundert gezeigt worden. Naja.