Buch: "A Guide To The Good Life. The Ancient Art Of Stoic Joy" von William B. Irvine.
Lektüre-Notizen:
Meta:
- "Introduction":
- Lebensphilosophie heißt: dem Leben ein Ziel setzen (das man dann auf dem Sterbebett als erfüllt oder unerfüllt sehen kann) und sich eine Strategie zurecht legen, dieses Ziel zu erreichen.
- Für die Antiken war die Entwicklung, Lehre und Praxis solcher Lebensphilosophie Mittelpunkt ihres philosophischen Bemühens. Dieses Buch will Stoizismus nicht als akademischen Gegenstand, sondern als Praxis vermitteln--und sieht sich damit ganz im Geiste der Antiken.
- Stoizismus ähnelt dem Zen-Buddhismus, wird vom Autor aber als in bestimmter Weise analytischer empfunden. Außerdem gehen beim Stoizismus nicht so viele Timeslots für stundenlanges Meditieren drauf, er ist also ganz gut vereinbar mit dem engen Terminkalender der Beschäftigten!
- Der Autor führt Cato den Jüngeren in seinem Kampf um den Erhalt der Römischen Republik als stoizistisches Vorbild ein. Haha, dumm nur, dass mein Bild von Cato dem Jüngeren aus Wikipedia-Lektüren und der HBO-Serie "Rome" in erster Linie den mitleiderregenden alten Mann zeigt, der seinen Kampf für die Republik als gescheitert ansehen muss und dann einen ziemlich garstigen Selbstmord begeht.
- Hübsch, der Autor betont mehrfach die Verbundenheit der von ihm im Buch zu lehrenden Lebensphilosophie mit dem Altertum, anstatt ihr irgendeine naheliegende Geeignetheit mit der Moderne zu unterstellen (er erwähnt nur defensiv einige Gründe gegen eine besondere Stoizismus-Inkompatibilität derselben).
"The Rise of Stoicism":
- "Philosophy Takes an Interest in Life":
- Vor Sokrates: Naturphilosophie (wird später zur Wissenschaft). Mit Sokrates: Philosophie des Geistes und der Lebensführung (Ethik, Seele).
- Erst in einer Demokratie (im Gegensatz zu einem Despotismus) gewinnen die Künste der rhetorischen und argumentativen Überzeugung an Wert. Erst die Demokratie also kann die Institution der Philosophie gebären, die philosophischen Lehrer, die philosophischen Schulen.
- Lebensphilosophie ist eine andere Achse als Religion. Religion stiftet Gebote oder Verbote, um gottgefällig zu leben, gibt aber keine Anleitung für ein "gutes Leben" um seiner selbst willen. Die Trennlinien zwischen Juden, Moslems und Katholiken sind keine lebensphilosophischen.
- Virtueller Schulen-Spaziergang durchs Athen des Jahres 300 B.C. Nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch architektonisch informativ!
- Die verschiedenen Schulen und was sie lehrten, vor allem auch in Sachen Lebensführung, waren bedeutende Identitäts-Ressourcen für die Athener/Antiken. Dorthin schickte man den eigenen Nachwuchs, und oft hingen da auch Erwachsene rum.
- Der Autor sieht Stoizismus nicht als die eine richtige Lebensphilosophie, sondern als eine Möglichkeit unter vielen an; so oder so habe man aber wohl mit einer Lebensphilosophie als Plan eine bessere Aussicht auf ein gutes Leben als ohne.
- "The First Stoics":
- Zenon von Kition gerät in Athen in die Szene der Kyniker, antikonsumistischer Straßen-Punks, die das Glück im Verzicht sehen. Er versucht, ihre Praxis theoretisch auszustaffieren und etwas nachhaltiger zu machen (z.B. den Besitz schöner Dinge zu erlauben; man solle sich nur nicht von ihnen abhängig machen, ihren Verlust ertragen können), und gelangt, unter Ideen-Diebstahl einiger philosophischer Schulen in der Umgebung, schließlich zu einem hinreichend differenzierten wie auch umfassenden Philosophie-Paket, um in der Stoa der Athener Agora seine eigene Schule aufzumachen.
- Programm der Stoa: Logik, Natur-theologisches Weltmodell und eine eudaimonische Ethik -- d.h. nicht interessiert an der Frage der Moral, sondern daran, wie man Glück im Leben finde. Schwerpunkt in letzterem.
- Die stoische Tugend, das ist ein Natur-gefälliges Leben, das die dem Menschen eingebauten Fähigkeiten und Pflichten (z.B. Geist und Geselligkeit) exzellent ausfüllt, ungetrübt von irrationalen Runterziehern. Diesen Zustand strebt der Stoiker an, auch wenn er nicht unbedingt davon ausgeht, ihn zu erreichen. Er vertraut hierbei auf die Vernunft als Heuristik dessen, was einem Gutes bringt. Sie ist das wesentliche Geschenk der Götter an den Menschen.
- Bei den Römern ist die Stoa rasch aufs Lebensführungs-Konzept zusammengedampft und ausgebaut/umgewuchtet auf den Drang zur Gelassenheit, zur Abwesenheit negativer Gefühle als Raum und Bedingung für die Tugend und die Freude.
- Philosophie war in der Antike ein kommerziell heiß umkämpfter Markt. Wer Schüler wollte, musste sich eine attraktive Philosophie zusammenbauen. Entlang dieser Dynamiken klauen philosophische Schulen voneinander / reagieren aufeinander, orientieren sich an Moden und veränderten Bedürfnissen. Die antike Stoa ist also kein stabiler Monolith.
- "Roman Stoicism":
- Stoiker scheinen alle einen schrecklichen Tod zu sterben: Erst Cato, jetzt Seneca. Ewww!
- Seneca: Rationalisiere dir alles weg, was dich aufregt/erschreckt. Die folgende Gelassenheit wird dich mit Glückseligkeit überhäufen!
- Gaius Musonius Rufus: Römischer Sokrates, d.h. dialogisierte gerne und schrieb nichts nieder, überliefert nur durch seine Schüler. Wurde gelegentlich exiliert, lebte ansonsten aber vergleichsweise erträglich. Befand, Philosophie sollte das Leben formen (und auch und gerade der Stoiker, in seiner Gelassenheit, sollte am öffentlichen Leben aktiv teilnehmen) und ein Philosoph sollte sein Publikum mit seinen Erörterungen in schamvolle Stille terrorisieren.
- Epiktet (freigelassener Sklave) wollte, dass seine Schüler sich nach jeder Sitzung heilsam unwohl fühlten (durch demütigende Analyse reparaturbedürftiger Wesensarten). Viele konkrete Ratschläge für stoische Lebenspraxis. Merkwürdiger Gott-/Zeus-Glaube.
- Eine pubertäre Kyniker-Punk-Phase scheint sowohl Epiktet, als auch Mark Aurel in ihrer Jugend ereilt zu haben.
- Mark Aurel: der disziplinierteste und verantwortungsvollste und demütigste Kaiser, den Rom je! Und zugleich die Spitze in der Karriere der Stoa, danach ging's nur noch bergab.
"Stoic Psychological Techniques":
- "Negative Visualization":
- Nimm immer das Schlimmste / den Worst-Case an. So bist du auf den Ernstfall vorbereitet, sowohl zwecks Verhinderung als auch zwecks besseren Verkraften-Könnens.
- Kontemplier regelmäßig, du würdest das, was du hast, verlieren. So schlägst du der "hedonistischen Anpassung" ein Schnippchen, die dich an all das gewöhnt, was du hast / deine Wertschätzung dafür verringert.
- Wenn du ein Kind hast, steigere also dein Lebensglück, indem du dir regelmäßig vorstellst, wie es eines grauenvollen Todes stirbt. Bei jedem Abschied von einem Freund, erwäge die Möglichkeit, dass es der letzte sein könnte. Nehme an, der jetzige Augenblick könnte dein letzter sein, um dir bewusst zu werden, wie schön es ist, ihn noch zu haben. (Nicht: um apokalyptisch einen drauf zu machen! Überlasse das den Hedonisten.)
- Egal, wie schlecht es dir geht, du kannst dir immer einen nächst-übleren Zustand vorstellen. "He can be thankful that he is still alive."
- Für den Stoiker ist das Glas immer halb voll (d.h. er vergleicht den gegenwärtigen Zustand immer mit dem schlechteren, nicht dem besseren), deshalb ist er ein Optimist.
- Als Garantie für Lebensglück ist Negative Visualisierung sogar noch besser als jede persönliche Katastrophe: leichter herbeizuführen, nachhaltiger und nicht so oft letal.
- Willkommene Anlässe, um sich vorzustellen, was einem alles an Leid geschehen könnte: was den Anderen passiert; und wie unsere Vorfahren lebten.
- Der Stoiker ist keineswegs besessen vom möglichen Schlechten. Er panikt und sorgt sich nicht permanent darüber, sondern er kontempliert es, als intellektuelle Übung statt emotionalisiertes Drama, zu gelegentlichen Zeitpunkten, nicht durchgängig.
- Der Stoiker wappnet sich für den Fall des Verlustes von etwas vor der Reue, es nicht hinreichend gewürdigt oder genossen zu haben, als es noch da war.
- Da er nichts für selbstverständlich nimmt, kann der Stoiker Wandel besser verkraften, ist ihm leichter kompatibel. (Hier liegt vielleicht sogar ein revolutionäres Potential für den Stoizismus!)
- "The Dichotomy of Control":
- Epiktekts Rezept für Glück (und Ambitionslosigkeit): Begehre nur noch das, was in deiner Reichweite liegt. Lösche jedes Begehren in dir aus, das du nicht leicht erfüllen kannst. Senke deine Ansprüche so sehr, dass du nie mehr enttäuscht wirst.
- Begehre nur das, was du kontrollieren kannst (dein Inneres), und sorge dich nicht um das, was du nicht kontrollieren kannst (das Äußere).
- Irvine versucht, das alles ins Weniger-Absolute zu beugen. Wir können diverse uns innere Impulse vielleicht nicht so einfach mit ein bischen Rationalismus kontrollieren, wie Epiktet es uns weis machen will. Aber so Dinge wie unsere Ziele, unsere Meinungen, unsere Werte; die zu verändern, erfordert vergleichsweise wenig Arbeit.
- Unter unser Kontrolle stehen, das hieße: Es kostet uns wenig bis keine Kraft, die Sache zu verändern. Macht also Sinn, hier unser Kraftzentrum aufzubauen, die Veränderung unserer Welt hier zu beginnen. Denkt man in dieser Art des "wieviel Aufwand kostet es mich", braucht man keine absolute Grenze ziehen zwischen "kann ich kontrollieren" und "kann ich nicht kontrollieren", sondern eine Kontinuität abnehmender Kontrollierbarkeit, auf der man sich strategisch aufstellen kann.
- Der Stoiker braucht durchaus nicht auf Ambitionen wie das Aufhalten des Unaufhaltsamen, das Verändern des Unveränderbaren oder das Gewinnen dessen, was verloren werden kann, zu verzichten. Er geht sie aber mit einem psychologischen Trick an: Dem fernen Ziel A schaltet er für seine persönliche Psychologie ein erreichbareres Ziel B vor, im Kampf für A sein Bestes zu geben. Selbst wenn er A dann nicht erreicht, kann er immer noch mit sich zufrieden sein, wenn er sein Bestmögliches gegeben und so B erreicht hat. Manches Kampfes Aussichtslosigkeit wird durch diesen Trick als Hinderungsgrund sogar entschärft, anstatt verstärkt. (Ich denke mir: Die resultierende Sturheit kann fürs Finden von Lösungen aber auch kontraproduktiv sein. Ehrenwert, dass ich alles für A gebe, aber vielleicht mache ich mich so blind gegenüber alternativen Lösungsansätzen mit größerer Erfolgsaussicht. Mögliche Lösung: Setze A fern/abstrakt genug, dass der Weg dorthin nicht allzu eindeutig vorgezeichnet ist. Dann ist das strategische Wechseln von Richtungen Teil der Arbeit am Ziel B.)
- "Fatalism":
- Fatalismus (von fatalis), der Glaube ans fatum, das Schicksal, die Vorherbestimmtheit von allem, die nicht umgangen werden kann.
- Der Stoiker ist ein Fatalist. Sein Fatalismus richtet sich aber vor allem auf die Vergangenheit (sie lässt sich nicht ändern, sie fiel so wie sie fallen musste) und die Gegenwart (das Jetzt ist nunmal so, wie es ist): Sorge dich nicht um diese, du kannst sie eh nicht ändern, genieße was sie dir bieten. Mit Blick auf die Zukunft ist sein Fatalismus kein großer Hinderungsgrund: Wir müssen akzeptieren, was die Welt uns zuteilt; aber wir können ja erst sehen und damit akzeptieren, was uns zugeteilt wurde, wenn es uns erreicht. Insofern bewahrte sich der Stoiker alle Freiheit für Zukunfts-Entscheidungen.
- "Self-Denial":
- Der Stoiker setzt sich gelegentlich absichtlich Unbequemlichkeiten/Leiden in homöopathischer Dosis aus. Das härtet ab/bereitet auf den Fall der Fälle vor, verringert die Angst davor und steigert den subjektiv empfundenen Wert sonstiger Bequemlichkeit/Abwesenheit von Leid.
- Skepsis gegenüber Arten des Genusses: Die Lust, den Genuss, wo mich abhängig macht, mir die Definitionsmacht über mein Glück nimmt, mein Selbstbestimmungsvermögen einschränkt, lehnt der Stoiker ab.
- Weniger vereinnahmende Formen des Genusses sind genehmigt; nur sollte man sich ihnen nie in einem Maße hingeben, das sie selbstverständlich macht oder die eigenen Ansprüche dauerhaft hebt. Übe immer wieder auch Verzicht, um deine Ansprüche niedrig zu halten und den Genuss des Genusses zu steigern.
- Loblied auf die Selbstkontrolle, die wie ein trainierbarer Muskel sei.
- "Meditation":
- Der Stoiker kontempliere regelmäßig die Vereinbarkeit seines vergangenen und gegenwärtigen Handelns mit stoischen Prinzipien. Und zwar nicht in eigenen Meditations-Timeslots, sondern beim Zubettgehen oder sogar während des Tagesablaufs.
- Konstante Selbstkritik, Hinterfragung der eigenen Motivationen und Handlungslogiken. Zugleich Bewusstsein, dass das Ziel einer perfekten stoischen Identität vermutlich unerreichbar sei; der Weg ist das Ziel, und regelmäßiges Scheitern ist Teil des Weges.
- Gib einen Scheiß drauf, wie Andere dich bewerten, sei es nun negativ oder positiv. Dein einziger Maßstab sei deine eigene Zufriedenheit mit dir selbst.
- Sieh dein Id nicht als deinen Freund, dem du zu folgen, sondern als deinen Gegner, den du unter Kontrolle zu halten hast.
- Der Stoiker verliert das Interesse am Missionieren: die Stoa ist eine Praxis, keine Bibel. Ein guter Stoiker belehrt also auch nicht ungefragt sein Umfeld oder gibt mit seiner Kenntnis oder Praxis der Stoa an, sondern lebt sie einfach und gut ist.
Stoic Advice
- "Duty":
- Stoiker betrachten andere Menschen als lästige Gefahren für die individuelle stoische Gelassenheit. Gleichzeitig glauben sie aber, dass der Mensch mit sozialer/solidarischer Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen geschaffen wurde. Und ein Leben in demütiger Pflichterfüllung der eigenen natürlichen Anlage gegenüber, das bringt Gelassenheit. Deshalb war Mark Aurel, im Geiste und Empfinden Misanthrop durch und durch, in seiner Praxis so ein Menschenfreund: aus Pflichtgefühl, nicht, weil er die Menschen mochte.
- "Social Relations":
- Eine soziale/solidarische Pflicht hast du gegenüber allen Menschen. Befreunden solltest du aber nur die, die charakterlich den von dir angestrebten (stoischen) Tugenden kompatibel sind, sie besitzen und an dich weiterstrahlen können.
- Freunde dich nicht mit Menschen an, die deinen Tugenden entgegengesetzte Laster ausstrahlen; du könntest dich anstecken. Meide Menschen, die weinerlich sind und ständig rumklagen.
- Bei sozialen Gelegenheiten, beteilige dich nicht an niedrigem Geschnatter z.B. über Sport und Boulevard-Klatsch; halte dich zurück oder lenke das Gesprächsthema um.
- Zerbrech dir nicht den Kopf darüber, was in den Köpfen der Anderen vor sich gehen könnte, es sei denn es ist strategisch absolut notwendig.
- Das zuweilen notwendige Ertragen nerviger Menschen: Lerne Toleranz -- du selbst bist auch nicht perfekt und gehst sicher manchem auf die Nerven. Kontrolliere deine Gefühle -- nicht die Anderen verantworten deine negativen Gefühle ihrerbezüglich, sondern du, über mangelnde Selbstbeherrschung und zu hohe Erwartungen an sie. Vielleicht lohnt auch ein Versuch, den nervigen Anderen ins Unnervige zu bessern.
- Stoiker finden wenig Gutes im Sex: ein biologischer Trieb, der den Seelenfrieden durcheinander bringt / die Selbstkontrolle aushebelt, Drama verursacht und unplanmäßig Kinder und damit Lebensplanungs-Chaos schafft. Ehe dagegen ist toll, sie reduziert den Sex-Trieb auf eine beruhigend-kontrollierte Zweier-Union und planmäßig-verantwortliches Kinderkriegen.
- Buddhisten mögen auch keinen Sex. Sie raten, sich das sexuelle OdB als biologisches Ekel-Kabinett bzw. im Zustand der Verwesung vorzustellen, um sich den Trieb auszuprügeln.
- "Insults":
- Eine Wahrheit ist keine Kränkung; das Kritisierte ist ja bereits da.
- Eine als Kränkung empfundene Unwahrheit rührt vielleicht einfach aus ehrlicher Unwissenheit: Korrigiere nüchtern.
- Missbilligt dich ein kluger Kritiker, sei dankbar: Vielleicht ist da ja was dran!
- Missbilligt dich ein Idiot, sei dankbar: Dann musst du etwas richtig machen! (Sorge dich dagegen, wenn er dich lobt.)
- Jede Kränkung, die mir wiederfährt, ist meine eigene Schuld. Vermutlich ist sie nur Kinderei. Warum messe ich ihr Wert bei?
- Die einzige dem Stoiker erlaubte Reaktion auf eine Kränkung ist Nicht-Reaktion oder Humor, und zwar am besten die self-deprecating Variante. Drückt Gleichmut gegenüber der Kränkung aus und irritiert so den Kränkenden.
- Na gut, der Stoiker darf auch härter auf einen Angriff reagieren. Dann aber nicht, weil er sich gekränkt fühlt, sondern wenn es einem höheren Zweck dient, den Angreifer zu disziplinieren (z.B. zum Wohle Dritter oder seiner selbst).
- Irvine kritisiert political correctness. Die Schwachen mit Gesetzen vor Beleidigungen zu schützen, sei kontraproduktiv: Stattdessen sollte man ihnen den stoischen Umgang mit Beleidigungen beibringen.
- "Grief":
- Stoiker halten Trauer zu einem gewissen Grad für unvermeidbar, wollen sie aber soweit als möglich mit Rationalismus (x ist tot, ja, aber x hätte nicht gewollt, dass du trauerst, und spürt selbst keine Schmerzen mehr) und Negativer Visualisierung (x lebte immerhin mal, stell dir vor, x wäre nie geboren worden!) eindämmen / ihr Über-Hand-Nehmen vermeiden.
- Wenn du mit Trauernden zu tun hast, zeige ihnen eine Trauer-kompatible Schulter (bis hin zum Vortäuschen eines Mit-Trauerns), aber mach dir ihr Trauern nicht zu eigen. Denn Trauer ist eine negative Emotion, und niemandem ist geholfen, wenn sie sich vermehrt.
- Irvine verteidigt die stoische Bekämpfung bestimmter Emotionen gegenüber einer Moderne, die ein Sich-Öffnen gegenüber den eigenen Emotionen predigt. Er verspricht, die zugrundeliegenden Seelenheil-Annahmen an späterer Stelle in Frage zu stellen.
- "Anger":
- Meide Wut. Egal wie beseitigungswürdig ihr Anlass, sie versetzt dich in einen Wahnzustand, in dem du nicht mehr rational handelst und aus dem du schwer ausnüchterst. Wütende Menschen verhalten sich asozial und gehen ihrem Umfeld auf die Nerven.
- Betrachte deinen Wut-Anlass im größeren Zusammenhang der Dinge und erkenne seine Bedeutungslosigkeit. Klopfe deinen Wut-Anlass ab, ob er nicht nur deiner Vorstellungskraft entspringt. Härte dich ab, um nicht überempfindlich auf alles zu reagieren. Lache über außerordentliche Irritationen, anstatt wütend zu werden.
- Ein hinreichend selbstkontrollierter Stoiker darf Wut faken, wenn es taktisch Sinn macht (um einen Störenfried einzuschüchtern etwa).
- Bemerkst du, dass du wütend wirst, irritiere deine Wut durch gegenteiliges Handeln, Körper-Verhalten usw. Das Innere wird dem Äußeren folgen.
- Wurdest du wütend, entschuldige dich! Auch nettes Selbst-Training, nette Selbst-Verbesserungs-Arbeit!
- "Personal Values: On Seeking Fame":
- Ruhm, runtergebrochen auf die Bewunderung durch die Anderen, ist kein Ziel des Stoikers. Wer sich um das Urteil der Anderen schert, zwängt sich deren Maßstäbe, Erfolgsbedingungen, Vorschriften auf und verringert so die eigene Handlungsfreiheit. Er wird sich ständig sorgen, ob eine Handlung ihn in den Augen der Anderen entwertet. Er wird größere Panik vorm Scheitern bekommen, dem Scheitern nach den Bedingungen der Anderen. Wer sich nicht darum schert, wird eher seine persönlichen Projekte und Ziele voranbringen können.
- Methoden, sich die Sorge um das Urteil der Anderen abzugewöhnen: the Cato way, von Anderen zu missbilligendes Verhalten (z.B. sich lumpig kleiden) üben, um sich an die Missbilligung zu gewöhnen / dagegen abzuhärten. Oder auch: Analysiere die Urteils-Maßstäbe der Anderen und erkenne, wie wenig du sie dir wirklich zu eigen machen willst. (Lässt sich das auch umkehren? Gewinne Respekt vorm Urteil von Leuten, wenn du ihre Urteils-Maßstäbe gut findest?)
- "Personal Values: On Luxurious Living":
- Reichtum kann verderben: Kaufen wir uns damit Luxus, können wir uns an den Luxus gewöhnen. Es kann eine Spirale steigender materialistischer Ansprüche folgen: So lange unser Reichtum nicht verbraucht ist, werden wir immer mehr Luxus anhäufen, immer höhere Ansprüche entwickeln und nie zufrieden sein. Um den Luxus aufrecht zu erhalten, werden wir zugleich abhängig von unserem Reichtum: Weil wir immer mehr Geld brauchen, wird unsere Handlungsfreiheit immer geringer.
- Zwei stoische Strategien: Gehe Reichtum und Luxus aus dem Weg, wenn du sie nicht unbedingt brauchst. Oder aber: Genehmige sie dir, aber mach dich nicht abhängig von ihnen; übe immer mal wieder die Armut und mache dir die Vergänglichkeit deines Wohlstands bewusst.
- Das protestantische Paradoxon: Ein stoisches Leben kann leicht -- ohne die Not großer Gier -- finanziell einträglich werden. Von hier ist der Schritt zum Super-Reichtum nicht weit, gerade weil Stoiker so sparsam/protestantisch haushalten.
- Stoiker können Reichtum sinnvoll einsetzen, z.B. zur Verbesserung der Welt. Reichtum kann also durchaus Teil eines stoischen Plans, er darf nur nicht sein Endzweck sein. Gleiches gilt auch für den Fame / den sozialen Status: durchaus mit einem stoischen Lebensplan vereinbar, soweit herabgewürdigt zum Instrument für ein tugendhaftes Unterfangen.
- "Exile":
- Großer Seufzer Irvines: Was waren das noch für wundervolle Zeiten, als Philosophen exiliert oder gar zum Tode verurteilt wurden! Das waren Zeiten, als Philosophie tatsächlich noch gesellschaftliche Bedeutung hatte. Heute hat sie sich in die akademische Irrelevanz zurückgezogen. Die "Philosophen" fragen nicht mehr, wie man ein Leben unter prekären Bedingungen führen könne, weil sie das prekäre Leben gegen den Knebel der Steuergelder und eines politischen Nichteinmischungs-Paktes getauscht haben.
- Stoiker waren zufrieden mit dem Exil, empfanden es geradezu als Reinigung und Freiheitsgewinn. Zurückgeworfen aufs schwerelose Minimum! Reduziert auf die wahren Freunde! Konzentriert auf das, was man in sich selbst mit sich tragen kann, die eigenen Tugenden!
- "Old Age":
- Irvine: Diese jungen Leute, meine Studenten, in der Arroganz ihrer Jugend! Das Leben wird sie ihnen schon noch austreiben! Spätestens, wenn sie dann im Altersheim vor sich hinröcheln, werden sie die Stoa zu würdigen wissen!
- Die Stoa ist eine gute Glückseligkeits-Strategie für den Abstieg des Älter-Werdens. Sie sichert ein gleichmäßiges Zufriedenheits-Level über alle Verluste hinweg. Sie erlaubt es sogar, Verluste als Glückseligkeits-Anlass fruchtbar zu machen. Endlich nicht mehr die permanente Irritation des kulinarischen oder sexuellen Appetits! Nur der Geist, der muss halt fit bleiben. (Zerfällt der Geist, welche Lebensphilosophie soll dann noch greifen?) Und der nahende Tod ist sowieso ein Glücksgarant für jeden Tag, den man noch hat: Dass man ihn noch haben darf!
- "Dying":
- Wer immer brav eine Lebensphilosophie pflegte, wird am Ende seines Lebens weniger zu bereuen haben, sein Leben nicht als verschwendet betrachten. Wer nichts Vergessenes nachzuholen hat, braucht den Tod nicht zu fürchten. Stoiker verfallen nicht so leicht in die Manie, für sich noch einige weitere Jahre heraushandeln zu müssen: Wozu Panik, wenn man sich gelassen mit dem Jetzt und dem Bisherigen zufrieden geben kann?
- Der Anteil dokumentierter unattraktiver Todesfälle für antike Stoiker, naja, sowas kann ja damals durchaus auch unter Nicht-Stoikern üblich gewesen sein.
- Aber, ja, Stoiker haben in ihrer Ethik durchaus Raum für die Aufgabe des eigenen Lebens. Es kann schonmal vorkommen, dass sie dem eigenen Überleben für Befriedigung ihrer Lebensphilosophie weniger Wert beimessen als zum Beispiel der Pflichterfüllung -- oder auch der Vermeidung eines leidenden Dahinsiechens, in dem die stoische Gelassenheit nicht mehr möglich ist. Viele berühmte Stoiker begingen Selbstmord oder begünstigten zumindest bewusst ihren Tod, im Einklang mit stoischen Zielen. Die stoische Pflicht zur Solidarität mit den Mitmenschen kann aber auch gegen einen Suizid sprechen: Wer seinen Mitmenschen eine große Hilfe ist, handelt lasterhaft, wenn er sich ihnen raubt. (Kann man umgekehrt auch eine Tugend im sozialverträglichen Frühableben aus der Stoa herleiten? Den Angehörigen nicht mehr zur Last fallen?)
- "On Becoming a Stoic":
- Neben den bisher genannten noch ein paar weitere Gründe fürs Stoiker-Dasein:
- Wer eine Lebensphilosophie hat, hat eine klarere Leitlinie für Entscheidungen. Das reduziert den mentalen Stress der Entscheidungsfindung.
- Der Stoiker vermeidet die Genuss-Spezialisierung des "Connoisseurs". Anstatt nur einer raren Luxus-Spitze, kann er vieles genießen. Verliert er ein Genuss-Objekt, fällt es ihm aufgrund der Offenheit seiner Genuss-Palette leichter, ein anderes zu finden.
"Stoicism for Modern Lives"
- "The Decline of Stoicism":
- Das aufkommende Christentum konkurriert mit der Stoa in vielen Bereichen, oftmals nicht unähnlich, aber mit mindestens einem entscheidenden Attraktivitäts-Schummeltrick: dem Versprechen eines Afterlife, in dem man, egal wieviel Glück man hier auf Erden dem Leben abgerungen bekam, die perfekte Glückseligkeit erfahre. Die Stoa, ohne große Afterlife-Versprechungen, sah da alt aus.
- In die Moderne hinein gilt die Stoa als extrem unattraktive Lebensschablone. Nichtsdestotrotz blitzt sie kurz bei Descartes, Schopenhauer und Henry David Thoreau auf.
- Das Stoa-Ziel der Vermeidung negativer Emotionen beißt sich mit einem Trend moderner Psychologie, der korrektes und umfassendes Ausagieren und Sich-Vertiefen in eben solche nach z.B. Verlust von Angehörigen fordert. "Trauerbegleitung" verlangt soundsoviel "Trauerarbeit" von Betroffenen und unterstellt ihnen andernfalls einen Mangel an Trauma-Verarbeitung, der in psychologischen Schäden resultiere. Demgegenüber nimmt sich die Stoa heraus, durch negative Visualisierung Trauerpotential klein zu halten und im Fall der Fälle sie durch Rationalisierung ins Überwindbare zu schwächen; all das klingt moderner Psychologie wie Mogelei. Irvine schlägt sich auf die Seite der Stoa, unterstellt moderner Psychologie den Selbsterhaltungstrieb einer Trauerbegleiter-Industrie und zitiert Untersuchungen, wonach der Trauer-Verstärkungs-Ansatz eher schade statt helfe. Lieber auf das naturgegebene Vermögen der Menschen vertrauen, Leid und Trauer zu verkraften, als alles gleich zu pathologisieren!
- Dass die Stoa die Verantwortung fürs individuelle Lebensglück im Inneren verortet, macht sie inkompatibel mit politischer Ideologie, die die Verantwortung fürs Lebensglück auf die Architekten äußerer Umstände abschiebt. Wenn das Individuum Zufriedenheit auch schon vor der Revolution erlangen kann, woher dann Motivation nehmen für politischen Kampf? Für den Stoiker ist die Antwort klar: aus der solidarischen Pflicht des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen. (Die ist theologisch begründet und damit der Moderne keine glaubwürdige Motivation.)
- Die moderne Philosophie hat der Stoa den Rücken gekehrt, weil sie sich nur noch für analytische Sprachphilosophie und so'n Krams und nicht mehr für praktischere Fragen interessiert.
- Das stoische Glück aus der Selbst-Verneinung ist unvereinbar einem modernen Glücksbegriff des Konsumismus und der individualistischen Selbstbehauptung. Die Stoa lehrt, deine Bedürfnisse der Welt anzupassen. Die Moderne verlangt, die Welt deinen Bedürfnissen anzupassen (und zieht daraus im Wesentlichen, vor allem, denk ich mir, im Kapitalismus, ihre Energie, ihre Dynamik).
- "Stoicism Reconsidered":
- Die antiken Stoiker entwickelten eine wirkungsvolle Lebensphilosophie/Psychologie für die Vermeidung negativer Emotionen, für die Erlangung von Zufriedenheit, auch heute noch anwendbar. Ihr System zeugt von solider Lebenserfahrungs-Heuristik; die rational-kosmologischen Herleitungen sind aber natürlich nichts Besseres als theologische Spekulation. Die Antiken wussten, was funktioniert, ohne eine Ahnung zu haben, warum es funktioniert.
- Die Ursache Zeus kann eine moderne Stoa leicht durch die Evolution ersetzen. Der gesamte lebenspraktische Teil der Lehre lässt sich daraus herleiten. Die Evolution hat all die mentalen Phänomene zu verantworten, die in der Stoa eine Rolle spielen. Die Evolution hat für die Optimierung auf Reproduktion und Überleben in der afrikanischen Steppe, nicht für unser persönliches Glück, uns all den negativen Emotions-/Trieb-/Impuls-Ballast aufgehalst, dessen Bekämpfung sich die Stoa auf die Fahnen geschrieben hat, und zugleich mit der Rationalität das Instrument, ihn in seine Schranken zu weisen. Die Stoa, das ist nun (in Umkehrung ihrer ursprünglichen Herleitung) die Überwindung bzw. das Cherry-picking der Natur, nach unseren selbstgewählten Zielen. (Die Stoa eine transhumanistische Ethik, wer hätte das gedacht!)
- "Practicing Stoicism":
- Irvines Erfahrungsschatz im Stoiker-Werden! Da Stoa ja vor allem am Inneren arbeitet, anfangen ohne großes Posaunen an die Außenwelt (das Angriffe aufs Unterfangen einladen würde).
- Negative Visualisierung lässt sich in jede Idle-Time des Tages schieben. Aufpassen, wenn sie einen zufriedener macht, sie über den neuen Lebens-Genuss nicht zu vergessen!
- Das Sortieren einer persönlichen Welt in "kann ich kontrollieren" und "kann ich nicht kontrollieren" kann man auch für Andere tun und so deren Beklemmungen lösen.
- Sammle Beleidigungen gegen dich und, self-deprecation, setze ihnen immer noch eins drauf!
- Statt wütend werden, innerlich die Absurdität der Situation abfeiern!
- Die abenteuerlichen Selbst-Peinigungs-/Peinlichkeits-Abenteuer Irvines: sein Auto im Winter ungeheizt lassen, Rudersport und öffentliches Banjo-Spielen!
- Selbstdisziplin- und Selbstkontrolle als spielerische Übung. Martialischer Sieg nach Punkten gegen dich selbst!
- Irvine fühlt sich wie Cato, seit er Kleidung aus, gasp einem Gebrauchtwarenladen trägt. Und schaut herab auf seine Mit-Amerikaner, deren Geldprobleme doch sicher nur aus ihrem stupiden Konsumismus herrühre, den er mit der Stoa überwunden. (Solche selbstgerechten Passagen sind nicht unbedingt die sympathischsten.)
- Es wird immer persönlicher. Irvine klopft die dramatischen Momente seines behüteten Akademiker-Lebens ab, weil ein Stoiker im post-stoischen Zeitalter sich irgendwann langweilt, wenn keine Katastrophe altertümlichen Maßstabs (Versklavung, Todesurteil, Kindstod) passiert, um seine Stoa auszutesten.
- Am Ende ein paar Zweifel. Aber der Schluss, dass man zum Ende des Lebens hin ja eh immer Stoa-kompatibler werde; und ein Ausprobieren der Stoa leicht im Einstieg wie im Ausstieg sei und keine problematischen Kosten verursache.
- "A Stoic Reading Program":